46
Alex
»Ich brauche ein Update in der Brittany-Sache«, erklärt mir Lucky, während wir vor dem Lagerhaus abhängen. »Die anderen schließen ihre Wetten ab und die meisten von ihnen setzen auf dich. Wissen die etwas, das ich nicht weiß?«
Ich zucke mit den Schultern und werfe einen Blick auf Julio, der seit der Wäsche vorhin blinkt und blitzt. Wenn mein Motorrad reden könnte, würde es mich anflehen, ihn vor Lucky zu bewahren. Aber ich bin nicht bereit, irgendwelche Infos über Brittany auszuplaudern. Zumindest noch nicht.
Hector kommt zu uns rüber und weist Lucky mit einer Handbewegung an, sich zu trollen. »Wir müssen reden, Fuentes«, sagt Hector, ganz der Geschäftsmann. »Es geht um den Gefallen, den ich neulich erwähnt habe. Du wirst an Halloween einen Wagen mieten, fährst damit zur Übergabe und tauschst Ware gegen Bares. Meinst du, du bekommst das hin?«
Mein Bruder hat recht. Das Blut meines papás fließt in meinen Adern. Indem ich den Drogendeal über die Bühne bringe, sichere ich meine Zukunft in der Gang, was mein Geburtsrecht ist. Andere Kinder erben Geld oder das Familienunternehmen von ihren Eltern, ich erbe die Latino Blood.
»Aber ja, Mann«, antworte ich Hector, obwohl ich fühle, wie sich mir der Magen umdreht. Ich habe Brittany bewusst angelogen. Ihr Gesicht hat geleuchtet, als sie über die Möglichkeit gesprochen hat, zusammen aufs College zu gehen. Ich konnte ihr einfach nicht die Wahrheit sagen, dass ich nicht nur ein Latino Blood bleiben, sondern sogar »Ware gegen Bares« tauschen werde.
Hector tätschelt meinen Rücken. »Das ist mein treuer Blutsbruder. Ich wusste, die Gang ist dir wichtiger als deine Ängste. Somos hermanos, c’no
»¡Seguro!«, antworte ich, damit er weiß, dass ich ihm und der Gang gegenüber loyal bin. Es ist nicht der Drogendeal, der mir Angst macht. Es ist die Tatsache, dass der Drogendeal das Ende aller Träume bedeutet, die ich hatte. Indem ich mit Drogen deale, überquere ich die Linie. Wie mein papá.
»Hey, Alex.«
Paco steht ein paar Meter entfernt. Mir war gar nicht aufgefallen, dass Hector gegangen ist.
»Was steht an?«
»Ich brauche deine Hilfe, compa«, sagt Paco.
»Du auch?«
Er gibt mir den Ich-bin-Paco-und-völlig-verzweifelt-Blick. »Dreh einfach eine Runde mit mir.«
Kurz darauf sitze ich auf dem Beifahrersitz eines geborgten roten Camaros.
Ich seufze. »Wirst du mir jetzt erzählen, wobei ich dir helfen soll, oder lässt du mich im Dunkeln?«
»Wenn du mich so fragst, ich lass dich im Dunkeln.«
Ich lese das Willkommensschild am Straßenrand. »Winnetka?« Was will Paco in diesem Vorort der Reichen?
»Vertrauen«, meint Paco.
»Was?«
»Beste Freunde müssen einander vertrauen.«
Ich lehne mich zurück und bin mir bewusst, dass ich vor mich hin brüte wie einer dieser Typen in einem miesen Western. Ich habe zugestimmt, einen Drogendeal durchzuziehen und jetzt bin ich ohne ersichtlichen Grund auf dem Weg zu den oberen Zehntausend.
»Ah, hier ist es«, sagt Paco.
Ich werfe einen Blick auf das Schild. »Willst du mich verarschen?«
»Nö.«
»Wenn du planst, die Hütte auszurauben, bleibe ich solange im Wagen.«
Paco rollt mit den Augen. »Wir sind nicht hier, um ein paar Golfer auszurauben.«
»Warum hast du mich dann hierher geschleift?«
»Um meinen Abschlag zu üben. Komm schon, beweg deinen Arsch und hilf mir.«
»Wir haben dreizehn Grad und Mitte Oktober, Paco.«
»Das ist alles eine Frage der Wahrnehmung und persönlicher Präferenzen.«
Ich sitze im Wagen und grüble darüber nach, wie ich nach Hause komme. Laufen würde zu lange dauern. Ich weiß nicht, wo die nächste Bushaltestelle ist und … und … und ich werde Paco so dermaßen in den Hintern treten, weil er mich zu einem verdammten Golfplatz geschleppt hat.
Ich stolziere dorthin, wo Paco gerade einen Korb mit Bällen absetzt. Mann, es sind wahrscheinlich an die hundert.
»Wo hast du den Golfschläger her?«, frage ich ihn.
