21
Brittany
Ich habe einen Albtraum, in dem tausend kleine Umpa Lumpas in meinen Kopf eingedrungen sind und auf meinen Schädel einhämmern. Als ich die Augen öffne und helles Tageslicht mich blendet, zucke ich zusammen. Die Umpa Lumpas sind immer noch da und ich bin wach.
»Du hast einen Kater«, sagt ein Mädchen zu mir.
Als ich die Augen zusammenkneife, erkenne ich Isabel, die direkt vor mir steht. Wir befinden uns in einem kleinen Schlafzimmer, dessen Wände in hellem Gelb gestrichen sind. Dazu flattern passende gelbe Vorhänge im Wind. Es kann nicht mein Haus sein, da wir nie die Fenster öffnen. Wir haben entweder die Klimaanlage oder die Heizung an.
Ich blinzle zu ihr hoch. »Wo bin ich?«
»Bei mir. Ich würde mich an deiner Stelle nicht bewegen. Es könnte sein, dass du dich noch mal übergeben musst und meine Eltern werden ausflippen, wenn du ihren Teppich versaust«, sagt sie. »Zu unserem Glück sind sie grad nicht in der Stadt, ich habe das Haus also bis heute Abend für mich.«
»Wie bin ich hergekommen?« Das Letzte, an das ich mich erinnere, ist, dass ich nach Hause laufen wollte.
»Du bist am Strand ohnmächtig geworden. Alex und ich haben dich hergebracht.«
Als Alex’ Name fällt, öffne ich die Augen auf einen Schlag weit. Ich erinnere mich vage daran, getrunken zu haben, den Strand entlanggegangen zu sein und Alex und Carmen zusammen gesehen zu haben. Und dann sind Alex und ich …
Habe ich ihn geküsst? Ich weiß noch, dass ich mich zu ihm gebeugt habe, aber dann …
Ich habe gekotzt. Ich erinnere mich genau daran, gekotzt zu haben. Das passt nicht besonders zu dem perfekten Image, das ich allen zu verkaufen versuche. Ich setze mich langsam auf und hoffe, in nicht allzu langer Zeit wird sich nicht mehr alles um mich drehen. »Habe ich irgendwas Dummes gemacht?«, frage ich.
Isa zuckt mit den Schultern. »Ich bin nicht sicher. Alex hat keinen nah genug an dich rangelassen, um das zu beurteilen. Wenn du es dumm nennen willst, in seinen Armen ohnmächtig geworden zu sein, hast du es geschafft, schätze ich.«
Ich lasse den Kopf in die Hände fallen. »Oh nein. Isabel, versprich mir bitte, dass du es niemandem aus dem Team verrätst.«
Sie lächelt. »Mach dir keine Sorgen deswegen. Ich werde niemandem erzählen, dass Brittany Ellis auch nur ein Mensch ist.«
»Warum bist du so nett zu mir? Ich meine, als Carmen auf mich losgegangen ist, hast du mich verteidigt. Und du hast mich letzte Nacht hier schlafen lassen, obwohl du klargestellt hast, dass wir keine Freundinnen sind.«
»Wir sind auch keine Freundinnen. Carmen und ich haben schon lange ein Hühnchen miteinander zu rupfen. Ich würde so ziemlich alles tun, um sie anzupissen. Sie kommt einfach nicht damit klar, dass Alex nicht mehr ihr Freund ist.«
»Warum haben sie sich getrennt?«
»Frag ihn das selbst. Er schläft auf der Couch im Wohnzimmer. Er ist eingeschlafen, kaum dass er dich auf meinem Bett abgelegt hatte.« Oh nein, Alex ist hier? In Isabels Haus? »Er mag dich, weißt du«, sagt Isabel. Sie sieht dabei ihre Fingernägel an und nicht mich.
Sofort habe ich Schmetterlinge im Bauch. »Tut er nicht«, sage ich, obwohl ich in Versuchung bin, nach Details zu fragen.
Sie rollt mit den Augen. »Oh, bitte. Du weißt es, selbst wenn du es nicht zugeben willst.«
»Für jemanden, der behauptet, wir würden nie Freundinnen sein, bist du heute Morgen sehr mitteilsam.«
»Ich muss zugeben, ich wünschte fast, du wärst wirklich das Biest, das eine Menge Leute in dir sehen«, sagt sie.
»Warum?«
»Weil es leicht ist, jemanden zu hassen, der alles hat.«
Ein kurzes, zynisches Lachen entfährt mir. Ich habe nicht vor, ihr die Wahrheit zu sagen – dass mein Leben unter meinen Füßen zerbröselt, genau wie der Sand letzte Nacht. »Ich muss nach Hause. Wo ist mein Handy?«, frage ich, meine Hosentaschen abklopfend.
