10
Alex
Oh, das ist gut. Peterson und Aguirre auf der einen Seite von Aguirres Büro, Miss Perfecta und ihr schwanzloser Freund auf der anderen … und ich stehe ganz allein da. Niemand ist auf meiner Seite, so viel ist sicher.
Aguirre räuspert sich. »Alex, das ist das zweite Mal in zwei Wochen, dass du in meinem Büro bist.«
Yep, nach Adam Riese hat er recht. Der Typ ist ein Genie.
»Sir«, sage ich und spiele das Spiel mit, weil ich es leid bin, dass Miss Perfecta und ihr Freund die ganze beschissene Schule regieren. »Es gab ein kleines Missgeschick während der Mittagspause, in dessen Folge etwas Fett meine Hose verunzierte. Anstatt den Unterricht zu versäumen, habe ich einen Freund losgeschickt, mir diesen Ersatz hier zu holen.« Ich zeige auf die Jeans, die ich inzwischen anhabe. Paco hat es geschafft, sie bei mir zu Hause abzugreifen. »Mrs Peterson«, fahre ich fort und wende mich an meine Chemielehrerin, »ich konnte doch nicht zulassen, dass ein kleiner Fleck mich von Ihrem brillanten Unterricht fernhält.«
»Schmier mir keinen Honig ums Maul, Alex«, schnaubt Peterson. »Deine Possen stehen mir bis hier.« Sie wedelt mit der Hand über ihrem Kopf. Dann wendet sie sich Brittany und Colin zu. Ich erwarte, dass Mrs P. sie jetzt ermutigen wird, mir alles in die Schuhe schieben, doch da höre ich sie sagen: »Und meint ja nicht, ihr zwei wäret auch nur einen Deut besser!«
Brittany scheint sprachlos ob dieser Rüge. Tja, scheinbar macht es sehr viel mehr Spaß zuzusehen, wie Mrs P. mich ungespitzt in den Boden rammt, als selbst das Opfer zu sein.
»Ich kann nicht seine Partnerin sein«, platzt Miss Perfecta heraus.
Colin tritt einen Schritt vor. »Kann sie nicht bei mir und Darlene mitmachen?«
Ich lächle fast, als Mrs P.s Augenbrauen sich so weit heben, dass es aussieht, als würden sie unaufhaltsam ihre Stirn hochwandern. »Und warum haltet ihr zwei euch für so besonders, dass ihr meint, meine Unterrichtsmethoden in Frage stellen zu können?«
Gib’s ihnen, Peterson!
»Nadine, ab hier übernehme ich«, sagt Aguirre zu Mrs P. Dann zeigt er auf ein Bild unserer Schule, das in einem Rahmen an der Wand hängt. Er lässt die beiden Northsider Mrs P.s Frage erst gar nicht beantworten, sondern sagt: »Unser Motto an der Fairfield High lautet Wissen erwächst aus Vielfältigkeit. Falls ihr es je vergesst, es ist in die Steine am Haupteingang gemeißelt. Das nächste Mal, wenn ihr daran vorbeigeht, nehmt euch eine Minute, um darüber nachzudenken, was diese Worte bedeuten. Ihr könnt sicher sein, als euer neuer Direktor ist es mein Ziel, jeden Riss zu kitten, der dieses Motto in Frage stellt.«
Okay, also erwächst Wissen aus Vielfältigkeit. Aber ich habe auch gesehen, dass Vielfältigkeit die Wurzel von Hass und Ignoranz sein kann. Ich werde Aguirres rosigem Bild unseres Mottos jedoch nicht widersprechen, weil ich anfange zu glauben, dass unser Direktor tatsächlich hinter dem Schwachsinn steht, den er da verzapft.
»Dr. Aguirre und ich sind uns einig, was das betrifft. In Anbetracht dessen …« Peterson wirft mir einen flammenden Blick zu. Einen, der so überzeugend ist, dass sie ihn wahrscheinlich vor dem Badezimmerspiegel geübt hat. »… hör du auf, Brittany aufzustacheln.« Sie wirft den beiden am anderen Ende des Zimmers einen gleichermaßen feurigen Blick zu. »Und Brittany, hör auf, dich wie eine Diva aufzuführen. Und Colin … Ich weiß noch nicht mal, was dich das Ganze angeht.«
»Ich bin mit ihr zusammen.«
»Ich würde es sehr begrüßen, wenn du eure persönliche Beziehung außerhalb des Klassenzimmers lassen würdest.«
»Aber …«, protestiert Colin.
