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Alex
»Ich brauche ein Update in der Brittany-Sache«,
erklärt mir Lucky, während wir vor dem Lagerhaus abhängen. »Die
anderen schließen ihre Wetten ab und die meisten von ihnen setzen
auf dich. Wissen die etwas, das ich nicht weiß?«
Ich zucke mit den Schultern und werfe einen Blick
auf Julio, der seit der Wäsche vorhin blinkt und blitzt. Wenn mein
Motorrad reden könnte, würde es mich anflehen, ihn vor Lucky zu
bewahren. Aber ich bin nicht bereit, irgendwelche Infos über
Brittany auszuplaudern. Zumindest noch nicht.
Hector kommt zu uns rüber und weist Lucky mit einer
Handbewegung an, sich zu trollen. »Wir müssen reden, Fuentes«, sagt
Hector, ganz der Geschäftsmann. »Es geht um den Gefallen, den ich
neulich erwähnt habe. Du wirst an Halloween einen Wagen mieten,
fährst damit zur Übergabe und tauschst Ware gegen Bares. Meinst du,
du bekommst das hin?«
Mein Bruder hat recht. Das Blut meines papás
fließt in meinen Adern. Indem ich den Drogendeal über die Bühne
bringe, sichere ich meine Zukunft in der Gang, was mein
Geburtsrecht ist. Andere Kinder erben Geld oder das
Familienunternehmen von ihren Eltern, ich erbe die Latino
Blood.
»Aber ja, Mann«, antworte ich Hector, obwohl ich
fühle, wie sich mir der Magen umdreht. Ich habe Brittany bewusst
angelogen. Ihr Gesicht hat geleuchtet, als sie über die Möglichkeit
gesprochen hat, zusammen aufs College zu gehen. Ich konnte ihr
einfach nicht die Wahrheit sagen, dass ich nicht nur ein Latino
Blood bleiben, sondern sogar »Ware gegen Bares« tauschen
werde.
Hector tätschelt meinen Rücken. »Das ist mein
treuer Blutsbruder. Ich wusste, die Gang ist dir wichtiger als
deine Ängste. Somos hermanos, c’no?«
»¡Seguro!«, antworte ich, damit er weiß,
dass ich ihm und der Gang gegenüber loyal bin. Es ist nicht der
Drogendeal, der mir Angst macht. Es ist die Tatsache, dass der
Drogendeal das Ende aller Träume bedeutet, die ich hatte. Indem ich
mit Drogen deale, überquere ich die Linie. Wie mein
papá.
»Hey, Alex.«
Paco steht ein paar Meter entfernt. Mir war gar
nicht aufgefallen, dass Hector gegangen ist.
»Was steht an?«
»Ich brauche deine Hilfe, compa«, sagt
Paco.
»Du auch?«
Er gibt mir den
Ich-bin-Paco-und-völlig-verzweifelt-Blick. »Dreh einfach eine Runde
mit mir.«
Kurz darauf sitze ich auf dem Beifahrersitz eines
geborgten roten Camaros.
Ich seufze. »Wirst du mir jetzt erzählen, wobei ich
dir helfen soll, oder lässt du mich im Dunkeln?«
»Wenn du mich so fragst, ich lass dich im
Dunkeln.«
Ich lese das Willkommensschild am Straßenrand.
»Winnetka?« Was will Paco in diesem Vorort der Reichen?
»Vertrauen«, meint Paco.
»Was?«
»Beste Freunde müssen einander vertrauen.«
Ich lehne mich zurück und bin mir bewusst, dass ich
vor mich hin brüte wie einer dieser Typen in einem miesen Western.
Ich habe zugestimmt, einen Drogendeal durchzuziehen und jetzt bin
ich ohne ersichtlichen Grund auf dem Weg zu den oberen
Zehntausend.
»Ah, hier ist es«, sagt Paco.
Ich werfe einen Blick auf das Schild. »Willst du
mich verarschen?«
»Nö.«
»Wenn du planst, die Hütte auszurauben, bleibe ich
solange im Wagen.«
Paco rollt mit den Augen. »Wir sind nicht hier, um
ein paar Golfer auszurauben.«
»Warum hast du mich dann hierher geschleift?«
»Um meinen Abschlag zu üben. Komm schon, beweg
deinen Arsch und hilf mir.«
»Wir haben dreizehn Grad und Mitte Oktober,
Paco.«
»Das ist alles eine Frage der Wahrnehmung und
persönlicher Präferenzen.«
Ich sitze im Wagen und grüble darüber nach, wie ich
nach Hause komme. Laufen würde zu lange dauern. Ich weiß nicht, wo
die nächste Bushaltestelle ist und … und … und ich werde Paco so
dermaßen in den Hintern treten, weil er mich zu einem verdammten
Golfplatz geschleppt hat.
Ich stolziere dorthin, wo Paco gerade einen Korb
mit Bällen absetzt. Mann, es sind wahrscheinlich an die
hundert.
»Wo hast du den Golfschläger her?«, frage ich
ihn.
