15
Brittany
Eine Sache steht fest – ich werde nicht mit Alex Fuentes rumknutschen. Gott sei Dank hat uns Mrs Peterson die ganze Woche mit Experimenten beschäftigt, sodass uns keine Zeit zum Reden blieb, außer darüber, wer den Bunsenbrenner anwirft. Aber jedes Mal, wenn ich Alex’ bandagierten Arm gesehen habe, hat es mich daran erinnert, wie ich ihm eine verpasst habe.
Ich versuche, nicht an ihn zu denken, während ich meine Lippen für das Date mit Colin anmale. Es ist Freitagabend und wir gehen zum Essen und ins Kino.
Nachdem ich mich ein zweites und drittes Mal im Spiegel begutachtet und das Tiffany-Armband übergestreift habe, das Colin mir letztes Jahr zu unserem Einjährigen geschenkt hat, gehe ich in den Garten, wo meine Schwester mit ihrer Physiotherapeutin im Pool planscht. Meine Mom trägt einen pinkfarbenen Bademantel und liest irgendein Style-Magazin, während sie sich auf einer Badeliege räkelt.
Es ist ziemlich still, bis auf die Stimme der Therapeutin, die Shelley Anweisungen gibt.
Mom lässt ihre Zeitschrift sinken, ihre Miene ist hart und streng. »Brit, sei spätestens um halb elf wieder zu Hause.«
»Wir gehen erst um acht ins Kino, Mom. Es wird später werden.«
»Du hast gehört, was ich gesagt habe. Sei spätestens um halb elf wieder da. Und wenn ihr das Kino dafür verlassen müsst, bevor der Film aus ist, dann ist es eben so. Colins Eltern haben bestimmt keinen Respekt vor einem Mädchen, das sich die Nächte um die Ohren schlägt.«
Es läutet an unserer Haustür. »Das ist er wahrscheinlich«, sage ich.
»Du beeilst dich besser und öffnest ihm die Tür. Ein Junge wie dieser wird nicht ewig auf dich warten, weißt du.«
Ich renne zur Vordertür, bevor meine Mom es für mich tut und uns beide wie Idioten aussehen lässt. Colin steht auf unserer Schwelle mit einem Strauß Rosen in der Hand.
»Für dich«, sagt er und überrascht mich damit völlig.
Wow! Ich komme mir blöd vor, weil ich die vergangene Woche so viel über Alex nachgedacht habe. Ich umarme Colin und gebe ihm einen Kuss, einen echten, auf die Lippen.
»Lass mich die nur kurz ins Wasser stellen«, sage ich und trete einen Schritt zurück, um ihn ins Haus zu lassen.
Ich summe glücklich vor mich hin, während ich in die Küche gehe. Der süße Duft der Rosen steigt in meine Nase. Ich fülle Wasser in eine Vase und frage mich dabei, ob Alex seinen Freundinnen wohl jemals Blumen geschenkt hat. Alex bringt seiner Liebsten wahrscheinlich ein scharfes Messer als Geschenk mit, damit sie für alle Fälle gewappnet ist, wenn sie mit ihm ausgeht. Mit Colin zusammen zu sein ist dagegen so …
Langweilig?
Nein. Wir sind nicht langweilig. Wir sind ein schönes Paar. Perfekt füreinander. Niedlich.
Nachdem ich die Rosen angeschnitten und sie in die Vase gestellt habe, finde ich Colin im Patio wieder, wo er sich mit meiner Mutter unterhält. Etwas, das mir ganz und gar nicht gefällt.
»Bereit?«, frage ich.
Colin wirft mir sein strahlendes Eine-Millionen-Watt-Lächeln zu. »Aber klar doch.«
»Bring sie bitte bis halb elf zurück«, ruft meine Mom uns hinterher. Als ob ein Mädchen mit festen Ausgehzeiten automatisch moralisch höher stünde. Es ist lächerlich, aber ich sehe Shelley an und schlucke meine Widerworte runter.
»Sie können sich darauf verlassen, Mrs Ellis«, erwidert Colin.
Als wir in seinem Mercedes sitzen, frage ich: »Welchen Film wollen wir sehen?«
»Planänderung. Die Firma meines Vaters hat Tickets für ein Spiel der Cubs. In einer VIP-Lounge direkt hinter der Homeplate. Baby, wir werden die Cubbies sehen.«
»Wie cool. Meinst du, wir sind um halb elf wieder da?« Denn zweifellos wird meine Mom mich auf der Türschwelle erwarten.
