47
Brittany
»Paco, was machst du hier?« Die letzte Person, die ich vor meinem Haus erwartet hätte, ist Alex’ bester Freund.
»Ich muss mit dir reden.«
»Willst du reinkommen?«
»Bist du sicher, dass das okay ist?«, fragt er nervös.
»Selbstverständlich.« Nun ja, für meine Eltern ist es das wahrscheinlich nicht, aber für mich. Und es besteht leider keine Hoffnung, dass sie aus heiterem Himmel beschließen, Shelley doch nicht wegzuschicken. Ich bin es leid, zu tun als ob; ich bin es leid, Angst vor den Wutausbrüchen meiner Mutter zu haben. Das hier ist Alex’ bester Freund und er akzeptiert mich. Ich bin sicher, es war nicht einfach für ihn, hierher zu kommen. Ich öffne einladend die Tür und lasse Paco rein. Wenn er mich wegen Isabel ausfragt, was erzähle ich ihm dann? Sie hat mich schwören lassen, nichts weiterzusagen.
»Wer ist an der Tür, Brit?«
»Das ist Paco«, erkläre ich meiner Mutter. »Er ist ein Schulfreund von mir.«
»Das Essen steht auf dem Tisch«, verkündet meine Mutter mit dem nicht gerade subtilen Versuch, Paco loszuwerden. »Sag deinem Freund, dass es unhöflich ist, während der Essenszeiten vorbeizukommen.«
Ich sehe Paco fragend an. »Möchtest du mitessen?« Den Aufstand zu proben, fühlt sich großartig an. Befreiend.
Ich höre anhand ihrer Schritte, wie meine Mutter aufgebracht in die Küche stapft.
»Äh, nein, danke.« Paco unterdrückt ein Lachen. »Ich dachte, wir könnten vielleicht reden. Über Alex, du weißt schon.«
Ich weiß nicht, ob ich erleichtert darüber sein soll, dass er mich nicht nach Isabel fragt, oder beunruhigt, weil etwas Ernstes mit Alex sein muss, wenn Paco deswegen hierher gekommen ist.
Ich führe Paco durch das Haus ins Wohnzimmer, wo wir an Shelley vorbeikommen, die sich gerade ein paar Zeitschriften anguckt. »Shelley, das ist Paco. Er ist Alex’ Freund. Paco, das ist meine Schwester Shelley.«
Als sie Alex’ Namen hört, quietscht Shelley vergnügt auf.
»Hi, Shelley«, sagt Paco.
Shelley lächelt breit.
»Shelley-Maus, ich brauche deine Hilfe.« Als Antwort auf meine geflüsterten Worte nickt Shelly ruckartig. »Du musst Mom ablenken, während ich mit Paco rede.«
Shelley grinst und ich weiß, dass meine Schwester mir den Rücken freihalten wird.
Da steht mit einem Mal meine Mutter mitten im Zimmer. Mich und Paco ignoriert sie völlig, als sie Shelley in die Küche schiebt.
Nachdem sie weg ist, sehe ich Paco besorgt an und führe ihn lieber nach draußen, damit wir ungestört von lauschenden Müttern reden können. »Was ist los?«
»Alex braucht Hilfe. Er will nicht auf mich hören. Ein großer Drogendeal steht an und Alex ist der emero mero, der Typ, der die Fäden in der Hand hält.«
»Alex würde keinen Drogendeal machen. Das hat er mir versprochen.«
Der Ausdruck auf Pacos Gesicht verrät mir, dass er es besser weiß.
»Ich habe versucht, ihn zur Vernunft zu bringen«, erzählt Paco. »Dieses Ding ist keine kleine Nummer. Irgendetwas stimmt da nicht, Brittany. Hector zwingt Alex die Sache durchzuziehen und ich weiß bei Gott nicht, warum. Warum gerade Alex?«
»Was kann ich tun?«, frage ich entschlossen.
»Sag Alex, er muss aussteigen. Wenn jemand es schaffen kann, da rauszukommen, dann er.«
Es ihm sagen? Alex hasst es, wenn man ihm sagt, was er zu tun hat. Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, dass er sich darauf einlassen würde, einen Drogendeal durchzuziehen.
»Brittany, das Essen wird kalt!«, ruft jetzt meine Mutter durch das offene Küchenfenster. »Und dein Vater ist gerade nach Hause gekommen. Lass uns zur Abwechslung wenigstens einmal mit der ganzen Familie zu Abend essen.«
Das Scheppern von zerschlagenen Tellern lässt meine Mutter sich vom Fenster abwenden. Shelleys brillanter Schachzug, keine Frage.
Aber es ist eigentlich nicht Shelleys Aufgabe, mich davor zu bewahren, meinen Eltern reinen Wein einzuschenken. »Warte hier auf mich«, sage ich zu Paco. »Es sei denn, du willst Zeuge werden, wie der Familienfriede der Ellis-Family den Bach runtergeht.