»Ich glaube, Alex hat es.«
Sich ohne ein Wort davonzuschleichen, kommt also nicht in Frage. Ich kämpfe damit, die Umpa Lumpas unter Kontrolle zu bringen, als ich auf der Suche nach Alex aus dem Schlafzimmer wanke.
Es ist nicht schwer, ihn zu finden, da das Haus kleiner ist, als Sierras Poolhaus. Alex liegt auf einem alten Sofa, er trägt eine Jeans. Und das ist alles, was er anhat. Seine Augen sind offen, aber blutunterlaufen und noch glasig vom Schlaf.
»Hey«, sagt er warm und streckt sich.
Oh mein Gott. Ich stecke in großen Schwierigkeiten. Weil ich ihn anstarre. Ich kann meine Augen nicht von seinen wie gemeißelten Trizeps und Bizeps und allen andern »eps« lösen, die er hat. Die Schmetterlinge in meinem Bauch haben sich verzehnfacht, als unsere Blicke sich treffen.
»Hey.« Ich schlucke schwer. »Ich, hm, schätze, ich sollte dir danken, dass du mich hierher gebracht hast, anstatt mich bewusstlos am Strand liegen zu lassen.«
Sein Blick hält meinen weiter fest. »Letzte Nacht ist mir etwas klar geworden. Du und ich, wir sind gar nicht so verschieden. Du spielst das gleiche Spiel wie ich. Du benutzt dein gutes Aussehen, deinen Körper und deinen Verstand, um sicherzustellen, dass du diejenige mit der Kontrolle bist.«
»Ich habe einen Kater, Alex. Ich kann noch nicht mal klar denken und du zwingst mich zu philosophischen Höhenflügen.«
»Siehst du, du spielst schon wieder ein Spielchen. Zeig mir die wahre Brittany, mamacita. Wenn du dich traust.«
Macht er Witze? Die wahre Brittany? Ich kann nicht. Denn dann würde ich anfangen zu weinen und vielleicht dermaßen austicken, dass ich mit der Wahrheit herausplatzen würde. Der Wahrheit – dass ich das perfekte Image nur geschaffen habe, damit ich mich dahinter verstecken kann. »Ich gehe besser nach Hause.«
»Bevor du das tust, solltest du lieber noch mal ins Badezimmer gehen«, sagt er.
Bevor ich fragen kann, wieso, erhasche ich einen flüchtigen Blick auf mein Spiegelbild in einem Wandspiegel. »Oh, verdammt!«, kreische ich. Schwarze Wimperntusche klebt in vertrockneten Bröckchen an meinen Lidrändern und schwarze, verschmierte Streifen ziehen sich über meine Wangen.
Ich sehe aus wie eine Leiche. Ich haste an ihm vorbei ins Badezimmer und starre mein Spiegelbild an. Mein Haar gleicht einem Vogelnest. Als wäre die Wimpertusche, die meine Wangen verunstaltet, nicht übel genug, ist der Rest meines Gesichtes so bleich wie das meiner Tante Dolores ohne Make-up. Ich habe Tränensäcke unter meinen Augen, als wollte ich Wasservorräte für die Wintermonate anlegen.
Alles in allem ist es kein schöner Anblick. Egal, wessen Standard man zu Grunde legt.
Ich mache etwas Klopapier nass und reibe unter den Augen und an meinen Wangen herum, bis die Streifen weg sind. Ja, gut, ich bräuchte meinen Augen-Make-up-Entferner, um alles komplett abzubekommen. Und meine Mom hat mich gewarnt, dass Reiben unter den Augen meine Haut ausleiert und ich früher als nötig Falten bekommen werde. Aber außergewöhnliche Umstände erfordern außergewöhnliche Maßnahmen. Als die Maskarastriemen nicht mehr zu erkennen sind, behandle ich die Tränensäcke mit kaltem Wasser.
Ich bin mir durchaus bewusst, dass es sich dabei nur um Schadensbegrenzung handelt. Ich kann die Unvollkommenheiten nur notdürftig kaschieren und hoffen, dass mich niemand sonst in diesem Zustand sieht. Ich benutze meine Finger als Kamm, mit mäßigem Ergebnis. Dann bausche ich mein Haar auf und hoffe, der Wilde-Mähne-Look wird besser aussehen als der Rattennest-Look
Ich spüle meinen Mund mit Wasser aus und reibe mit dem Finger etwas Zahnpasta auf meine Zähne, in der Hoffnung, damit das Schlimmste einer Nacht aus Kotzen, Trinken und Schlaf aus meinem Mund zu bekommen, bis ich zu Hause bin.
