40
Alex
Nachdem mein Vater gestorben war, versuchte unsere mamá, Carlos, Luis und mich mit Musik aufzuheitern. Wir tanzten durch das Haus und stritten darum, wer mit ihr im Duett singen durfte. Nachts hörte ich sie in ihrem Zimmer schluchzen. Ich habe die Tür nie geöffnet, aber ich sehnte mich jedes Mal danach, ein Lied anzustimmen und ihren ganzen Kummer fortzusingen.
Ich halte Rücksprache mit der Band, bevor ich zum Mikro greife und die Ansage mache. »Ich würde gern darauf verzichten, auf dieser Bühne zu stehen und den Idioten zu geben, aber die Fuentesbrüder können der Braut diesen speziellen Wunsch nicht abschlagen. Elena kann ziemlich überzeugend sein.«
»Ja, ich weiß!«, ruft Jorge zurück.
Elena boxt ihn auf den Arm, woraufhin ihr Bräutigam sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die lädierte Stelle reibt. Elena weiß, wie man austeilt. Aber Jorge lacht nur und küsst seine Braut stürmisch, er ist zu glücklich, als dass es ihm etwas ausmachen würde.
Meine Brüder und ich singen los. Es sind keine ernsten Lieder. Wir improvisieren einfach mit Songs von Enrique Iglesias, Shakira und sogar Maná, den ich am besten finde. Als ich mich hinknie, um für meine kleinen Cousinen zu singen, zwinkere ich Brittany zu.
Das ist der Moment, in dem mir auffällt, dass die Menge unruhig wird und die Gäste schockiert zu flüstern beginnen. Der Grund dafür ist Hector. Er lässt sich sonst auf solchen Feierlichkeiten nur selten sehen – jetzt sucht er sich seinen Weg durch den Garten in einem teuren Anzug, während alle ihn anstarren. Ich beende den Song und kehre an meinen Platz an Brittanys Seite zurück, da ich den Drang verspüre, sie zu beschützen.
»Kippe?«, fragt Paco mich und zieht ein Päckchen Marlboro aus seiner Gesäßtasche.
Ich werfe Brittany einen kurzen Blick zu, bevor ich »nein« antworte.
Paco mustert mich neugierig, zuckt dann mit den Schultern und nimmt sich selbst eine. »Ihr habt astrein gesungen, Alex. Wenn du mir noch ein paar Minuten mit deiner novia gegönnt hättest, hätte sie mir aus der Hand gefressen.«
Er hat sie mein Mädchen genannt. Ist sie das?
Ich führe Brittany zu einer Eistruhe voller Getränke, Paco im Schlepptau, und achte sehr darauf, dass unser Weg sich nicht mit Hectors kreuzt.
Mario, ein Freund einer meiner Cousins, steht über die Truhe gebeugt. Er trägt die Python-Trio-Gangfarben und weite Baggy Pants, die ihm knapp unter dem Arsch hängen. Die Python Trios sind unsere Verbündeten, aber wenn Brittany ihm auf der Straße begegnen würde, würde sie wahrscheinlich in die entgegengesetzte Richtung rennen.
»Hi, Alex, Paco«, begrüßt uns Mario.
»Ich sehe, du hast dich für die Hochzeit richtig schick gemacht, Mario«, brumme ich.
»Cabrón, die Pinguinkluft ist was für weiße Typen«, sagt Mario und ignoriert, dass meine Begleitung in der Tat weiß ist. »Ihr Vorortgangster seid viel zu verweichlicht. Die wahren Brüder leben in der City.«
»Erzähl das mal Hector, Großstadtgewächs«, sagt Paco mit offener Feindseligkeit.
Auch ich starre Mario wütend an. »Mario, wenn du weiter so einen Scheiß verzapfst, liefere ich dir einen handfesten Beweis, wie hart wir wirklich sind … unterschätze nie die LB.«
Mario beschließt, dass es besser ist, uns in Ruhe zu lassen. »Ich hab da noch ein Date mit einer Flasche Corona. Man sieht sich, güey
»Sieht so aus, als trüge er eine Kanone in der Hose mit sich rum«, sagt Paco, der Mario hinterherblickt.