Paco reibt sich die Hände. »Das wird sicher viel spannender als der ständige Zoff bei mir zu Hause.«
Mit Paco im Schlepptau marschiere ich in die Küche und gebe meinem Vater einen Kuss auf die Wange.
»Wer ist das?«, fragt Dad vorsichtig.
»Paco, das ist mein Vater. Dad, das ist Paco, ein Freund von mir.«
Paco sagt: »Hallo.« Mein Dad nickt. Meine Mom verzieht das Gesicht.
»Paco und ich müssen los.«
»Wohin?«, fragt Dad total verwirrt.
»Alex treffen.«
»Das wirst du nicht«, widerspricht meine Mutter.
Mein Vater sieht fragend von einem zum anderen. Noch ist er vollkommen ahnungslos. »Wer ist Alex?«
»Dieser andere mexikanische Junge, von dem ich dir erzählt habe«, sagt meine Mom gepresst. »Erinnerst du dich nicht?«
»Im Moment fällt es mir schwer, mich an irgendetwas zu erinnern, Patricia.«
Meine Mom steht auf, den Teller mit ihrem Essen in der Hand und pfeffert ihn in die Spüle. Das Essen fliegt durch die Gegend, als der Teller in mehrere Stücke zerspringt. »Wir haben dir alles gegeben, was man sich nur wünschen kann, Brittany«, sagt sie. »Ein neues Auto, Designerkleidung …«
Ich bin mit meiner Geduld am Ende. »Das ist dermaßen oberflächlich, Mom. Klar, in den Augen aller anderen seid ihr wahnsinnig erfolgreich, aber als Eltern habt ihr gründlich versagt. Ich gebe euch beiden ein C minus in Kindererziehung und ihr könnt euch glücklich schätzen, dass es nicht Mrs Peterson ist, die euch benotet, sonst wärt ihr nämlich durchgerasselt. Warum habt ihr solche Angst davor, der Welt zu zeigen, dass ihr die gleichen Probleme habt wie alle anderen auch?«
Ich bin gewaltig in Fahrt und kann mich nicht bremsen. »Passt auf, Alex braucht meine Hilfe. Eines der Dinge, die mich ausmachen, ist, dass ich für die Menschen da bin, die mir am Herzen liegen. Wenn euch das verletzt oder euch Angst macht, tut es mir leid«, sage ich.
Shelley macht eine Bewegung und wir drehen uns alle zu ihr. »Brittany«, kommt eine Computerstimme von dem PC am Rollstuhl meiner Schwester. Shelleys Finger drücken geschäftig auf die Tasten. »Gut gemacht.«
Ich schlinge meine Finger um die Hand meiner Schwester, bevor ich mich wieder meinen Eltern zuwende. »Wenn ihr mich für das, was ich bin, rausschmeißen oder enterben wollt, nur zu. Bringt es hinter euch.«
Ich habe ein für alle mal genug davon, Angst zu haben. Angst um Alex, um Shelley, um mich selbst. Es ist Zeit, mich meinen Ängsten zu stellen oder mein ganzes Leben wird von Trauer und Schuld beherrscht sein. Ich bin nicht perfekt. Es ist Zeit, dass das dem Rest der Welt ebenfalls klar wird. »Mom, ich werde mit der Sozialarbeiterin in der Schule reden.«
Meine Mutter verzieht angewidert das Gesicht. »Das ist idiotisch. Es wird für alle Zeit in deiner Schulakte stehen. Du brauchst keine Sozialberatung.«
»Doch, das tue ich.« Ich nehme all meinen Mut zusammen und füge hinzu: »Und ihr auch. Wir alle brauchen sie.«
»Hör mir gut zu, Brittany. Wenn du jetzt durch diese Tür gehst, brauchst du nicht wiederzukommen.«
»Du rebellierst gegen uns«, wirft mein Vater ein.
»Ich weiß, und es fühlt sich verdammt gut an!« Ich schnappe mir meine Handtasche. Sie ist alles, was ich habe, abgesehen von den Klamotten, die ich trage. Ich setze ein breites Lächeln auf und strecke Paco die Hand entgegen. »Können wir?«
Er nimmt sie in seine, ohne mit der Wimper zu zucken. »Jawohl.«
Als wir in seinem Auto sitzen, bemerkt er: »Du bist ganz schön hart im Nehmen. Ich hätte nie gedacht, dass du so kämpfen kannst.«
 
Paco fährt mit mir in den düstersten Teil von Fairfield. Nachdem wir angehalten haben und ausgestiegen sind, führt er mich zu einem Lagerhaus in einer verlassenen Hintergasse. Als wollte Mutter Natur uns warnen, ziehen drohende dunkle Wolken auf und ein eisiger Hauch umweht uns.