»Wenn sie keine zusätzlichen Innings spielen. Glaubt deine Mom etwa, du verwandelst dich in einen Kürbis oder so?«
Ich nehme seine Hand in meine. »Nein. Es ist nur, dass ich nicht möchte, dass sie sich aufregt.«
»Ich will dir nicht zu nahe treten, aber deine Mom ist seltsam. Ich würde sie nicht von der Bettkante stoßen, aber sie ist total durchgeknallt.«
Ich ziehe meine Hand zurück. »Iih! Colin, du hast gerade gesagt, du würdet mit meiner Mutter ins Bett gehen! Das ist so was von widerlich.«
»Bitte, Brit.« Er wirft mir einen kurzen Blick zu. »Deine Mom sieht eher aus wie deine Zwillingsschwester und nicht wie deine Mutter. Sie ist heiß.«
Sie trainiert viel, ich muss zugeben, ihr Körper sieht eher wie der einer Dreißigjährigen als der einer Fünfundvierzigjährigen aus. Aber mir vorzustellen, dass mein Freund auf meine Mutter steht, ist einfach ekelhaft.
Beim Stadion angekommen führt mich Colin zu der Firmenloge seines Vaters. Sie ist voller Leute aus den verschiedenen Downtown-Anwaltskanzleien. Colins Eltern begrüßen uns. Seine Mom umarmt mich und küsst die Luft über meiner Wange, bevor wir uns unter die Leute mischen.
Ich beobachte, wie Colin sich mit den anderen Leuten in der Loge unterhält. Er fühlt sich so wohl dabei wie ein Fisch im Wasser. Er ist in seinem Element. Er schüttelt Hände, lächelt breit und lacht über jeden Witz, sei er nun lustig oder nicht.
»Lass uns das Spiel von den Sitzen da vorn aus ansehen«, sagt er und führt mich zu den Logenplätzen, nachdem wir uns an der Theke mit Hot Dogs und Getränken eingedeckt haben.
»Ich hoffe auf ein Praktikum bei Harris, Lundstrom und Wallace nächsten Sommer«, erzählt er mir leise. »Also muss ich diesen Typen ein bisschen um den Bart gehen.«
Als Mr Lundstrom sich neben uns setzt, wechselt Colin in den Geschäftsmodus. Ich sehe voller Bewunderung zu, wie er sich mit Mr Lundstrom unterhält, als wären sie alte Freunde. Mein Freund hat definitiv die Gabe, Menschen um den Finger zu wickeln.
»Ich habe gehört, du möchtest in die Fußstapfen deines Vaters treten«, sagt Mr Lundstrom.
»Ja, Sir«, erwidert Colin. Dann unterhalten sie sich über Football und Aktienwerte und was immer Colin noch einfällt, damit Mr Lundstroms Redefluss nicht versiegt.
Megan ruft mich auf dem Handy an und ich fasse die Höhepunkte des Spiels für sie zusammen und wir quatschen, während ich darauf warte, dass Colin sein Gespräch mit Mr Lundstrom beendet. Sie erzählt mir, wie cool es in dieser Diskothek mit Namen Club Mystique gewesen ist, die auch Leuten unter einundzwanzig Einlass gewährt. Sie ist sich sicher, Sierra und ich werden es dort lieben.
In der kurzen Pause im siebten Inning stehen Colin und ich auf und singen das traditionelle Take me out to the Ball Game mit. Wir singen total schief, aber das spielt keine Rolle, denn es klingt, als sängen Tausende Cub-Fans genauso falsch wie wir. Es fühlt sich gut an, auf diese Art mit Colin zusammen zu sein, Spaß zu haben. Und ich denke, dass ich in letzter Zeit zu kritisch war, was unsere Beziehung angeht.
Um Viertel vor zehn drehe ich mich zu Colin und sage ihm, dass wir aufbrechen müssen, auch wenn das Spiel noch nicht vorbei ist.
Er nimmt meine Hand in seine. Ich gehe davon aus, dass er das Gespräch mit Mr Lundstrom abbrechen und sich empfehlen wird. Stattdessen ruft Mr Lundstrom Mr Wallace dazu.
Während die Minuten verrinnen, werde ich immer nervöser. Zu Hause gibt es schon genug Spannungen. Ich möchte keine weiteren verursachen. »Colin …«, sage ich und drücke seine Hand.
Er legt mir zur Antwort den Arm um die Schulter.
