32
Alex
Brittanys Zunge schnellt hervor, um ihre perfekt geformten, herzförmigen Lippen zu befeuchten, die nun einladend glänzen.
»Foltere mich nicht so«, stöhne ich. Meine Lippen sind nur noch Zentimeter von ihren entfernt.
Ihre Bücher knallen auf den Teppich. Ihr Blick folgt ihnen, aber wenn ich jetzt ihre Aufmerksamkeit verliere, kehrt dieser Moment vielleicht nie zurück. Meine Finger wandern unter ihr Kinn, drängen sie mit sanftem Druck, mich anzusehen.
Sie sieht mich mit diesem waidwunden Blick an. »Was ist, wenn es etwas bedeutet?«, fragt sie.
»Was wäre dann?«
»Versprich mir, dass es nichts bedeuten wird.«
Ich lehne meinen Kopf wieder an die Rückenlehne der Couch. »Es wird nichts bedeuten.« Sollte ich nicht eigentlich der Kerl in diesem Szenario sein, der darauf besteht, keine Verpflichtung eingehen zu wollen?
»Und ohne Zunge«, fügt sie hinzu.
»Mi vida, wenn ich dich küsse, wird es garantiert mit Zunge sein.«
Sie zögert.
»Ich verspreche, es wird nichts bedeuten«, versichere ich ihr noch einmal.
Ich rechne nicht damit, dass sie es tun wird. Ich gehe davon aus, sie will mich nur ein bisschen quälen, ausprobieren, wie viel ich ertrage, bevor ich zerspringe. Aber als sie die Augen schließt und näher kommt, realisiere ich, dass es passieren wird. Das Mädchen meiner Träume, das Mädchen, mit dem ich mehr gemeinsam habe, als mit jedem anderen Menschen, dem ich je begegnet bin, will mich küssen.
Sobald sie den Kopf zur Seite neigt, übernehme ich das Ruder. Unsere Lippen berühren sich für einen Wimpernschlag, bevor ich meine Finger in ihr Haar winde und sie sanft und behutsam weiterküsse. Meine Hand umfängt ihre Wange, ich fühle ihre babyzarte Haut an meinen rauen Fingern. Mein Körper drängt mich, die Situation auszunutzen, aber mein Verstand (der in meinem Schädel) behält die Kontrolle.
Ein zufriedener Seufzer entweicht Brittanys Lippen, als würde sie nur zu gern für immer in meinen Armen liegen.
Ich streife mit der Zungenspitze ihre Lippen, verführe sie dazu, ihren Mund zu öffnen. Sie berührt spielerisch meine Zunge mit der ihren. Unsere Münder und Zungen vermengen sich zu einem langsamen, erotischen Tanz, bis das Geräusch der sich öffnenden Haustür Brittany zurückschrecken lässt.
Verdammt. Ich bin stinkwütend. Erstens, weil ich mich in Brittanys Kuss verloren habe. Zweitens weil ich wollte, dass dieser Augeblick nie vergeht. Und drittens bin ich stinkwütend auf mi’amá und meine Brüder, weil sie zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt nach Hause gekommen sind.
Ich beobachte Brittany dabei, wie sie versucht, geschäftig auszusehen, als sie sich nach ihren Büchern bückt und sie aufhebt. Meine Mutter und meine Brüder stehen in der Tür, die Augen fallen ihnen schier aus dem Kopf.
»Hallo Ma«, sage ich verunsicherter, als ich es sein sollte.
Der strenge Ausdruck in mi’amás Gesicht verrät mir, dass sie nicht gerade erfreut ist, uns in dieser eindeutigen Situation zu erwischen. Vermutlich glaubt sie, wir hätten noch ganz anderes vorgehabt, als nur zu knutschen.
»Luis und Carlos, ab in euer Zimmer«, befiehlt sie, als sie um Fassung ringend den Raum betritt. »Willst du mich deiner Freundin nicht vorstellen, Alejandro?«
Brittany steht auf, die Bücher in der Hand. »Hallo. Ich bin Brittany.« Sie ist selbst noch dann unfassbar schön, wenn ihre sonnengebleichten Haare von meinen Fingern zerwühlt und von der Motorradfahrt zerzaust sind. Brittany streckt ihre Hand aus. »Alex und ich haben für Chemie gelernt.«
»Was ich gesehen habe, war kein Lernen«, sagt meine Ma und ignoriert die ausgestreckte Hand.
Brittany zuckt zusammen.
»Mamá, lass sie in Frieden«, sage ich scharf.
»Mein Haus ist kein Bordell.«
»Por favor, mamá«, sage ich entnervt. »Wir haben uns nur geküsst.«
»Küssen führt dazu, kleine niños zu machen, Alejandro.«
»Lass uns hier verschwinden«, sage ich. Das Ganze ist mir unendlich peinlich. Ich greife mir meine Jacke von der Couch und streife sie über.