Paco lässt ihn wie einen Propeller in der Luft kreisen. »Von dem Typen, der die Bälle vermietet. Willst auch einen, damit du ein paar Bälle schlagen kannst?«
»Nein.«
Paco deutet mit dem Ende des Golfschlägers auf eine grüne Bank aus Holz, die hinter ihm steht. »Dann setz dich dahin.«
Als ich mich gesetzt habe, wandert mein Blick zu den anderen Golfern, die in den ihnen zugeteilten kleinen Bereichen ihre Bälle schlagen. Aus den Augenwinkeln beäugen sie uns irritiert. Ich bin mir nur zu bewusst, dass Paco und ich anders aussehen und uns anders kleiden als der Rest der Typen auf dem Platz. Jeans, T-Shirts, Tattoos und die Bandanas auf unseren Köpfen lassen uns aus der Masse der Golfer hervorstechen, von denen ein Großteil langärmlige Golfshirts, Golfhosen und keinerlei unveränderliche Kennzeichen auf der Haut trägt.
Normalerweise ist mir das egal, aber nach dem Gespräch mit Hector möchte ich lieber nach Hause und mich nicht noch dem Gespött der Leute aussetzen. Ich stütze mich mit den Ellbogen auf die Knie und sehe Paco dabei zu, wie er sich zum Idioten macht.
Paco nimmt einen Golfball und platziert ihn auf einem kleinen Abschlagsmal aus Gummi auf dem Kunstrasen. Als er den Golfschläger schwingt, zucke ich zusammen. Der Schläger trifft anstatt des Balles nur den Rasen. Paco flucht. Der Typ neben Paco wirft ihm einen kurzen Blick zu und beschließt, seinen Abschlag woanders zu üben.
Paco versucht es erneut. Dieses Mal trifft der Schläger den Ball, aber er rollt nur ein jämmerliches Stückchen auf dem Gras vor ihm. Paco versucht es weiter, aber jedes Mal, wenn er ausholt, macht er sich komplett zum Narren. Glaubt er vielleicht, er habe einen Hockeyschläger in der Hand?
»Bist du fertig?«, frage ich, als er ungefähr die Hälfte der Bälle aus seinem Körbchen verschlagen hat.
»Alex«, sagt Paco und stützt sich auf seinen Golfschläger, als sei es ein Krückstock, »glaubst du, es ist meine Bestimmung, Golf zu spielen?«
Ich sehe ihm fest in die Augen und antworte: »Nein.«
»Ich habe gehört, wie du dich mit Hector unterhalten hast. Was dich betrifft, glaube ich nicht, dass es deine Bestimmung ist, mit Drogen zu dealen.«
»Sind wir deshalb hier? Versuchst du gerade, mir etwas klarzumachen?«
»Hör mich an«, beharrt Paco. »Ich habe die Schlüssel für den Wagen in meiner Tasche und ich gehe nirgendwohin, bevor ich nicht alle diese Bälle geschlagen habe, also kannst du mir genauso gut zuhören. Ich bin nicht so schlau wie du. Ich habe nicht so viele Möglichkeiten im Leben. Aber du, du bist klug genug, um aufs College zu gehen und Arzt oder Computernerd zu werden oder so was. Genau wie ich nicht geboren wurde, um Golf zu spielen, wurdest du nicht geboren, um mit Drogen zu dealen. Lass mich die Lieferung übernehmen.«
»Auf keinen Fall, Mann. Ich weiß zu schätzen, dass du dich zum Vollidioten machst, um etwas zu demonstrieren, aber ich weiß, was ich zu tun habe«, erkläre ich ihm.
Paco platziert einen neuen Ball auf dem Abschlagsmal, holt aus – und wieder rollt der Ball nur ein Stück weiter. »Diese Brittany ist wirklich heiß. Plant sie, aufs College zu gehen?«
Ich weiß, was Paco da versucht. Unglücklicherweise ist mein bester Freund so was von durchschaubar. »Ja. In Colorado.« Um in der Nähe ihrer Schwester zu sein, deren Wohl ihr mehr am Herzen liegt als ihr eigenes.
Paco pfeift durch die Zähne. »Ich bin sicher, sie wird eine Menge Typen in Colorado kennenlernen. Du weißt schon, beinharte Kerle mit Cowboyhüten.«
Ich balle unwillkürlich die Fäuste. Ich will nicht darüber nachdenken. Bis wir wieder im Wagen sind, lasse ich Paco links liegen. Dann sage ich zu ihm: »Wann wirst du endlich aufhören, deine Nase in meine Angelegenheiten zu stecken?«
Er gluckst. »Nie.«
»Dann hast du bestimmt auch nichts dagegen, wenn ich mich in deine mische. Was ist zwischen dir und Isa gelaufen, hm?«
»Wir haben rumgeknutscht. Das ist vorbei.«
»Du meinst vielleicht, es sei erledigt, aber ich glaube, sie sieht das anders.«
»Und wenn schon, das ist ihr Problem.« Paco macht das Radio an und dreht die Musik auf.
Paco hat noch nie etwas Ernstes mit einem Mädchen angefangen, weil er Angst davor hat, jemanden an sich heranzulassen. Niemand – auch Isa nicht – ahnt, wie oft und wie heftig Paco zu Hause misshandelt worden ist. Glaubt mir, ich verstehe vollkommen, warum er sich von dem Mädchen fernhält, das ihm etwas bedeutet. Denn die Wahrheit ist, dass man sich mitunter verbrennt, wenn man dem Feuer zu nahe kommt.
Du oder das ganze Leben
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