Wenn ich nur Lipgloss dabeihätte …
Aber das habe ich nun mal nicht. Ich drücke die Schultern durch und kehre mit hoch erhobenem Kopf in das Wohnzimmer zurück, wo Isabel gerade in ihr Zimmer zurückkehrt und Alex aufsteht, als er mich sieht.
»Wo ist mein Handy?«, frage ich. »Und zieh dir bitte was an.«
Er bückt sich und hebt mein Handy vom Fußboden auf. »Warum?«
»Der Grund dafür, dass ich mein Handy brauche«, sage ich, während ich es ihm abnehme, »ist, dass ich ein Taxi rufen möchte und der Grund, weshalb ich möchte, dass du dir etwas anziehst, ist, nun ja, weil …«
»Hast du noch nie einen Kerl mit nacktem Oberkörper gesehen?«
»Ha, ha. Sehr witzig. Glaub mir, an dir ist nichts dran, was ich nicht schon mal gesehen hätte.«
»Sollen wir wetten?«, sagt er. Seine Hände gleiten zum Knopf seiner Jeans und lassen ihn aufspringen.
Isabel kommt genau in dem Moment herein. »Ho, Alex, behalt bitte deine Hose an.«
Als sie mich anguckt, hebe ich abwehrend die Hände. »Sieh mich nicht so an. Ich wollte mir gerade ein Taxi rufen, als …«
Sie schüttelt den Kopf, während Alex seine Hose wieder zuknöpft, geht zu ihrer Handtasche und schnappt sich einen Schlüsselbund. »Vergiss das Taxi. Ich fahr dich nach Hause.«
»Ich fahre sie«, schaltet Alex sich ein.
Isabel scheint es leid zu sein, sich mit uns auseinandersetzen zu müssen, ähnlich wie Mrs Peterson in Chemie. »Möchtest du lieber, dass ich dich fahre oder Alex?«, fragt sie.
Ich habe einen Freund. Okay, ich gebe zu, jedes Mal, wenn ich Alex erwische, wie er mich ansieht, breitet sich eine wohlige Wärme in meinem Körper aus. Aber das ist völlig normal. Wir sind zwei Jugendliche, die sich offensichtlich sexuell zueinander hingezogen fühlen. Solange ich dem nicht nachgebe, ist alles gut.
Denn wenn ich dem Gefühl nachgeben würde, wären die Konsequenzen katastrophal. Ich würde Colin verlieren. Ich würde meine Freunde verlieren. Ich würde die Kontrolle über mein Leben verlieren.
Aber vor allem würde ich verlieren, was von der Liebe meiner Mutter zu mir noch übrig ist.
Wenn mich die Welt nicht mehr für perfekt halten würde, wäre das, was gestern zwischen meiner Mutter und mir passiert ist, noch harmlos. In den Augen aller anderen perfekt zu sein, steht in direktem Zusammenhang dazu, wie meine Mutter mich behandelt. Wenn irgendeiner ihrer Country-Club-Freunde mich mit Alex sieht, könnte meine Mom ganz schnell zur Außenseiterin werden. Und wenn sie von ihren Freunden geschasst wird, werde ich von ihr fallen gelassen. Dieses Risiko kann ich nicht eingehen. So viel dazu, wie viel Wahrhaftigkeit ich mir erlauben kann.
»Isabel, bring mich nach Hause«, sage ich, dann sehe ich Alex an.
Er schüttelt leicht den Kopf, schnappt sich sein T-Shirt und seine Schlüssel und stürmt ohne ein weiteres Wort aus der Tür.
Ich folge Isabel schweigend zu ihrem Auto.
»Du empfindest mehr für Alex als nur Freundschaft, oder?«, frage ich.
»Er ist fast wie ein Bruder für mich. Wir kennen uns schon, seit wir Kinder waren.«
Während der Fahrt gebe ich ihr Anweisungen, wie wir zu mir kommen. Sagt sie mir die Wahrheit? »Du findest ihn nicht attraktiv?«
»Ich habe ihn schon wie ein Baby weinen sehen, weil sein Eis auf die Straße gefallen war, als wir vier waren. Ich war für ihn da, als … nun, belassen wir es bei der Tatsache, dass wir eine Menge zusammen durchgemacht haben.«
»Eine Menge? Willst du das vielleicht näher ausführen?«
»Nicht dir gegenüber.«
Ich kann die unsichtbare Scheibe beinah sehen, die zwischen uns hochfährt. »Hier endet also unsere Freundschaft?«
Sie sieht mich von der Seite an. »Unsere Freundschaft hat gerade begonnen, Brittany. Übertreib es nicht.«
Wir sind fast da. »Es ist das dritte Haus auf der rechten Seite«, sage ich.