Auf dem Höhepunkt des neunten Innings, es ist inzwischen nach zehn, sage ich: »Es tut mir leid, aber Colin muss mich jetzt nach Hause bringen.«
Mr Wallace und Mr Lundstrom schütteln Colin die Hand, dann zerre ich ihn aus dem Stadion.
»Brit, weißt du, wie schwer es ist, einen Praktikumsplatz bei HL&W zu bekommen?«
»Ehrlich gesagt, ist mir das im Moment völlig egal, Colin. Ich sollte um zehn Uhr dreißig zu Hause sein.«
»Dann bist du eben um elf zu Hause. Sag deiner Mom, wir standen im Stau.«
Colin weiß nicht, wie meine Mom drauf ist, wenn sie eine ihrer Launen hat. Glücklicherweise habe ich es bisher vermeiden können, ihn allzu oft mit zu mir zu nehmen und, wenn er vorbeikommt, dann nur für ein paar Minuten oder weniger. Er hat keinen Schimmer, wie es ist, wenn meine Mom mich in der Luft zerreißt.
Wir biegen nicht um elf in die Auffahrt, sondern vielmehr um elf Uhr dreißig. Colin ist immer noch aus dem Häuschen, dass er vielleicht einen Praktikumsplatz bei HL&W bekommt, und hört sich die Zusammenfassung des Spiels im Radio an.
»Ich muss los«, sage ich und lehne mich für einen schnellen Kuss zu ihm rüber.
»Bleib noch ein paar Minuten«, sagt er an meinen Lippen. »Wir haben schon ewig nicht mehr rumgemacht. Ich vermisse es.«
»Ich auch. Aber es ist spät.« Ich werfe ihm einen entschuldigenden Blick zu. »Wir werden noch mehr Nächte zusammen haben.«
»Hoffentlich früher als später.«
Ich gehe ins Haus und wappne mich dagegen, angeschrien zu werden. Wie vermutet steht meine Mutter mit vor der Brust verschränkten Armen im Eingangsbereich. »Du kommst zu spät.«
»Ich weiß. Es tut mir leid.«
»Was glaubst du? Dass ich die Regeln nur zum Spaß aufstelle?«
»Nein.«
Sie seufzt.
»Mom, es tut mir wirklich leid. Wir sind zu einem Spiel der Cubs gegangen, statt ins Kino und es war schrecklich viel Verkehr.«
»Ihr wart bei den Cubs? Den ganzen Weg bis in die Stadt? Du hättest ausgeraubt werden können!«
»Uns ist nichts passiert, Mom.«
»Du meinst, du weißt alles, Brit, aber das tust du nicht. Ich dagegen weiß, dass du jetzt tot in irgendeiner Gasse liegen könntest, während ich davon ausgegangen bin, dass du im Kino bist. Sieh in deiner Handtasche nach, ob dein Geld oder dein Pass weg ist.«
Ich öffne die Handtasche und überprüfe den Inhalt meines Portemonnaies, nur um sie zu besänftigen. Ausweis und Geld hochhaltend sage ich: »Es ist noch alles da.«
»Dieses Mal. Du hast noch mal Glück gehabt.«
»Ich bin immer vorsichtig, wenn ich in die Stadt gehe, Mom. Außerdem war Colin doch dabei.«
»Komm mir nicht mit Entschuldigungen, Brit. Meinst du nicht, es wäre angemessen gewesen, mich anzurufen und mir von der Planänderung und eurer Verspätung zu erzählen?«
Nur damit sie mich erst am Telefon anschreien kann und dann noch mal, wenn ich nach Hause komme? Niemals. Aber das kann ich ihr nicht sagen. »Ich habe nicht darüber nachgedacht«, ist alles, was ich herausbringe.
»Denkst du jemals an diese Familie? Es dreht sich nicht alles nur um dich, Brittany.«
»Das weiß ich, Mom. Ich verspreche, dich nächstes Mal anzurufen. Ich bin müde. Darf ich jetzt bitte ins Bett gehen?«
Sie entlässt mich mit einer ungeduldig-winkenden Handbewegung.
 
Am Samstagmorgen weckt mich das Geschrei meiner Mutter. Ich schlage die Bettdecke zurück, springe aus dem Bett und renne die Treppe hinunter, um zu sehen, was dieser Aufruhr zu bedeuten hat.
Shelley sitzt in ihrem Rollstuhl, der an den Küchentisch geschoben wurde. Das Essen ist um ihren ganzen Mund verschmiert und überall auf ihrem T-Shirt und ihrer Hose verteilt. Sie sieht aus wie ein Kleinkind, nicht wie eine Zwanzigjährige.
