18
Alex
Ich bin in dem Lagerhaus, wo die Latino-Blood-Gang
jede Nacht abhängt. Ich habe gerade meine zweite oder dritte
Zigarette geraucht – das Zählen habe ich aufgegeben.
»Trink ein Bier und hör auf, so deprimiert
auszusehen«, sagt Paco und wirft mir ein Corona zu. Ich habe ihm
erzählt, dass Brittany mich heute Morgen versetzt hat und seine
einzige Reaktion war ein Kopfschütteln, als wäre allein die Idee,
zu einem Mädchen auf die Northside zu fahren, vollkommen
abwegig.
Ich fange die Dose mit einer Hand aus der Luft,
werfe sie aber sofort wieder zurück. »Nein, danke.«
»¿Que tienes, ese? Ist das Zeug etwa nicht
gut genug für dich?« Das war Javier, der wahrscheinlich dämlichste
Bruder aller Zeiten. El büey hat seinen Alkoholkonsum kaum
besser unter Kontrolle als seinen Drogenkonsum, was bedeutet, so
gut wie gar nicht.
Ich fordere ihn heraus, ohne ein Wort zu
sagen.
»War nur’n Witz, Mann«, nuschelt ein betrunkener
Javier.
Niemand will sich mit mir anlegen. Während meines
ersten Jahres als Latino Blood habe ich mir in einem Kampf mit
einer rivalisierenden Gang meine Postition erstritten.
Als kleiner Junge habe ich gedacht, ich könnte die
Welt retten – oder zumindest meine Familie. Ich werde niemals
Mitglied einer Gang, habe ich mir gesagt, als ich alt genug war mir
die Frage zu stellen. Ich beschütze meine Familie mit meinen zwei
Händen. Auf der Southside von Fairfield bist du entweder in einer
Gang oder gegen sie. Damals habe ich von einer Zukunft geträumt. Es
waren illusorische Träume, die davon handelten, dass ich mich von
den Gangs fernhalten und trotzdem meine Familie beschützen könnte.
Aber diese Träume starben zusammen mit meiner Zukunft in der Nacht,
in der mein Vater vor meinen sechsjährigen Augen erschossen
wurde.
Als ich über seinem Körper stand, war alles, was
ich sehen konnte, dieser rote Fleck, der sich auf seinem T-Shirt
ausbreitete. Er erinnerte mich an den kleinen schwarzen Kreis im
Innern einer Zielscheibe, nur dass er immer weiterwuchs. Dann
keuchte mein Vater plötzlich und das war’s.
Mi papá war tot.
Ich habe ihn nicht berührt oder gehalten. Ich hatte
zu viel Angst. In den Tagen danach sprach ich kein Wort. Sogar, als
die Polizei mich befragte, brachte ich keinen Ton heraus. Sie
sagten, ich stünde unter Schock und mein Gehirn hätte noch keinen
Weg gefunden, zu verarbeiten, was passiert sei. Sie hatten recht.
Ich kann mich noch nicht mal daran erinnern, wie der Kerl aussah,
der ihn erschossen hat. Bis heute habe ich meinen Vater nicht
rächen können, obwohl ich die Schießerei jeden Abend aufs Neue in
meinem Kopf abspulen lasse. Ich versuche, die Puzzleteile
zusammenzusetzen. Wenn ich mich doch nur erinnern könnte, dann
müsste der Dreckskerl bezahlen.
Meine Erinnerung an den heutigen Tag ist dagegen
einwandfrei. Von Brittany versetzt, von ihrer Mutter wie Abschaum
behandelt … Dinge, die ich vergessen möchte, brennen sich
unauslöschlich in mein Hirn.
Paco stürzt das halbe Bier in einem Zug hinunter,
ohne sich darum zu scheren, dass es an seinen Mundwinkeln
entlangläuft
und auf sein Shirt tropft. Als Javier sich den anderen Jungs
zuwendet, sagt mein bester Freund zu mir: »Carmen hat dich total
kaputt gemacht, weißt du.«
»Was soll das denn heißen?«
»Du traust den Weibern nicht mehr. Brittany Ellis,
zum Beispiel …«
Ich fluche vor mich hin. »Paco, ich hab’s mir
anders überlegt, wirf mir das Corona rüber.« Nachdem ich das Bier
gefangen habe, leere ich es in einem Zug und schmettere die leere
Dose gegen die Wand.
»Du willst das nicht hören, Alex. Aber du wirst es
dir anhören müssen, egal ob du betrunken bist oder nicht. Deine
Knutschflecke produzierende, sexy Latina-Ex-Freundin mit dem losen
Mundwerk hat dich nach Strich und Faden betrogen. Deshalb rächst du
dich jetzt, indem du Brittany abzockst.«
Ich höre Paco widerwillig zu, während ich mir ein
weiteres Bier greife. »Du glaubst, die Wette ist ein
Racheakt?«
»Ja. Aber das Ganze wird gewaltig nach hinten
losgehen, weil du das Mädchen gernhast. Gib es zu.«
Ich will es aber nicht zugeben. »Ich will sie nur
wegen der Wette.«
Paco wird von Lachsalven geschüttelt. Er stolpert
und findet sich schließlich auf dem Boden des Lagerhauses wieder.
Mit dem Bier, das er noch immer in der Hand hält, zeigt er auf
mich. »Du, mein Freund, bist so gut darin, dich selbst zu belügen,
dass du schon anfängst, den Mist zu glauben, der aus deinem Mund
quillt. Diese beiden Bräute sind wie Tag und Nacht, Mann.«
Ich schnappe mir das nächste Bier. Während ich die
Dose öffne, denke ich über die Unterschiede zwischen Carmen und
Brittany nach. Carmen hat sexy mysteriöse, dunkle Augen. Brittany
hat unschuldig wirkende hellblaue Augen, durch die man
praktisch bis auf den Grund ihrer Seele blicken kann. Werden sie
auch so gucken, wenn wir Liebe machen?