Paco lässt ihn wie einen Propeller in der Luft
kreisen. »Von dem Typen, der die Bälle vermietet. Willst auch
einen, damit du ein paar Bälle schlagen kannst?«
»Nein.«
Paco deutet mit dem Ende des Golfschlägers auf eine
grüne Bank aus Holz, die hinter ihm steht. »Dann setz dich
dahin.«
Als ich mich gesetzt habe, wandert mein Blick zu
den anderen
Golfern, die in den ihnen zugeteilten kleinen Bereichen ihre Bälle
schlagen. Aus den Augenwinkeln beäugen sie uns irritiert. Ich bin
mir nur zu bewusst, dass Paco und ich anders aussehen und uns
anders kleiden als der Rest der Typen auf dem Platz. Jeans,
T-Shirts, Tattoos und die Bandanas auf unseren Köpfen lassen uns
aus der Masse der Golfer hervorstechen, von denen ein Großteil
langärmlige Golfshirts, Golfhosen und keinerlei unveränderliche
Kennzeichen auf der Haut trägt.
Normalerweise ist mir das egal, aber nach dem
Gespräch mit Hector möchte ich lieber nach Hause und mich nicht
noch dem Gespött der Leute aussetzen. Ich stütze mich mit den
Ellbogen auf die Knie und sehe Paco dabei zu, wie er sich zum
Idioten macht.
Paco nimmt einen Golfball und platziert ihn auf
einem kleinen Abschlagsmal aus Gummi auf dem Kunstrasen. Als er den
Golfschläger schwingt, zucke ich zusammen. Der Schläger trifft
anstatt des Balles nur den Rasen. Paco flucht. Der Typ neben Paco
wirft ihm einen kurzen Blick zu und beschließt, seinen Abschlag
woanders zu üben.
Paco versucht es erneut. Dieses Mal trifft der
Schläger den Ball, aber er rollt nur ein jämmerliches Stückchen auf
dem Gras vor ihm. Paco versucht es weiter, aber jedes Mal, wenn er
ausholt, macht er sich komplett zum Narren. Glaubt er vielleicht,
er habe einen Hockeyschläger in der Hand?
»Bist du fertig?«, frage ich, als er ungefähr die
Hälfte der Bälle aus seinem Körbchen verschlagen hat.
»Alex«, sagt Paco und stützt sich auf seinen
Golfschläger, als sei es ein Krückstock, »glaubst du, es ist meine
Bestimmung, Golf zu spielen?«
Ich sehe ihm fest in die Augen und antworte:
»Nein.«
»Ich habe gehört, wie du dich mit Hector
unterhalten hast. Was dich betrifft, glaube ich nicht, dass es
deine Bestimmung ist, mit Drogen zu dealen.«
»Sind wir deshalb hier? Versuchst du gerade, mir
etwas klarzumachen?«
»Hör mich an«, beharrt Paco. »Ich habe die
Schlüssel für den Wagen in meiner Tasche und ich gehe nirgendwohin,
bevor ich nicht alle diese Bälle geschlagen habe, also kannst du
mir genauso gut zuhören. Ich bin nicht so schlau wie du. Ich habe
nicht so viele Möglichkeiten im Leben. Aber du, du bist klug genug,
um aufs College zu gehen und Arzt oder Computernerd zu werden oder
so was. Genau wie ich nicht geboren wurde, um Golf zu spielen,
wurdest du nicht geboren, um mit Drogen zu dealen. Lass mich die
Lieferung übernehmen.«
»Auf keinen Fall, Mann. Ich weiß zu schätzen, dass
du dich zum Vollidioten machst, um etwas zu demonstrieren, aber ich
weiß, was ich zu tun habe«, erkläre ich ihm.
Paco platziert einen neuen Ball auf dem
Abschlagsmal, holt aus – und wieder rollt der Ball nur ein Stück
weiter. »Diese Brittany ist wirklich heiß. Plant sie, aufs College
zu gehen?«
Ich weiß, was Paco da versucht. Unglücklicherweise
ist mein bester Freund so was von durchschaubar. »Ja. In Colorado.«
Um in der Nähe ihrer Schwester zu sein, deren Wohl ihr mehr am
Herzen liegt als ihr eigenes.
Paco pfeift durch die Zähne. »Ich bin sicher, sie
wird eine Menge Typen in Colorado kennenlernen. Du weißt schon,
beinharte Kerle mit Cowboyhüten.«
Ich balle unwillkürlich die Fäuste. Ich will nicht
darüber nachdenken. Bis wir wieder im Wagen sind, lasse ich Paco
links liegen. Dann sage ich zu ihm: »Wann wirst du endlich
aufhören, deine Nase in meine Angelegenheiten zu stecken?«
Er gluckst. »Nie.«
»Dann hast du bestimmt auch nichts dagegen, wenn
ich mich in deine mische. Was ist zwischen dir und Isa gelaufen,
hm?«
»Wir haben rumgeknutscht. Das ist vorbei.«
»Du meinst vielleicht, es sei erledigt, aber ich
glaube, sie sieht das anders.«
»Und wenn schon, das ist ihr Problem.« Paco macht
das Radio an und dreht die Musik auf.
Paco hat noch nie etwas Ernstes mit einem Mädchen
angefangen, weil er Angst davor hat, jemanden an sich
heranzulassen. Niemand – auch Isa nicht – ahnt, wie oft und wie
heftig Paco zu Hause misshandelt worden ist. Glaubt mir, ich
verstehe vollkommen, warum er sich von dem Mädchen fernhält, das
ihm etwas bedeutet. Denn die Wahrheit ist, dass man sich mitunter
verbrennt, wenn man dem Feuer zu nahe kommt.