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Alex
Oh, das ist gut. Peterson und Aguirre auf der
einen Seite von Aguirres Büro, Miss Perfecta und ihr
schwanzloser Freund auf der anderen … und ich stehe ganz allein da.
Niemand ist auf meiner Seite, so viel ist sicher.
Aguirre räuspert sich. »Alex, das ist das zweite
Mal in zwei Wochen, dass du in meinem Büro bist.«
Yep, nach Adam Riese hat er recht. Der Typ ist ein
Genie.
»Sir«, sage ich und spiele das Spiel mit, weil ich
es leid bin, dass Miss Perfecta und ihr Freund die ganze
beschissene Schule regieren. »Es gab ein kleines Missgeschick
während der Mittagspause, in dessen Folge etwas Fett meine Hose
verunzierte. Anstatt den Unterricht zu versäumen, habe ich einen
Freund losgeschickt, mir diesen Ersatz hier zu holen.« Ich zeige
auf die Jeans, die ich inzwischen anhabe. Paco hat es geschafft,
sie bei mir zu Hause abzugreifen. »Mrs Peterson«, fahre ich fort
und wende mich an meine Chemielehrerin, »ich konnte doch nicht
zulassen, dass ein kleiner Fleck mich von Ihrem brillanten
Unterricht fernhält.«
»Schmier mir keinen Honig ums Maul, Alex«, schnaubt
Peterson. »Deine Possen stehen mir bis hier.« Sie wedelt mit der
Hand über ihrem Kopf. Dann wendet sie sich Brittany und Colin zu.
Ich erwarte, dass Mrs P. sie jetzt ermutigen wird, mir alles in die
Schuhe schieben, doch da höre ich sie sagen: »Und meint ja nicht,
ihr zwei wäret auch nur einen Deut besser!«
Brittany scheint sprachlos ob dieser Rüge. Tja,
scheinbar macht es sehr viel mehr Spaß zuzusehen, wie Mrs P. mich
ungespitzt in den Boden rammt, als selbst das Opfer zu sein.
»Ich kann nicht seine Partnerin sein«, platzt Miss
Perfecta heraus.
Colin tritt einen Schritt vor. »Kann sie nicht bei
mir und Darlene mitmachen?«
Ich lächle fast, als Mrs P.s Augenbrauen sich so
weit heben, dass es aussieht, als würden sie unaufhaltsam ihre
Stirn hochwandern. »Und warum haltet ihr zwei euch für so
besonders, dass ihr meint, meine Unterrichtsmethoden in Frage
stellen zu können?«
Gib’s ihnen, Peterson!
»Nadine, ab hier übernehme ich«, sagt Aguirre zu
Mrs P. Dann zeigt er auf ein Bild unserer Schule, das in einem
Rahmen an der Wand hängt. Er lässt die beiden Northsider Mrs P.s
Frage erst gar nicht beantworten, sondern sagt: »Unser Motto an der
Fairfield High lautet Wissen erwächst aus Vielfältigkeit.
Falls ihr es je vergesst, es ist in die Steine am Haupteingang
gemeißelt. Das nächste Mal, wenn ihr daran vorbeigeht, nehmt euch
eine Minute, um darüber nachzudenken, was diese Worte bedeuten. Ihr
könnt sicher sein, als euer neuer Direktor ist es mein Ziel, jeden
Riss zu kitten, der dieses Motto in Frage stellt.«
Okay, also erwächst Wissen aus Vielfältigkeit. Aber
ich habe auch gesehen, dass Vielfältigkeit die Wurzel von Hass und
Ignoranz sein kann. Ich werde Aguirres rosigem Bild unseres Mottos
jedoch nicht widersprechen, weil ich anfange zu glauben, dass unser
Direktor tatsächlich hinter dem Schwachsinn steht, den er da
verzapft.
»Dr. Aguirre und ich sind uns einig, was das
betrifft. In Anbetracht dessen …« Peterson wirft mir einen
flammenden Blick zu. Einen, der so überzeugend ist, dass sie ihn
wahrscheinlich
vor dem Badezimmerspiegel geübt hat. »… hör du auf, Brittany
aufzustacheln.« Sie wirft den beiden am anderen Ende des Zimmers
einen gleichermaßen feurigen Blick zu. »Und Brittany, hör auf, dich
wie eine Diva aufzuführen. Und Colin … Ich weiß noch nicht mal, was
dich das Ganze angeht.«
»Ich bin mit ihr zusammen.«
»Ich würde es sehr begrüßen, wenn du eure
persönliche Beziehung außerhalb des Klassenzimmers lassen
würdest.«
»Aber …«, protestiert Colin.