»Ich weiß.« Sie hält den Wagen vor meinem Haus, ohne sich die Mühe zu machen, in unsere Auffahrt einzubiegen. Ich sehe sie an. Sie sieht mich an. Erwartet sie von mir, dass ich sie hineinbitte? Ich lasse noch nicht einmal gute Freunde ins Haus.
»Hey, danke fürs Nachhausebringen«, sage ich. »Und dafür, dass ich bei dir ausnüchtern durfte.«
Isabel wirft mir ein müdes Lächeln zu. »Kein Problem.«
Ich umklammere den Türgriff. »Ich werde nicht zulassen, dass irgendetwas zwischen mir und Alex läuft, okay?« Selbst wenn da etwas unter der Oberfläche brodeln sollte.
»Gut. Denn wenn ihr nicht höllisch aufpasst, wird euch euer schönes Leben um die Ohren fliegen.«
Die Umpa Lumpas hämmern wieder los, deshalb kann ich nicht intensiv über ihre Warnung nachdenken.
Im Haus sitzen meine Mutter und mein Vater am Küchentisch. Es ist ruhig. Zu ruhig. Vor ihnen liegen Papiere. Broschüren oder so. Sie richten sich schnell auf, wie kleine Kinder, die man bei etwas Falschem ertappt hat.
»Ich … ich dachte, du wärst no-noch bei … Sierra«, sagt meine Mutter. Sofort beginnen bei mir sämtliche Alarmglocken zu schrillen. Meine Mom stottert nie. Und sie hat auch noch kein Wort darüber verloren, wie ich aussehe. Das ist gar nicht gut.
»Ich war dort, aber ich habe mörderische Kopfschmerzen bekommen«, erwidere ich auf sie zugehend und die verdächtigen Broschüren in Augenschein nehmend, an denen meine Eltern so interessiert sind.
Haus Sonnenschein. Das Heim für besondere Menschen.
»Was macht ihr beiden da?«
»Wir besprechen unsere Optionen«, sagt mein Dad.
»Optionen? Waren wir uns nicht alle einig, dass es eine schlechte Idee ist, Shelley wegzugeben?«
Meine Mom wendet sich mir zu. »Nein. Du hast beschlossen, dass es eine schlechte Idee ist. Wir überlegen es uns immer noch.«
»Ich gehe nächstes Jahr auf die Northwestern, damit ich weiter zu Hause wohnen und helfen kann.«
»Nächstes Jahr wirst du dich auf dein Studium konzentrieren müssen und nicht auf deine Schwester. Brittany, hör zu«, sagt mein Dad und steht auf. »Wir müssen uns mit dieser Möglichkeit auseinandersetzen. Nachdem, was sie dir gestern angetan hat …«
»Ich will nichts davon hören«, unterbreche ich ihn. »Ich werde auf keinen Fall zulassen, dass ihr meine Schwester ins Heim abschiebt.« Ich schnappe mir die Broschüren. Shelley braucht ihre Familie, keine Einrichtung mit irgendwelchen Fremden. Ich reiße die Broschüren in der Mitte entzwei, schmeiße sie in den Müll und renne in mein Zimmer.
»Öffne die Tür, Brittany«, ruft meine Mutter kurze Zeit später und rüttelt an meinem Türgriff.
Ich sitze auf der Bettkante, in meinem Kopf dreht sich alles bei dem Gedanken, dass Shelley weggeschickt wird. Nein, es darf nicht passieren. Die Vorstellung macht mich krank. »Du hast Baghda noch nicht mal eingearbeitet. Es ist, als hättest du sowieso vorgehabt, Shelley wegzugeben.«
»Mach dich nicht lächerlich«, dringt die gedämpfte Stimme meiner Mutter durch die Tür. »Es gibt eine neue Einrichtung in Colorado. Wenn du die Tür öffnest, können wir uns darüber unterhalten wie zivilisierte Menschen.«
Ich werde es nicht zulassen. Ich werde alles in meiner Macht stehende tun, um meine Schwester zu Hause zu behalten.
»Ich möchte mich nicht darüber unterhalten. Meine Eltern wollen meine Schwester hinter meinem Rücken in irgendeine Einrichtung stecken und mein Kopf fühlt sich an, als müsste er jeden Moment explodieren. Lass mich in Ruhe, okay?«
Etwas ragt aus meiner Hosentasche. Es ist Alex’ Bandana. Isabel ist keine Freundin, aber sie hat mir geholfen. Und Alex, der Junge, dem ich letzte Nacht mehr bedeutet habe als meinem Freund, hat sich verhalten wie mein Held und drängt mich, ihm die wahre Brittany zu zeigen. Weiß ich überhaupt, wie das geht?
Ich drücke das Bandana an meine Brust.
Und gestatte mir zu weinen.
Du oder das ganze Leben
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