Ich gucke Brittany an, die um einiges bleicher aussieht als sonst. »Alles okay mit dir?«
»Du hast diesem Typen gedroht«, flüstert sie. »Ich meine, du hast ihn ernsthaft bedroht.«
Anstatt darauf zu antworten, nehme ich ihre Hand und führe sie an den Rand der für die Hochzeit abgesteckten Tanzfläche, die eigentlich nur ein Stück Rasen ist. Langsame Musik spielt.
Als ich sie an mich ziehen will, leistet sie Widerstand. »Was machst du da?«
»Tanz mit mir«, bitte ich sie. »Streite dich nicht mit mir. Lege deine Arme um mich und tanze.« Ich möchte nichts darüber hören, dass ich in einer Gang bin und ihr das Angst macht und wie sehr sie sich wünscht, ich würde aussteigen, damit sie weiter mit mir zusammen sein kann.
»Aber …«
»Denk nicht an das, was ich zu Mario gesagt habe«, flüstere ich ihr ins Ohr. »Er hat uns getestet, wollte sehen, wie loyal wir Hector gegenüber sind. Wenn er irgendwelche Unstimmigkeiten gespürt hätte, würde seine Gang vielleicht versuchen, Kapital daraus zu schlagen. Es ist so, alle Gangs unterstützen entweder Folks oder People. Jede Gang paktiert entweder mit den einen oder den anderen. Und die Folksanhänger sind Gegner der Peopleanhänger. Mario …«
»Alex«, unterbricht sie mich.
»Ja?«
»Versprich mit, dass dir nichts passieren wird.«
Ich kann nicht. »Tanz einfach«, sage ich leise, lege ihre Arme um mich und wir tanzen.
Über Brittanys Schulter hinweg fällt mein Blick auf Hector und meine Mutter, die in ein Gespräch vertieft sind. Ich frage mich, worüber sie reden. Sie wendet sich von ihm ab, doch er packt sie am Arm und zieht sie zurück, um etwas in ihr Ohr zu sagen.
Gerade, als ich zu tanzen aufhören will, um herauszufinden, was zum Teufel hier vor sich geht, lächelt mi’amá Hector neckend an und lacht über etwas, das er gesagt hat. Offenbar bin ich paranoid.
Stunden vergehen und Dunkelheit bricht über die Stadt herein. Die Party ist immer noch im vollen Gange, als wir zum Auto gehen. Auf der Fahrt zurück nach Fairfield sind wir beide schweigsam.
»Komm her«, sage ich sanft, als ich den Wagen auf dem Hof der Autowerkstatt geparkt habe.
Sie lehnt sich über die Mittelkonsole und schmiegt sich an mich. »Es war wirklich toll«, flüstert sie. »Na ja, bis auf die Momente, als ich mich im Bad versteckt habe und als du diesen Typen bedroht hast.«
»Vergiss das alles und küss mich«, fordere ich sie auf.
Ich fahre mit den Fingern durch ihr Haar. Sie schlingt die Arme um meinen Nacken, während ich das Tal zwischen ihren Lippen mit der Zunge erkunde. Als sich ihre Lippen öffnen, vertiefe ich den Kuss. Es ist wie Tango tanzen, erst sind die Bewegungen langsam und rhythmisch und dann, als wir beide schwer atmen und unsere Zungen aufeinandertreffen, verwandelt der Kuss sich in einen heißen, schnellen Tanz, von dem ich mir wünsche, dass er niemals endet. Carmens Küsse waren vielleicht heiß, aber Brittanys sind dafür sehr viel sinnlicher und sexy und sie machen extrem abhängig.
Wir sind immer noch im Wagen, aber es ist eng hier drin und die Vordersitze bieten uns nicht genug Raum. Bevor ich mich versehe, sind wir schon auf der Rückbank. Es ist immer noch nicht premium, aber davon bekomme ich kaum was mit.
Es macht mich so an, sie stöhnen zu hören, von ihr geküsst zu werden und zu spüren, wie ihre Finger durch mein Haar fahren. Und der Duft nach Vanilleplätzchen. Ich werde sie heute Nacht nicht bedrängen. Aber ohne dass ich darüber nachdenke, wandert meine Hand ihren nackten Oberschenkel hoch.
»Das fühlt sich so gut an«, sagt sie atemlos.
