6
Alex
O. k., ich hätte sie bei der Vorstellungsrunde nicht dermaßen in die Scheiße reiten sollen. Nichts in ihr Heft zu schreiben, außer: Samstagnacht. Nur du und ich. Fahrstunden und wilder Sex war wahrscheinlich nicht besonders clever. Aber ich war eben scharf drauf zu sehen, wie Miss Perfecta bei ihrem Vortrag Blut und Wasser schwitzt. Und schwitzen tut sie.
»Miss Ellis?«
Ich beobachte belustigt, wie die Perfektion in Person den Blick hebt und Mrs Peterson ansieht. Oh, sie ist gut! Meine Partnerin hat Übung darin, ihre wahren Gefühle zu verbergen. Das sehe ich, weil ich selbst die ganze Zeit nichts anderes tue.
»Ja?«, sagt Brittany mit zur Seite geneigtem Kopf und dem Lächeln einer Schönheitskönigin.
Ich frage mich, ob dieses Lächeln ihr schon mal ein Knöllchen erspart hat.
»Du bist dran. Bitte stelle Alex der Klasse vor.«
Ich stütze einen Ellbogen auf die Tischplatte und warte darauf, dass sie entweder etwas über mich erfinden oder zugeben wird, dass sie einen Dreck über mich weiß. Sie beäugt meine relaxte Haltung und ihr Blick Marke verwundetes Reh verrät mir, wie sehr ich sie getroffen habe.
»Das ist Alejandro Fuentes«, beginnt sie, wobei ihre Stimme kaum hörbar zittert. Die Erwähnung meines Geburtsnamens bringt mein Blut in Wallung, aber ich verziehe keine Miene, während sie mit ihrer improvisierten Vorstellung weitermacht.
»Wenn er nicht auf der Straße rumgehangen und unschuldigen Leuten nachgestellt hat, hat er den Sommer über die Gefängnisse dieser Stadt von innen besichtigt, wenn ihr versteht, was ich meine. Und er hegt insgeheim einen Wunsch, den keiner je erraten würde.«
Im Raum ist es plötzlich so still, dass man eine Stecknadel fallen hören könnte. Sogar Peterson widmet Brittany ihre volle Aufmerksamkeit. Himmel, sogar ich lausche den Worten, die aus ihrem verlogenen Mund mit den rosa schimmernden Lippen kommen, als wären sie das Evangelium.
»Sein größter Wunsch ist es«, fährt sie fort, »aufs College zu gehen und Chemielehrer zu werden wie Sie, Mrs Peterson.«
Alles klar. Ich werfe meiner Freundin Isa einen Blick zu, die sich königlich darüber zu amüsieren scheint, dass ein weißes Mädchen keine Angst hat, mich vor der gesamten Klasse bloßzustellen.
Brittany schenkt mir ein triumphierendes Lächeln. Sie glaubt, diese Runde ginge an sie. Wenn du dich da mal nicht täuschst, gringa.
Ich setze mich gerade hin, während der Rest der Klasse weiter keinen Mucks von sich gibt.
»Das ist Brittany Ellis«, beginne ich. Sämtliche Augenpaare sind nun auf mich gerichtet. »Diesen Sommer ist sie in der Mall gewesen, hat sich neue Kleider gekauft, um ihre Garderobe aufzustocken und hat das Geld ihres Daddys in plastische Chirurgie investiert, um ihr, ehem, Kapital zu vergrößern.«
Es ist vielleicht nicht das, was sie geschrieben hat, aber es kommt der Wahrheit bestimmt ziemlich nahe. Im Gegensatz zu ihren Ausführungen über mich.
Mis cuates in der letzten Reihe glucksen. Brittany sitzt stocksteif neben mir, als hätten meine Worte ihr kostbares Ego angekratzt. Brittany Ellis ist daran gewöhnt, dass alle ihr zu Füßen liegen. Sie kann zur Abwechslung mal einen kleinen Weckruf vertragen. Eigentlich müsste sie mir dankbar sein. Wenn sie ahnen würde, was auf sie zukommt … Ich bin noch längst nicht fertig damit, sie vorzustellen.
»Ihr geheimer Wunsch«, füge ich hinzu und sichere mir damit die gleiche Aufmerksamkeit, wie sie während ihres kleinen Vortrags, »ist es, mit einem Mexicano auszugehen, bevor sie ihren Abschluss macht.«
Wie erwartet, werden meine Worte von Rufen und leisen Pfiffen aus dem hinteren Teil des Raums begleitet.
»Einsame klasse, Fuentes«, platzt mein Freund Lucky heraus.
»Ich verabrede mich mit dir, mamacita«, grölt ein anderer.
