13
Brittany
Seit wir das Thema für unsere Facharbeit bekommen haben, war mein Chemiepartner nicht mehr in der Schule. Eine Woche später schlendert er schließlich in die Klasse. Ich bin total angepisst, denn egal, was bei mir zu Hause abgeht, ich komme immer zur Schule.
»Nett von dir, mal wieder vorbeizuschauen«, sage ich.
»Nett, dass es dir auffällt«, erwidert er und zieht das Bandana vom Kopf.
Mrs Peterson betritt den Raum. Als sie Alex sieht, wirkt sie erleichtert. Sie atmet kurz durch, dann sagt sie: »Eigentlich wollte ich heute einen unangekündigten Test schreiben, aber stattdessen lasse ich euch mit euren Partnern in der Bibliothek recherchieren. Ein grober Entwurf eurer Arbeit ist in zwei Wochen fällig.«
Colin und ich gehen Hand in Hand zur Bibliothek. Alex ist irgendwo hinter uns und unterhält sich auf Spanisch mit seinen Freunden.
Colin drückt meine Hand. »Sollen wir uns nach dem Training treffen?«
»Ich kann nicht. Nach dem Cheerleading muss ich direkt nach Hause.« Baghda hat am Samstag das Handtuch geschmissen und meine Mom ist total ausgetickt. Bis sie jemand anderen findet, muss ich sie unterstützen.
Colin bleibt stehen und löst seine Hand aus meiner. »Scheiße, Brit. Meinst du nicht, du solltest mal wieder etwas Zeit mit mir verbringen?«
»Du könntest vorbeikommen«, biete ich ihm an.
»Um zuzusehen, wie du dich um deine Schwester kümmerst? Nein danke. Ich will mich nicht aufführen wie ein Arsch, aber ich möchte Zeit mit dir allein … nur du und ich.«
»Ich weiß, ich doch auch.«
»Wie sieht es mit Freitag aus?«
Ich sollte bei Shelley bleiben, aber meine Beziehung zu Colin steht auf dem Spiel und ich kann nicht zulassen, dass er denkt, ich möchte nicht mit ihm zusammen sein. »Freitag ist okay für mich.«
Bevor wir unsere Pläne mit einem Kuss besiegeln können, steht Alex schon vor uns und räuspert sich. »Keine öffentlich zur Schau gestellte Zuneigung bitte. Schulregel. Außerdem ist sie meine Partnerin, Pickelgesicht. Nicht deine.«
»Halt’s Maul, Fuentes«, zischt Colin, dann gesellt er sich zu Darlene.
Ich stütze eine Hand in die Hüfte und starre Alex erbost an. »Seit wann kümmern dich die Schulregeln?«
»Seit du meine Chemiepartnerin bist. Während des Kurses gehörst du mir, den Rest der Zeit bist du sein Besitz.«
»Willst du nach deiner Keule suchen und mich an den Haaren in die Bibliothek zerren?«
»Ich bin kein Neandertaler. Dein Freund ist der Affenmensch, nicht ich.«
»Dann hör auf, dich wie einer zu benehmen.« Sämtliche Leseplätze in der Bibliothek sind belegt, sodass wir gezwungen sind, uns ein Plätzchen in der hintersten Ecke des Raumes zu suchen und uns dort in der Sachbuchabteilung auf den Teppichboden zu setzen. Ich lege meine Bücher ab und bemerke, dass Alex mich anstarrt. Beinahe so, als könne er die echte Brittany entdecken, wenn er nur lange genug hinsieht. Keine Chance – mein wahres Ich verberge ich vor jedem.
Ich starre zurück, weil dieses Spiel auch zwei spielen können. Oberflächlich betrachtet, ist er unverwundbar. Aber eine Narbe über seiner linken Braue verrät die Wahrheit … er ist auch nur ein Mensch. Unter seinem Shirt zeichnen sich Muskeln ab, wie man sie nur durch harte körperliche Arbeit oder regelmäßiges Training bekommt.
Als unsere Blicke sich treffen und wir einander tief in die Augen sehen, bleibt die Zeit stehen. Sein Blick ist forschend und ich könnte schwören, in diesem Moment sieht er doch mein wahres Ich. Ohne Glamour und ohne Fassade. Einfach nur Brittany.
»Was müsste ich tun, damit du mit mir ausgehst?«, fragt er.
»Das meinst du doch nicht ernst.«
»Sehe ich aus, als machte ich Witze?«
Mrs Peterson kommt zu uns und erspart mir netterweise eine Antwort. »Ich behalte euch zwei im Auge. Alex, wir haben dich letzte Woche vermisst. Was war los?«
»Sieht so aus, als sei ich auf ein Messer gefallen.«
Sie schüttelt ungläubig den Kopf, dann geht sie weiter, um andere Paare zu piesacken.
