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Alex
Brittanys Zunge schnellt hervor, um ihre perfekt
geformten, herzförmigen Lippen zu befeuchten, die nun einladend
glänzen.
»Foltere mich nicht so«, stöhne ich. Meine Lippen
sind nur noch Zentimeter von ihren entfernt.
Ihre Bücher knallen auf den Teppich. Ihr Blick
folgt ihnen, aber wenn ich jetzt ihre Aufmerksamkeit verliere,
kehrt dieser Moment vielleicht nie zurück. Meine Finger wandern
unter ihr Kinn, drängen sie mit sanftem Druck, mich
anzusehen.
Sie sieht mich mit diesem waidwunden Blick an. »Was
ist, wenn es etwas bedeutet?«, fragt sie.
»Was wäre dann?«
»Versprich mir, dass es nichts bedeuten
wird.«
Ich lehne meinen Kopf wieder an die Rückenlehne der
Couch. »Es wird nichts bedeuten.« Sollte ich nicht eigentlich der
Kerl in diesem Szenario sein, der darauf besteht, keine
Verpflichtung eingehen zu wollen?
»Und ohne Zunge«, fügt sie hinzu.
»Mi vida, wenn ich dich küsse, wird es
garantiert mit Zunge sein.«
Sie zögert.
»Ich verspreche, es wird nichts bedeuten«,
versichere ich ihr noch einmal.
Ich rechne nicht damit, dass sie es tun wird. Ich
gehe davon
aus, sie will mich nur ein bisschen quälen, ausprobieren, wie viel
ich ertrage, bevor ich zerspringe. Aber als sie die Augen schließt
und näher kommt, realisiere ich, dass es passieren wird. Das
Mädchen meiner Träume, das Mädchen, mit dem ich mehr gemeinsam
habe, als mit jedem anderen Menschen, dem ich je begegnet bin, will
mich küssen.
Sobald sie den Kopf zur Seite neigt, übernehme ich
das Ruder. Unsere Lippen berühren sich für einen Wimpernschlag,
bevor ich meine Finger in ihr Haar winde und sie sanft und behutsam
weiterküsse. Meine Hand umfängt ihre Wange, ich fühle ihre
babyzarte Haut an meinen rauen Fingern. Mein Körper drängt mich,
die Situation auszunutzen, aber mein Verstand (der in meinem
Schädel) behält die Kontrolle.
Ein zufriedener Seufzer entweicht Brittanys Lippen,
als würde sie nur zu gern für immer in meinen Armen liegen.
Ich streife mit der Zungenspitze ihre Lippen,
verführe sie dazu, ihren Mund zu öffnen. Sie berührt spielerisch
meine Zunge mit der ihren. Unsere Münder und Zungen vermengen sich
zu einem langsamen, erotischen Tanz, bis das Geräusch der sich
öffnenden Haustür Brittany zurückschrecken lässt.
Verdammt. Ich bin stinkwütend. Erstens, weil ich
mich in Brittanys Kuss verloren habe. Zweitens weil ich wollte,
dass dieser Augeblick nie vergeht. Und drittens bin ich stinkwütend
auf mi’amá und meine Brüder, weil sie zum denkbar
ungünstigsten Zeitpunkt nach Hause gekommen sind.
Ich beobachte Brittany dabei, wie sie versucht,
geschäftig auszusehen, als sie sich nach ihren Büchern bückt und
sie aufhebt. Meine Mutter und meine Brüder stehen in der Tür, die
Augen fallen ihnen schier aus dem Kopf.
»Hallo Ma«, sage ich verunsicherter, als ich es
sein sollte.
Der strenge Ausdruck in mi’amás Gesicht
verrät mir, dass sie
nicht gerade erfreut ist, uns in dieser eindeutigen Situation zu
erwischen. Vermutlich glaubt sie, wir hätten noch ganz anderes
vorgehabt, als nur zu knutschen.
»Luis und Carlos, ab in euer Zimmer«, befiehlt sie,
als sie um Fassung ringend den Raum betritt. »Willst du mich deiner
Freundin nicht vorstellen, Alejandro?«
Brittany steht auf, die Bücher in der Hand. »Hallo.
Ich bin Brittany.« Sie ist selbst noch dann unfassbar schön, wenn
ihre sonnengebleichten Haare von meinen Fingern zerwühlt und von
der Motorradfahrt zerzaust sind. Brittany streckt ihre Hand aus.
»Alex und ich haben für Chemie gelernt.«
»Was ich gesehen habe, war kein Lernen«, sagt meine
Ma und ignoriert die ausgestreckte Hand.
Brittany zuckt zusammen.
»Mamá, lass sie in Frieden«, sage ich
scharf.
»Mein Haus ist kein Bordell.«
»Por favor, mamá«, sage ich entnervt. »Wir
haben uns nur geküsst.«
»Küssen führt dazu, kleine niños zu machen,
Alejandro.«
»Lass uns hier verschwinden«, sage ich. Das Ganze
ist mir unendlich peinlich. Ich greife mir meine Jacke von der
Couch und streife sie über.