Als ich in die ausgestreckte Hand eines weiteren Latino Bloods namens Marcus einschlage, der hinter mir sitzt, fällt mein Blick auf Isa, die den Kopf schüttelt, als hätte ich gerade etwas Falsches getan. Was? Ich amüsiere mich doch nur mit dem reichen Flittchen von der Northside.
Brittanys Blick wandert von Colin zu mir. Ich sehe Colin herausfordernd in die Augen und gebe ihm zu verstehen, dass das Spiel eröffnet ist. Colins Gesicht läuft augenblicklich knallrot an, er sieht aus wie eine Chilischote. Ich wildere definitiv in seinem Revier. Gut.
»Ruhe, bitte«, sagt Peterson streng. »Vielen Dank für diese sehr fantasievollen und … erhellenden Vorstellungen. Miss Ellis und Mr Fuentes, bitte kommen Sie nach der Stunde noch kurz zu mir.«
 
»Eure Vorstellungen waren nicht nur erschreckend, sie waren mir und euren Mitschülern gegenüber extrem respektlos«, erklärt uns Peterson nach der Stunde, als Brittany und ich vor ihrem Pult stehen. »Ihr habt die Wahl.« Unsere Lehrerin hält zwei blaue Nachsitzzettel in der einen und zwei Notizblätter in der anderen Hand. »Ihr könnt entweder heute Nachmittag nachsitzen oder bis morgen einen fünfhundert Wort starken Essay zum Thema Respekt verfassen. Wofür entscheidet ihr euch?«
Ich schnappe mir den Nachsitzzettel. Brittany streckt den Arm aus und greift nach dem Notizzettel. Warum überrascht mich das nicht?
»Hat einer von euch ein Problem mit der Art und Weise, wie ich die Teams für die Projektarbeit zusammenstelle?«, fragt Peterson.
Brittany antwortet: »Ja.«
Im gleichen Moment erwidere ich »Nö.«
Peterson legt ihre Brille auf dem Pult ab. »Hört zu, ihr zwei, räumt besser eure Differenzen aus dem Weg, bevor das Jahr um ist. Brittany, ich werde dir keinen anderen Partner zuteilen. Ihr seid beide Seniors und werdet nach eurem Abschluss mit einer Fülle von Menschen und Charakteren klarkommen müssen. Wenn ihr nicht den ganzen Sommer für die Nachprüfung lernen wollt, weil ihr in meinem Kurs durchgefallen seid, schlage ich vor, ihr arbeitet zusammen anstatt gegeneinander. Jetzt geht, damit ihr rechtzeitig zu eurer nächsten Stunde kommt.«
Nachdem wir mit diesen Worten entlassen worden sind, folge ich meiner kleinen Chemiepartnerin aus dem Klassenzimmer und den Gang entlang.
»Hör auf, mir nachzulaufen«, faucht sie mich an. Mit einem Blick über die Schulter überprüft sie, wie viele Leute mitbekommen, dass wir im Gang nebeneinanderher gehen.
Als wäre ich der Teufel höchstpersönlich.
»Trag Samstag was Langärmliges«, weise ich sie an und bin mir nur allzu bewusst, dass sie kurz davor ist auszurasten. Normalerweise versuche ich gar nicht erst, weiße Hühner aus dem Konzept zu bringen, aber bei diesem hier macht es verflixt großen Spaß. Denn diesem hier, dem begehrtesten und angesagtesten von allen, macht es tatsächlich etwas aus. »Auf meinem Motorrad kann es ziemlich kalt werden.«
»Hör zu, Alex«, sagte sie, fährt herum und wirft das sonnengebleichte Haar über ihre Schulter. Ihre klaren Augen blicken eiskalt. »Ich gehe nicht mit Kerlen aus, die in einer Gang sind. Und ich nehme keine Drogen.«
»Ich gehe auch nicht mit Kerlen aus, die in einer Gang sind«, erwidere ich und mache einen Schritt auf sie zu. »Und ich bin kein Drogi.«
»Ja, sicher. Es überrascht mich, dass du nicht im Entzug steckst oder in irgendeinem Jugendknast.«
»Du denkst, du weißt, wer ich bin?«
»Ich weiß genug.« Sie verschränkt ihre Arme vor der Brust, doch dann blickt sie an sich hinunter, als wäre ihr plötzlich aufgefallen, dass diese Haltung ihre chichis betont, und lässt die Arme wieder fallen.
Ich gebe mein Bestes, ihre chichis nicht anzustarren, als ich noch einen Schritt auf sie zugehe. »Hast du mich bei Aguirre verpfiffen?«
Sie weicht einen Schritt zurück. »Und wenn es so wäre?«
»Mujer, du hast ja Angst vor mir.« Es ist keine Frage. Ich möchte nur aus ihrem eigenen Mund hören, was der Grund dafür ist.