Peterson schneidet ihm mit einer Handbewegung das
Wort ab. »Genug. Wir sind hier fertig, ihr seid entlassen.«
Colin schnappt sich die Hand der Diva und sie
stolzieren gemeinsam aus dem Raum.
Nachdem ich Aguirres Büro verlassen habe, fasst
Peterson mich am Ellbogen. »Alex?«
Ich bleibe stehen und sehe sie an. Ich sehe ihr in
die Augen, die voller Mitgefühl sind. Das bereitet mir
Magengrimmen. »Ja?«
»Ich durchschaue dich, weißt du.«
Ich muss dieses dämliche Mitgefühl aus ihrem
Gesicht wischen. Das letzte Mal, dass ein Lehrer mich so angesehen
hat, war in der ersten Klasse, direkt nachdem papá
erschossen wurde.
»Das Schuljahr ist erst zwei Wochen alt,
Nadine. Du solltest vielleicht besser einen Monat oder zwei
warten, bevor du eine Aussage wie diese triffst.«
Sie gluckst und sagt: »Ich unterrichte noch nicht
besonders lange, aber mir sind schon mehr Alex Fuentes’ begegnet,
als den meisten Lehrern in ihrem ganzen Leben.«
»Und ich hatte angenommen, ich sei etwas
Besonderes.« Ich presse meine Hände auf mein Herz. »Du hast mich
verletzt, Nadine.«
»Du willst etwas Besonderes sein, Alex? Brich die
Schule nicht ab und mach deinen Abschluss.«
»Das ist der Plan«, erzähle ich ihr, obwohl ich das
bisher noch nie jemandem gegenüber zugegeben habe. Ich weiß, dass
meine Mom möchte, dass ich den Abschluss mache, aber wir haben nie
darüber gesprochen. Und, um ehrlich zu sein, ich weiß nicht, ob sie
tatsächlich glaubt, dass ich es schaffe.
»Ich habe gehört, das sagen sie alle.« Sie öffnet
ihre Handtasche und zieht mein Bandana heraus. »Lass nicht zu, dass
das Leben, das du außerhalb der Schule führst, deine Zukunft
bestimmt«, sagt sie mit einem Mal sehr ernst.
Ich schiebe das Bandana in die Gesäßtasche meiner
Jeans. Sie hat nicht die geringste Ahnung, wie sehr das Leben, das
ich außerhalb der Schule führe, mit dem verwoben ist, das ich hier
drinnen führe. Ein roter Backsteinbau kann mich nicht von der
Außenwelt schützen. Himmel, ich könnte mich noch nicht einmal hier
verstecken, wenn ich es wollte. »Ich weiß schon, was Sie als
Nächstes sagen werden … wenn du je einen Freund brauchst, Alex, bin
ich für dich da.«
»Falsch, ich bin nicht dein Freund. Wenn ich es
wäre, wärst du kein Gangmitglied. Aber ich habe deine
Klausurergebnisse gesehen. Du bist ein cleverer Junge, der etwas
aus sich machen kann, wenn er die Schule ernst nimmt.«
Etwas aus sich machen. Das ist alles relativ, oder?
»Kann ich jetzt in den Unterricht zurück?«, frage ich, weil ich
darauf nichts zu erwidern weiß. Es ist anzunehmen, dass meine
Chemielehrerin und mein neuer Direx nicht auf meiner Seite sind …
aber ich bin nicht länger sicher, dass sie deshalb automatisch auf
der anderen stehen. Irgendwie bringt das sämtliche meiner Theorien
ins Wanken.
»Ja, geh zum Unterricht, Alex.«
Ich denke immer noch über das nach, was Peterson
gesagt
hat, als ich sie hinter mir herrufen höre: »Und wenn du mich noch
einmal Nadine nennst, darfst du dich über einen weiteren
Nachsitzzettel freuen und einen Essay zum Thema Respekt
verfassen. Denk dran, ich bin nicht dein Freund.«
Während ich den Gang entlanggehe, lächle ich in
mich hinein. Diese Frau setzt ihre blauen Nachsitzzettel und
Essaydrohungen wie scharfe Munition ein.