Ich sehe Alex mit großen Augen an. »Ein Messer? Das ist doch nicht dein Ernst, oder?«
»Doch. Ich habe damit eine Tomate geschnitten und stell dir vor, das Ding ist plötzlich durch die Luft geflogen und hat mir die Schulter aufgeschlitzt. Der Arzt hat mich zusammengetackert. Willst du mal sehen?«, fragt er und beginnt, seinen Ärmel hochzuziehen.
Ich lege meine Hand über die Augen. »Alex, das ist ekelhaft. Und ich glaube dir nicht eine Sekunde, dass dir das Messer aus der Hand geflogen ist. Das sind Kampfspuren.«
»Du hast meine Frage noch nicht beantwortet«, sagt er, ohne meine Theorie über seine Wunde zu bestätigen oder abzustreiten. »Was müsste ich tun, damit du mit mir ausgehst?«
»Nichts. Ich würde nicht mit dir ausgehen.«
»Ich wette, wenn wir ein bisschen rummachten, würdest du deine Meinung ändern.«
»Als ob das je passieren würde!«
»Dein Verlust.« Alex streckt seine langen Beine aus, das Chemiebuch liegt in seinem Schoß. Er sieht mich mit seinen schokoladenbraunen Augen an. Der Blick ist so intensiv, dass ich mir sicher bin, er könnte damit jemanden hypnotisieren. »Bist du so weit?«, fragt er.
Für eine Nanosekunde, in der ich diese dunklen Augen betrachte, frage ich mich, wie es wäre, Alex zu küssen. Mein Blick fällt auf seine Lippen. Für weniger als eine Nanosekunde meine ich zu spüren, wie sie näher kommen. Würden sie sich fest auf meinen anfühlen oder sanft? Lässt er sich Zeit beim Küssen oder sind seine Küsse so hungrig und fieberhaft wie der Rest seiner Persönlichkeit?
»Bereit wofür?«, flüstere ich und lehne mich zu ihm.
»Unsere Projektarbeit«, sagt er. »Handwärmer. Petersons Kurs. Chemie.«
Ich schüttle den Kopf, um all die lächerlichen Gedanken aus meinem hormongesteuerten Teeniehirn zu schleudern. Ich muss geistig umnachtet sein. »Ja genau, Handwärmer.« Ich öffne mein Chemiebuch.
»Brittany?«
»Was?«, erwidere ich, die Wörter auf der Buchseite anstarrend. Ich habe keinen Schimmer, was ich da gerade lese, denn das Ganze ist mir so peinlich, dass ich mich nicht konzentrieren kann.
»Du hast mich angesehen, als wolltest du mich küssen.«
Ich lache gezwungen. »Ja, klar«, sage ich sarkastisch.
»Keiner sieht uns zu, du könntest es also versuchen. Ich will ja nicht angeben, aber ich bin so was wie ein Experte auf dem Gebiet.«
Er schenkt mir ein laszives Lächeln, eins, das wahrscheinlich geschaffen wurde, um Mädchenherzen auf der ganzen Welt zum Schmelzen zu bringen.
»Alex, du bist nicht mein Typ.« Ich muss ihm kontra geben, damit er aufhört, mich anzusehen, als hätte er Dinge mit mir vor, die ich bisher nur vom Hörensagen kenne.
»Du stehst wohl nur auf weiße Typen?«
»Hör auf damit«, fauche ich ihn mit zusammengebissenen Zähnen an.
»Womit?«, fragt er und wird plötzlich ernst. »Es ist doch die Wahrheit, oder?«
Mrs Peterson ist mit einem Mal wieder bei uns. »Wie kommt ihr mit eurem Exposé zurecht?«, will sie wissen.
Ich setze ein künstliches Lächeln auf. »Fantastisch.« Unter dem strengen Blick von Mrs Peterson hole ich die Blätter mit den Recherchen aus der Tasche, die ich zu Hause gemacht habe. »Ich habe gestern Abend einiges über Handwärmer herausgefunden. Wir müssen eine Lösung von sechzig Gramm Natriumacetat und hundert Milliliter Wasser bei einundzwanzig Grad erhitzen.«
»Falsch«, sagt Alex.
Ich blicke hoch und merke, dass Mrs Peterson gegangen ist. »Wie bitte?«
Alex verschränkt die Arme vor der Brust. »Du liegst falsch.«
»Das glaube ich nicht.«
»Glaubst du etwa, du liegst nie daneben?«
Er sagt es, als sei ich eine kleine dumme Superblondine, was mein Blut erst richtig zum Kochen bringt. »Natürlich tue ich das«, sage ich. Ich lasse meine Stimme so hoch und atemlos klingen wie die eines echten Blondchens. »Erst letzte Woche habe ich zartrosa Lipgloss von Bobbi Brown gekauft, wo doch ein kräftiges Pink so viel besser zu meinem Teint gepasst hätte. Überflüssig zu erwähnen, dass dieser Kauf ein totaler Reinfall war.« Wahrscheinlich hat er erwartet, etwas in der Art aus meinem Mund kommen zu hören. Ich frage mich, ob er mir die Nummer abnimmt oder ob er meinen sarkastischen Unterton bemerkt hat.
»Darauf würde ich wetten«, sagt er.