Peterson schneidet ihm mit einer Handbewegung das Wort ab. »Genug. Wir sind hier fertig, ihr seid entlassen.«
Colin schnappt sich die Hand der Diva und sie stolzieren gemeinsam aus dem Raum.
Nachdem ich Aguirres Büro verlassen habe, fasst Peterson mich am Ellbogen. »Alex?«
Ich bleibe stehen und sehe sie an. Ich sehe ihr in die Augen, die voller Mitgefühl sind. Das bereitet mir Magengrimmen. »Ja?«
»Ich durchschaue dich, weißt du.«
Ich muss dieses dämliche Mitgefühl aus ihrem Gesicht wischen. Das letzte Mal, dass ein Lehrer mich so angesehen hat, war in der ersten Klasse, direkt nachdem papá erschossen wurde.
»Das Schuljahr ist erst zwei Wochen alt, Nadine. Du solltest vielleicht besser einen Monat oder zwei warten, bevor du eine Aussage wie diese triffst.«
Sie gluckst und sagt: »Ich unterrichte noch nicht besonders lange, aber mir sind schon mehr Alex Fuentes’ begegnet, als den meisten Lehrern in ihrem ganzen Leben.«
»Und ich hatte angenommen, ich sei etwas Besonderes.« Ich presse meine Hände auf mein Herz. »Du hast mich verletzt, Nadine.«
»Du willst etwas Besonderes sein, Alex? Brich die Schule nicht ab und mach deinen Abschluss.«
»Das ist der Plan«, erzähle ich ihr, obwohl ich das bisher noch nie jemandem gegenüber zugegeben habe. Ich weiß, dass meine Mom möchte, dass ich den Abschluss mache, aber wir haben nie darüber gesprochen. Und, um ehrlich zu sein, ich weiß nicht, ob sie tatsächlich glaubt, dass ich es schaffe.
»Ich habe gehört, das sagen sie alle.« Sie öffnet ihre Handtasche und zieht mein Bandana heraus. »Lass nicht zu, dass das Leben, das du außerhalb der Schule führst, deine Zukunft bestimmt«, sagt sie mit einem Mal sehr ernst.
Ich schiebe das Bandana in die Gesäßtasche meiner Jeans. Sie hat nicht die geringste Ahnung, wie sehr das Leben, das ich außerhalb der Schule führe, mit dem verwoben ist, das ich hier drinnen führe. Ein roter Backsteinbau kann mich nicht von der Außenwelt schützen. Himmel, ich könnte mich noch nicht einmal hier verstecken, wenn ich es wollte. »Ich weiß schon, was Sie als Nächstes sagen werden … wenn du je einen Freund brauchst, Alex, bin ich für dich da.«
»Falsch, ich bin nicht dein Freund. Wenn ich es wäre, wärst du kein Gangmitglied. Aber ich habe deine Klausurergebnisse gesehen. Du bist ein cleverer Junge, der etwas aus sich machen kann, wenn er die Schule ernst nimmt.«
Etwas aus sich machen. Das ist alles relativ, oder? »Kann ich jetzt in den Unterricht zurück?«, frage ich, weil ich darauf nichts zu erwidern weiß. Es ist anzunehmen, dass meine Chemielehrerin und mein neuer Direx nicht auf meiner Seite sind … aber ich bin nicht länger sicher, dass sie deshalb automatisch auf der anderen stehen. Irgendwie bringt das sämtliche meiner Theorien ins Wanken.
»Ja, geh zum Unterricht, Alex.«
Ich denke immer noch über das nach, was Peterson gesagt hat, als ich sie hinter mir herrufen höre: »Und wenn du mich noch einmal Nadine nennst, darfst du dich über einen weiteren Nachsitzzettel freuen und einen Essay zum Thema Respekt verfassen. Denk dran, ich bin nicht dein Freund.«
Während ich den Gang entlanggehe, lächle ich in mich hinein. Diese Frau setzt ihre blauen Nachsitzzettel und Essaydrohungen wie scharfe Munition ein.
Du oder das ganze Leben
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