»Es tut mir leid, wenn ich Ihnen in irgendeiner
Weise zu nahegetreten bin, Mrs Fuentes«, sagt Brittany sichtlich
aufgewühlt.
Meine Mutter nimmt die Sachen, die sie eingekauft
hat und geht an Brittany vorbei in die Küche. Die Entschuldigung
ignoriert sie völlig.
Als wir draußen sind, höre ich Brittany tief
durchatmen. Ich schwöre, es klingt, als sei alles, was sie noch
zusammenhält, ein seidener Faden. Das war jetzt wohl genau das
Gegenteil von dem, wie es eigentlich laufen sollte: Mädchen nach
Hause bringen,
Mädchen küssen, Mädchen von der eigenen Mutter beleidigen lassen,
Mädchen geht weinend davon.
»Nimm es dir nicht zu Herzen. Sie ist nicht daran
gewöhnt, dass ich Mädchen nach Hause bringe.«
Brittanys ausdrucksstarke blaue Augen scheinen
distanziert und kalt. »Das hätte nicht passieren dürfen«, sagt sie
und ähnelt dabei mehr einer Statue als einem lebendigen
Menschen.
»Was? Der Kuss oder die Tatsache, dass er dir so
gut gefallen hat?«
»Ich habe einen Freund«, sagt sie, während sie an
dem Riemen ihrer Designertasche nestelt.
»Versuchst du gerade, mich zu überzeugen oder
dich?«, frage ich sie provozierend.
»Mach dich nicht über mich lustig. Ich will nicht,
dass meine Freunde denken, ich hätte den Verstand verloren. Ich
will nicht, dass meine Mutter ausflippt. Und Colin … ach Alex, ich
bin im Moment einfach total durcheinander.«
Ich strecke meine Hände aus und hebe die Stimme,
etwas, das ich normalerweise vermeide, denn wie Paco festgestellt
hat, bedeutet es, dass mir an einer Sache etwas liegt. Doch das tut
es nicht. Warum sollte es? Mein Verstand befiehlt mir verdammt noch
mal die Klappe zu halten, während gleichzeitig die Worte aus meinem
Mund strömen. »Ich blick es nicht. Er behandelt dich, als wärst du
sein verdammtes Maskottchen.«
»Du hast doch gar keine Ahnung, wie es mit Colin
und mir ist.«
»Dann verrat es mir, verdammt noch mal«, sage ich.
Meiner Stimme ist die Anspannung deutlich anzuhören. Einen Moment
gelingt es mir, ihr nicht entgegenzuschleudern, was ich eigentlich
sagen will, doch dann kann ich nicht länger widerstehen und sage es
ihr direkt ins Gesicht. »Denn dieser Kuss … er hat etwas bedeutet.
Das weißt du so gut wie ich. Und versuch nicht, mir weiszumachen,
dass es mit Colin viel schöner ist.«
Sie sieht schnell zur Seite. »Das verstehst du
nicht.«
»Versuch es doch mal.«
»Wenn die Menschen mich und Colin zusammen sehen,
sagen sie, wie perfekt wir zusammenpassen. Du weißt schon, das
Traumpaar. Kapiert?«
Ich starre sie ungläubig an. Das ist absolut krank.
»Ich hab’s kapiert. Ich kann bloß nicht glauben, was ich da gerade
gehört habe. Bedeutet es dir wirklich so viel, perfekt zu
sein?«
Einen sehr langen Moment herrscht unbehagliches
Schweigen zwischen uns. Ich entdecke einen Anflug von Traurigkeit
in ihren saphirblauen Augen, doch dann ist er verschwunden.
Innerhalb eines Wimpernschlags wird ihr Ausdruck ernst und
entschlossen.
»Ich habe in letzter Zeit keine Glanzleistung
abgeliefert, aber ja, das tut es«, gibt sie schließlich zu. »Meine
Schwester ist nicht perfekt, also muss ich es sein.«
Das ist der pathetischste Scheiß, den ich je gehört
habe. Ich schüttle angewidert den Kopf und zeige auf Julio. »Steig
auf, ich bringe dich zurück zu deinem Auto.«
Schweigend schwingt sich Brittany auf mein
Motorrad. Sie hält so viel Abstand zu mir, dass ich sie kaum hinter
mir spüre. Ich bin versucht, einen Umweg zu machen, damit die Fahrt
länger dauert.
Sie ist liebevoll und geduldig mit ihrer Schwester.
Gott weiß, dass ich nicht in der Lage wäre, einen meiner Brüder mit
dem Löffel zu füttern und seinen Mund abzuwischen. Das Mädchen, dem
ich einst vorgeworfen habe, nur mit sich selbst beschäftigt zu
sein, ist ganz und gar nicht eindimensional.
Dios mío, ich bewundere sie. Mit Brittany
zusammen zu sein, gibt meinem Leben etwas, das bisher darin gefehlt
hat, etwas … Richtiges.
Aber wie soll ich sie davon überzeugen?