»Und du? Hast du etwa noch nie falsch gelegen?«, frage ich ihn.
»Doch, selbstverständlich«, erwidert er. »Letzte Woche, als ich diese Bank neben dem Walgreens ausgeraubt habe, hab ich dem Mann hinter dem Schalter befohlen, alle Fünfziger rauszurücken, die er in der Kasse hatte. Dabei hätte ich mir lieber die Zwanziger geben lassen sollen, denn davon waren viel mehr da.«
Okay, er hat also mitbekommen, dass ich ihn verarscht habe. Und er hat den Ball mit seinem eigenen lächerlichen Szenario sofort zu mir zurückgespielt, was mich etwas durcheinanderbringt, da es heißt, dass wir einander auf irgendeine kranke Art und Weise doch ähnlich sind. Ich lege eine Hand auf die Brust und schnappe nach Luft, spiele das Spiel mit. »Was für eine Katastrophe.«
»Ich schätze also, wir können beide falsch liegen.«
Ich recke das Kinn in die Luft und verkünde eigensinnig: »Was Chemie angeht, liege ich richtig. Im Gegensatz zu dir nehme ich diesen Kurs nämlich ernst.«
»Dann lass uns wetten. Wenn ich recht habe, küsst du mich«, schlägt er vor.
»Und wenn ich recht habe?«
»Such dir was aus.«
Ich grinse. Das ist, als würde man einem Kind seine Süßigkeiten wegnehmen. Mr Machos Ego wird einen empfindlichen Dämpfer erleiden und ich bin nur allzu glücklich darüber, dass ich diejenige sein werde, die ihm diesen Dämpfer verpasst. »Wenn ich gewinne, wirst du mich und diese Arbeit ernst nehmen«, erkläre ich ihm. »Du nervst mich nicht mehr, du gibst keine blöden Kommentare mehr ab.«
»Einverstanden. Ich würde mir übrigens mies vorkommen, wenn ich dir nicht erzählen würde, dass ich ein fotografisches Gedächtnis besitze.«
»Alex, ich würde mich mies fühlen, wenn ich dir nicht sagen würde, dass ich die Infos direkt aus dem Buch abgeschrieben habe.« Ich blicke auf meine Rechercheergebnisse, dann schlage ich die entsprechende Seite in meinem Chemiebuch auf. »Ohne hinzugucken, auf welche Temperatur muss es heruntergekühlt werden?«, frage ich.
Alex ist ein Typ, der Herausforderungen liebt. Aber dieses Mal wird der harte Kerl verlieren. Er klappt sein eigenes Buch zu. Seine Miene drückt Entschlossenheit aus. »Minus sechs Komma sechs. Und die Lösung muss auf siebenunddreißig Grad erhitzt werden«, antwortet er selbstbewusst.
Ich scanne die Seite, dann meine Notizen. Dann wieder die Seite. Ich kann mich doch nicht dermaßen geirrt haben. Welche Seite habe ich … »Ach, tatsächlich. Siebenunddreißig Grad.« Ich sehe ihn fassungslos an. »Du hast recht.«
»Küsst du mich jetzt oder nachher?«
»Jetzt sofort«, erwidere ich, was ihn offensichtlich schockt, denn er erstarrt. Zu Hause wird mir mein Leben von Mom und Dad diktiert. In der Schule ist es etwas anderes. Und ich muss dafür sorgen, dass es so bleibt, denn wenn ich die Kontrolle über sämtliche Bereiche meines Lebens verliere, kann ich genauso gut Schaufensterpuppe werden.
»Echt?«, fragt er.
»Ja.« Ich nehme eine seiner Hände in meine. Ich wäre nie so forsch, wenn wir Zuschauer hätten, und ich bin dankbar für die Privatsphäre, die uns die Sachbücher gewähren. Seine Atmung verlangsamt sich, als ich mich hinknie und zu ihm beuge. Ich ignoriere die Tatsache, dass seine Finger lang und rau sind und ich ihn noch nie zuvor berührt habe. Ich bin nervös. Dabei gibt es dafür keinen Grund. Ich bin dieses Mal diejenige, die die Kontrolle hat.
Ich fühle, dass er sich zurückhält. Er lässt mich machen. Was gut ist. Ich habe Angst davor, was dieser Junge alles tun könnte, wenn er das Ruder übernähme.
Ich lege seine Hand an meine Wange, sodass sie mein Gesicht umfängt und höre ihn leise stöhnen. Ich unterdrücke ein Lächeln, denn seine Reaktion beweist, dass ich Macht über ihn habe.
Er hält vollkommen still, als unsere Blicke sich treffen.
Die Zeit steht wieder still.
Dann drehe ich den Kopf in seiner Hand und küsse die Innenseite seiner Hand.
»Bitte sehr, ich habe dich geküsst«, sage ich, lass seine Hand los und beende das Spiel.
Mr Latinlover mit dem Riesenego ist von einer kleinen dummen Superblondine reingelegt worden.
Du oder das ganze Leben
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