»Die meisten Leute auf dieser Schule haben Angst davor, dass du eine Waffe zückst, wenn sie dir blöd kommen.«
»Dann müsste mein Colt inzwischen ganz schön rauchen, was? Und wenn ich tatsächlich ein so übler Mexicano bin, was stehst du dann noch hier, hm? Los, renn!«
»Wenn du mir auch nur die geringste Chance lässt, werde ich es tun.«
Ich habe genug davon, so einen Tanz wegen dieser kleinen Schlampe zu veranstalten. Es ist Zeit, ihre Federn ordentlich zu zersausen, um sicherzustellen, dass ich die Oberhand bei diesem Schlagabtausch behalte. Ich nähere mich ihr und flüstere in ihr Ohr: »Sieh den Tatsachen ins Auge. Dein Leben ist einfach zu perfekt. Wahrscheinlich liegst du nachts wach und fantasierst davon, dein blütenreines Leben ein bisschen aufzupeppen.« Verdammt noch mal, ich erhasche einen Hauch Vanilleduft von ihrem Parfüm oder ihrer Lotion. Er erinnert mich an Plätzchen. Ich liebe Plätzchen, also ist das ganz und gar nicht gut. »Mit dem Feuer zu spielen, bedeutet nicht zwangsläufig, sich zu verbrennen, chica
»Fass sie an und du wirst es bereuen, Fuentes«, ertönt da Colins Stimme. Er gleicht einem Esel, mit den großen weißen Zähnen und den riesenhaften Ohren, die sein Kurzhaarschnitt ausnehmend gut zur Geltung bringt. »Lass sie gefälligst in Ruhe.«
»Colin«, sagt Brittany. »Ist schon gut. Ich krieg das allein geregelt.«
Eselsgesicht hat Verstärkung mitgebracht: Drei weitere teigig weiße Kumpel stehen hinter ihm und geben ihm Rückendeckung. Ich betrachte Eselsgesicht und seine Freunde abschätzend, um festzustellen, ob ich mit allen gleichzeitig fertig werden würde, und komme zu dem Schluss, dass ich locker alle vier dazu bringen könnte, die Beine in die Hand zu nehmen. »Wenn die Großen dich endlich mitspielen lassen, Athletenbaby, werde ich mir die mierda, die aus deinem Mund quillt, vielleicht anhören«, sage ich.
Einige Schüler haben sich um uns geschart, sie lassen uns genügend Raum für einen Kampf, der mit Sicherheit rasant, hemmungslos und blutig sein wird. Ihnen ist nicht bewusst, dass Eselsgesicht ein Feigling ist. Dieses Mal jedoch hat er Rückendeckung, deshalb wird er vielleicht den Mumm besitzen, es auszutragen. Ich bin immer bereit für ein Kämpfchen, schließlich habe ich mehr ausgefochten, als man an Händen und Füßen abzählen kann. Ich habe Narben, die das beweisen.
»Colin, er ist es nicht wert«, sagt Brittany.
Na, vielen Dank, mamacita. Das kriegst du zurück.
»Drohst du mir etwa, Fuentes?«, bellt Colin, der seine Freundin komplett ignoriert.
»Nein, Arschloch«, sage ich. Mein Blick zwingt ihn in die Knie. »Nur kleine Wiesel wie du haben es nötig, zu drohen.«
Brittany schiebt ihren Körper vor Colins und legt die Hand auf seine Brust. »Hör gar nicht hin«, bittet sie ihn.
»Ich habe keine Angst vor dir. Mein Dad ist Anwalt«, prahlt Colin und legt besitzergreifend ein Arm um Brittany. »Sie gehört mir. Vergiss das ja nicht.«
»Dann nimm sie an die Leine«, rate ich ihm. »Oder sie könnte in Versuchung geraten, sich ein neues Herrchen zu suchen.«
Mein Freund Paco stellt sich neben mich. »¿Andas bien, Alex?«
»Ja, Paco«, antworte ich. Ich beobachte, wie zwei Lehrer eskortiert von einem Typen in Polizeiuniform den Gang entlangkommen. Das ist genau, was Adams will. Ein perfider Plan, der dafür sorgen soll, dass ich von der Schule fliege. Ich werde nicht in seine Falle tappen und auf Aguirres Abschussliste landen. »Sí, alles bien.« Ich wende mich Brittany zu. »Wir sehn uns, mamacita. Unsere gemeinsamen Experimente werden schon zeigen, ob die Chemie zwischen uns stimmt.«
Bevor ich mich davonmache und auf diese Weise vermeide, neben dem Nachsitzen auch noch mit einer Suspendierung bestraft zu werden, streckt Brittany hochmütig die Nase in die Luft, als wäre ich der Abschaum des Planeten.
Du oder das ganze Leben
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