»Shelley, wenn du das noch mal machst, gehst du in dein Zimmer!«, brüllt meine Mutter. Dann stellt sie eine Schüssel püriertes Essen vor sie auf den Tisch. Shelley fegt sie zu Boden. Meine Mom schnappt nach Luft. Ihre Augen verengen sich zu schmalen Schlitzen, als sie Shelley ansieht.
»Ich regle das«, sage ich und haste zu meiner Schwester.
Meine Mutter hat meine Schwester noch nie geschlagen. Aber wenn sie ihrer Frustration freien Lauf lässt, tut das genauso weh. »Behandle sie nicht wie ein Kleinkind, Brittany«, sagt Mom. »Wenn sie nicht essen will, wird sie bald künstlich ernährt werden. Willst du das etwa?«
Ich hasse es, wenn sie das tut. Sie malt das schlimmstmögliche Szenario an die Wand, anstatt in Ordnung zu bringen, was gerade verkehrt läuft. Als meine Schwester mich ansieht, entdecke ich den gleichen Frust in ihren Augen.
Meine Mom zeigt mit dem Finger auf Shelley, dann auf das Essen auf dem Boden. »Deshalb habe ich dich seit Monaten in kein Restaurant mitgenommen«, sagt sie.
»Mom, hör auf damit«, protestiere ich. »Es gibt keinen Grund die Situation eskalieren zu lassen. Shelley ist schon völlig außer sich. Warum es noch schlimmer machen?«
»Und was ist mit mir?«
Ein unerträglicher Druck baut sich in mir auf, es beginnt tief in mir drinnen und breitet sich bis zu den Fingerspitzen und Zehen aus. Es brodelt in mir und bricht mit solcher Macht hervor, dass ich mich nicht länger zurückhalten kann. »Es geht hier nicht um dich! Warum muss sich am Ende immer alles darum drehen, wie es dir damit geht?«, schreie ich. »Mom, siehst du denn nicht, dass sie Schmerzen hat? Warum versuchst du nicht herauszufinden, was ihr fehlt, anstatt sie anzubrüllen?«
Ohne nachzudenken schnappe ich mir einen Waschlappen und gehe neben Shelley in die Knie. Ich beginne ihre Hose abzureiben.
»Brittany, nicht!«, ruft meine Mom aus.
Ich höre nicht auf sie. Das hätte ich aber tun sollen, denn bevor ich mich wieder aufrichten kann, fährt Shelley mit den Händen in mein Haar und zieht daran. Stark. Bei der ganzen Aufregung habe ich vergessen, dass meine Schwester seit Neustem an den Haaren zieht.
»Au!«, sage ich. »Shelley, hör bitte damit auf!« Ich versuche, nach hinten zu greifen und ihre Knöchel zu drücken, damit sie ihren Griff öffnet, wie es uns der Arzt gezeigt hat, aber es hat keinen Sinn. Ich bin in der falschen Position, zusammengekrümmt zu Shelleys Füßen mit verdrehtem Körper. Meine Mom flucht, Essensbrei fliegt in alle Richtungen und meine Kopfhaut fühlt sich bereits wund an.
Shelley löst ihren Griff nicht, obwohl meine Mutter versucht, ihre Hände von meinem Haar wegzuziehen.
»Die Knöchel, Mom!«, rufe ich, um sie an das zu erinnern, was Dr. Meir uns geraten hat. Himmel, wie viele Haare hat sie mir ausgerissen? Es fühlt sich an, als sei ein großer Bereich meines Kopfes kahl.
Nachdem ich sie daran erinnert habe, muss meine Mutter genügend Druck auf ihre Knöchel ausgeübt haben, denn Shelley lässt mein Haar los. Entweder das, oder sie hat sämtliche Haare ausgerissen, an denen sie sich festgeklammert hatte.
Ich falle zu Boden und fahre sofort mit der Hand an meinen Hinterkopf.
Shelley lächelt.
Meine Mom runzelt die Stirn.
Und mir treten Tränen in die Augen.
»Ich gehe sofort zu Dr. Meir mit ihr«, verkündet meine Mutter kopfschüttelnd. Sie sieht mich dabei an, damit ich weiß, dass sie mir die Schuld dafür gibt, dass die Situation außer Kontrolle geraten ist. »Das geht schon viel zu lange so. Brittany, nimm das Auto deines Vaters und hol ihn vom Flughafen ab. Er landet um elf. Das ist das Mindeste, das du tun kannst, um zu helfen.«
Du oder das ganze Leben
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