»Es tut mir leid, wenn ich Ihnen in irgendeiner Weise zu nahegetreten bin, Mrs Fuentes«, sagt Brittany sichtlich aufgewühlt.
Meine Mutter nimmt die Sachen, die sie eingekauft hat und geht an Brittany vorbei in die Küche. Die Entschuldigung ignoriert sie völlig.
Als wir draußen sind, höre ich Brittany tief durchatmen. Ich schwöre, es klingt, als sei alles, was sie noch zusammenhält, ein seidener Faden. Das war jetzt wohl genau das Gegenteil von dem, wie es eigentlich laufen sollte: Mädchen nach Hause bringen, Mädchen küssen, Mädchen von der eigenen Mutter beleidigen lassen, Mädchen geht weinend davon.
»Nimm es dir nicht zu Herzen. Sie ist nicht daran gewöhnt, dass ich Mädchen nach Hause bringe.«
Brittanys ausdrucksstarke blaue Augen scheinen distanziert und kalt. »Das hätte nicht passieren dürfen«, sagt sie und ähnelt dabei mehr einer Statue als einem lebendigen Menschen.
»Was? Der Kuss oder die Tatsache, dass er dir so gut gefallen hat?«
»Ich habe einen Freund«, sagt sie, während sie an dem Riemen ihrer Designertasche nestelt.
»Versuchst du gerade, mich zu überzeugen oder dich?«, frage ich sie provozierend.
»Mach dich nicht über mich lustig. Ich will nicht, dass meine Freunde denken, ich hätte den Verstand verloren. Ich will nicht, dass meine Mutter ausflippt. Und Colin … ach Alex, ich bin im Moment einfach total durcheinander.«
Ich strecke meine Hände aus und hebe die Stimme, etwas, das ich normalerweise vermeide, denn wie Paco festgestellt hat, bedeutet es, dass mir an einer Sache etwas liegt. Doch das tut es nicht. Warum sollte es? Mein Verstand befiehlt mir verdammt noch mal die Klappe zu halten, während gleichzeitig die Worte aus meinem Mund strömen. »Ich blick es nicht. Er behandelt dich, als wärst du sein verdammtes Maskottchen.«
»Du hast doch gar keine Ahnung, wie es mit Colin und mir ist.«
»Dann verrat es mir, verdammt noch mal«, sage ich. Meiner Stimme ist die Anspannung deutlich anzuhören. Einen Moment gelingt es mir, ihr nicht entgegenzuschleudern, was ich eigentlich sagen will, doch dann kann ich nicht länger widerstehen und sage es ihr direkt ins Gesicht. »Denn dieser Kuss … er hat etwas bedeutet. Das weißt du so gut wie ich. Und versuch nicht, mir weiszumachen, dass es mit Colin viel schöner ist.«
Sie sieht schnell zur Seite. »Das verstehst du nicht.«
»Versuch es doch mal.«
»Wenn die Menschen mich und Colin zusammen sehen, sagen sie, wie perfekt wir zusammenpassen. Du weißt schon, das Traumpaar. Kapiert?«
Ich starre sie ungläubig an. Das ist absolut krank. »Ich hab’s kapiert. Ich kann bloß nicht glauben, was ich da gerade gehört habe. Bedeutet es dir wirklich so viel, perfekt zu sein?«
Einen sehr langen Moment herrscht unbehagliches Schweigen zwischen uns. Ich entdecke einen Anflug von Traurigkeit in ihren saphirblauen Augen, doch dann ist er verschwunden. Innerhalb eines Wimpernschlags wird ihr Ausdruck ernst und entschlossen.
»Ich habe in letzter Zeit keine Glanzleistung abgeliefert, aber ja, das tut es«, gibt sie schließlich zu. »Meine Schwester ist nicht perfekt, also muss ich es sein.«
Das ist der pathetischste Scheiß, den ich je gehört habe. Ich schüttle angewidert den Kopf und zeige auf Julio. »Steig auf, ich bringe dich zurück zu deinem Auto.«
Schweigend schwingt sich Brittany auf mein Motorrad. Sie hält so viel Abstand zu mir, dass ich sie kaum hinter mir spüre. Ich bin versucht, einen Umweg zu machen, damit die Fahrt länger dauert.
Sie ist liebevoll und geduldig mit ihrer Schwester. Gott weiß, dass ich nicht in der Lage wäre, einen meiner Brüder mit dem Löffel zu füttern und seinen Mund abzuwischen. Das Mädchen, dem ich einst vorgeworfen habe, nur mit sich selbst beschäftigt zu sein, ist ganz und gar nicht eindimensional.
Dios mío, ich bewundere sie. Mit Brittany zusammen zu sein, gibt meinem Leben etwas, das bisher darin gefehlt hat, etwas … Richtiges.
Aber wie soll ich sie davon überzeugen?
Du oder das ganze Leben
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