Ein stämmiger Kerl stellt sich uns in den Weg. »Wer ist die Schneebraut?«, will er wissen.
»Sie ist sauber«, versichert ihm Paco.
Der Kerl betrachtet mich prüfend von oben bis unten, bevor er die Tür öffnet. »Wenn sie anfängt rumzuschnüffeln, hältst du dafür den Kopf hin, Paco«, sagt er warnend.
Alles, was ich will, ist Alex von hier wegzuholen, weg von der Gefahr, die uns an diesem Ort von allen Seiten zu umgeben scheint. »Hey!«, ruft eine heisere Stimme in meine Richtung, »wenn du was brauchst, um dich gut zu fühlen, bin ich dein Mann, si
»Komm mit«, sagt Paco, nimmt meinen Arm und zieht mich mit sich geradeaus durch den Gang. Vom anderen Ende des Lagerhauses dringen Stimmen an mein Ohr … Alex’ Stimme.
»Lass mich allein zu ihm gehen«, sage ich.
»Das ist keine so gute Idee. Warte besser, bis Hector mit ihm fertig ist«, sagt Paco, aber ich höre nicht auf ihn.
Stattdessen gehe ich in die Richtung, aus der Alex’ Stimme kommt. Er redet mit zwei anderen Männern. Sie führen offensichtlich ein ernstes Gespräch. Einer der beiden zieht ein Blatt Papier hervor und gibt es Alex, der mich in genau dem Moment entdeckt.
Er sagt etwas zu dem Mann auf Spanisch, bevor er das Blatt zusammenfaltet und in die Tasche seiner Jeans steckt. Seine Stimme ist hart und unbewegt, genau wie sein Gesichtsausdruck. »Was zum Teufel machst du hier?«, herrscht er mich an.
»Ich wollte nur …«
Ich kann meinen Satz nicht beenden, denn Alex packt mich grob am Oberarm. »Du wirst auf der Stelle hier verschwinden. Wer hat es gewagt, dich herzubringen?«
Ich bin noch dabei, mir eine Antwort auf diese Frage einfallen zu lassen, als Paco aus der Dunkelheit auf uns zutritt.
»Alex, bitte. Paco hat mich vielleicht hergebracht, aber es war meine Idee.«
»Culero«, ruft Alex und lässt mich los, um sich Paco vorzuknöpfen.
»Ist das hier nicht deine Zukunft?«, fragt Paco. »Warum ist es dir peinlich, deiner novia dein zweites Zuhause zu zeigen?«
Alex’ Faust schnellt hervor und trifft Paco am Kinn, der daraufhin zu Boden geht. Ich renne zu ihm und werfe Alex über die Schulter einen scharfen Blick zu. »Ich glaube einfach nicht, dass du das getan hast!«, schreie ich. »Er ist dein bester Freund, Alex.«
»Ich will dich an diesem Ort nicht sehen!« Ein bisschen Blut läuft aus Pacos Mundwinkel. »Du hättest sie nicht herbringen dürfen«, wiederholt Alex, etwas ruhiger. »Sie gehört nicht hierher.«
»Genauso wenig wie du, Bruder«, sagt Paco leise. »Jetzt bring sie hier weg. Sie hat genug gesehen.«
»Komm mit«, befiehlt Alex mir und streckt die Hand aus.
Anstatt zu ihm zu gehen, nehme ich Pacos Gesicht in meine Hände und begutachte die Verletzung. »Mein Gott, du blutest ja«, sage ich und spüre, dass ich jeden Moment ausflippen werde. Blut allein reicht, dass mir übel wird. Blut und Gewalt in Kombination sind mehr als ich verkraften kann.
Paco wehrt meine Hand sanft ab. »Ich komm schon klar. Geh mit ihm mit.«
Eine Stimme tönt aus der Dunkelheit, sie spricht Spanisch mit Alex und Paco.
Die Autorität in der Stimme des Mannes lässt mich erzittern. Bis jetzt hatte ich keine Angst, aber nun habe ich definitiv welche. Es ist der Mann, der eben mit Alex gesprochen hat. Er trägt einen dunklen Anzug mit einem weißen Hemd darunter. Ich habe ihn auf der Hochzeit kurz gesehen. Sein rabenschwarzes Haar ist zurückgegelt und seine Haut dunkel. Ein Blick und ich weiß, es handelt sich um ein sehr mächtiges Gangmitglied. Zwei große, gemein aussehende Kerle stehen rechts und links neben ihm.
»Nada, Hector«, antworten Alex und Paco einstimmig.
»Schaff sie hier weg, Fuentes.«
Alex nimmt meine Hand und führt mich rasch aus dem Lagerhaus. Als wir endlich draußen sind, atme ich erleichtert auf.
Du oder das ganze Leben
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