Ich presse sie mit meinem Oberkörper auf den Rücksitz, während meine Hände ihren Körper weiter erkunden. Meine Lippen liebkosen ihre Nackenbeuge und ich streife die Träger ihres Kleides und BHs von den Schultern. Als Antwort knöpft sie mein Hemd auf. Als es offen ist, wandern ihre Finger über meine Brust und meine Schultern, versengen meine Haut.
»Du bist … perfekt«, keucht sie.
Ich bin nicht in der Stimmung, ihr zu widersprechen. Während ich mich an ihrem Hals entlang nach unten küsse, zieht meine Zunge einen feuchten Pfad auf ihrer seidigen Haut, die im fahlen Mondlicht schimmert. Sie verkrallt sich in meinem Haar, drängt mich, nicht aufzuhören. Sie schmeckt so verdammt gut. Zu gut. ¡Caramelo!
Ich ziehe mich ein paar Zentimeter zurück und fange ihren Blick mit meinem ein. Ihre strahlenden Saphiraugen glühen vor Verlangen. Wo wir gerade von perfekt reden …
»Ich will dich, chula«, sage ich mit heiserer Stimme. Sie presst sich gegen meine Erektion, die Lust/der Schmerz ist kaum auszuhalten. Aber als ich ihr das Höschen runterziehe, hält sie meine Hand fest und stößt sie weg.
»Ich … ich bin noch nicht so weit, Alex. Hör auf.«
Ich rutsche von ihr runter, setze mich wieder aufrecht hin und warte darauf, dass meine Erregung abklingt. Als sie ihren Oberkörper wieder bedeckt und die Träger über die Schultern schiebt, kann ich sie nicht ansehen. Verdammt, ich habe es übertrieben. Ich hatte mir selbst befohlen, nicht zu erregt zu werden, den Verstand nicht komplett auszuschalten, wenn ich mit diesem Mädchen zusammen bin. Ich fahre mir mit der Hand durchs Haar und atme langsam aus. »Es tut mir leid.«
»Nein, mir tut es leid. Es ist nicht deine Schuld. Ich habe dich gedrängt weiterzumachen und es ist dein gutes Recht deswegen wütend auf mich zu sein. Hör zu, ich habe gerade die Beziehung zu Colin beendet und bei mir zu Hause geht eine Menge ab.« Sie verbirgt das Gesicht in den Händen. »Ich bin so durcheinander.« Dann greift sie nach ihrer Handtasche und öffnet die Tür.
Ich folge ihr nach draußen, mein schwarzes Hemd steht offen und flattert im Wind hinter mir her wie ein Vampirumhang. Oder wie das Cape von Gevatter Tod. »Brittany, warte.«
»Bitte, öffne das Garagentor. Ich brauche meinen Wagen.«
»Geh nicht.«
Ich drücke die Tastenkombination.
»Es tut mir leid«, sagt sie noch einmal.
»Hör auf, dich zu entschuldigen. Hör zu, egal, was gerade gelaufen ist, ich bin nicht bloß mit dir zusammen, um dich ins Bett zu kriegen. Mich hat umgehauen, wie nah wir uns den ganzen Abend waren, ich wollte deinen Vanilleduft für immer einatmen und … verdammt, ich hab es wirklich versaut, oder?«
Brittany steigt in ihren Wagen. »Können wir es langsam angehen, Alex? Das geht mir alles viel zu schnell.«
»Klar«, sage ich nickend. Ich lasse die Hände in den Hosentaschen, kämpfe gegen den Drang an, sie aus dem Auto zu zerren.
Doch wenn sie nicht bald losfährt, werde ich ihm nicht länger standhalten können.
Ihre begierigen, forschenden Hände haben mich alles andere vergessen lassen. Ich habe einfach die Kontrolle verloren. Wenn ihr Körper meinem so nahe ist, kann ich an nichts anderes denken als an sie.
Die Wette.
Die Sache mit Brittany sollte mir eigentlich nur helfen, eine Wette zu gewinnen und nicht dazu führen, dass ich mich in eine von der Northside verliebe. Ich muss mir klarmachen, dass ich nur wegen der Wette an Brittany interessiert bin, und unbedingt alles ignorieren, was verdächtig nach echten Gefühlen aussieht.
Gefühle dürfen keine Rolle für mich spielen.
Du oder das ganze Leben
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