Scheiße. Liebe machen? Was zum Teufel hat mich
geritten, an Brittany und Liebe in einem Atemzug zu denken? Ich
verliere ernsthaft den Verstand.
Die nächste halbe Stunde verbringe ich damit, so
viel Bier wie möglich in mich hineinzuschütten. Es fühlt sich gut
an, nicht an … gar nichts zu denken.
Eine weibliche Stimme durchdringt die Watte, die
mich umhüllt. »Fahren wir zum Feiern nach Danwood Beach?«, fragt
sie.
Ich starre in Schokoladenaugen. Auch wenn mein Hirn
benebelt ist und mein Kopf sich dreht, bin ich noch in der Lage zu
erkennen, dass Schokoladenbraun das Gegenteil von Blau ist. Ich
will kein Blau. Blau bringt mich zu sehr durcheinander.
Schokoladenbraun ist eine klare Sache, viel einfacher in den Griff
zu bekommen.
Irgendetwas stimmt an der Sache nicht, aber ich
kann nicht genau sagen, was. Und als die Lippen der Schokoladenlady
meine berühren, will ich nur noch alles Blaue aus meinem Gedächtnis
verbannen. Sogar, als ich mich daran erinnere, dass diese
Schokolade einen bitteren Nachgeschmack hat.
»Sí«, sage ich, nachdem meine Lippen sich
von ihren gelöst haben. »Lasst uns feiern gehen. ¡Vamos a
gozar!«
Eine Stunde später stehe ich bis zur Taille im
Wasser. Das löst den Wunsch in mir aus, ein Pirat zu sein, der auf
den einsamen Meeren der Welt zu Hause ist. Natürlich weiß ich
irgendwo in meinem benebelten Hinterkopf, dass ich gerade auf den
Lake Michigan hinausblicke und nicht auf einen Ozean. Aber ich
denke im Moment nicht klar und ein Pirat zu werden, scheint eine
verdammt gute Option zu sein. Keine Familie, keine Sorgen, niemand
mit blondem Haar und blauen Augen, der mich wütend ansieht.
Arme wie Tentakel schlingen sich um meinen Bauch.
»Woran denkst du, tesoro?«
»Ein Pirat zu werden«, murmle ich dem Oktopus zu,
der mich gerade seinen Schatz genannt hat.
Die Saugnäpfe des Oktopus küssen meinen Rücken und
suchen sich ihren Weg bis zu meinem Gesicht. Anstatt Angst zu
haben, fühle ich mich gut. Ich kenne diesen Oktopus, diese
Tentakeln.
»Du wirst ein Pirat und ich eine Meerjungfrau. Dann
kannst du mich retten.«
Irgendwie finde ich, dass ich derjenige bin, der
gerettet werden müsste, denn sie ertränkt mich mit ihren Küssen.
»Carmen«, sage ich zu dem braunäugigen Oktopus, der sich in eine
sexy Meerjungfrau verwandelt hat. Mit einem Mal wird mir bewusst,
dass ich betrunken bin, nackt, und bis zur Taille im Wasser des
Lake Michigan stehe.
»Schh, entspann dich und hab Spaß.«
Carmen kennt mich gut genug, um mir dabei zu
helfen, die Realität zu vergessen und mich lieber der Fantasie
hinzugeben. Ihre Hände und ihr Körper umschlingen mich. Im Wasser
fühlt sie sich schwerelos an. Meine Hände gleiten zu den Orten, an
denen sie zuvor bereits gewesen sind und mein Körper presst sich an
vertrautes Terrain, aber die Fantasien lassen auf sich warten. Und
als ich zurück zum Ufer blicke, erinnert mich der Lärm, den meine
Rowdyfreunde veranstalten, daran, dass wir Zuschauer haben. Meine
Oktopus-Meerjungfrau liebt das Publikum.
Ich aber nicht.
Ich nehme meine Meerjungfrau an der Hand und gehe
mit ihr zum Ufer zurück.
Die Kommentare meiner Freunde ignoriere ich und
weise meine Meerjungfrau an, sich anzuziehen, während ich meine
Jeans überstreife. Danach packe ich sie erneut an der Hand und
schlängle mich mit ihr durch die Menge, bis wir ein freies
Plätzchen bei unseren Freunden finden.
Ich lehne mich an einen großen Felsbrocken und
strecke die Beine aus. Meine Ex-Freundin setzt sich auf meinen
Schoß, als hätten wir nie Schluss gemacht und sie mich nie
betrogen. Ich fühle mich gefangen, in der Falle.
Sie nimmt einen Zug von etwas Stärkerem als einer
Zigarette und reicht es an mich weiter. Ich blicke auf einen
schmalen, selbst gedrehten Joint.
»Der ist nicht aufgepeppt, oder?«, frage ich. Ich
bin breit genug, das Letzte, was ich jetzt gebrauchen kann, sind
harte Drogen in meinem Körper, der schon mit Bier und Marihuana
zugedröhnt ist. Mein Ziel ist, abzuschalten, nicht, die Radieschen
von unten zu sehen.
Sie setzt ihn an meine Lippen. »Es ist reines
Acapulco-Gold, tesoro.«
Vielleicht wird es meine Erinnerung ein für alle
Mal auslöschen und mich Schießereien und Ex-Freundinnen und Wetten,
die sich darum drehen, heißen Sex mit ausgerechnet dem Mädchen zu
haben, das mich für den Abschaum des Planenten hält, vergessen
lassen.
Ich nehme den Joint aus ihrer Hand und
inhaliere.
Die Hände meiner Meerjungfrau wandern meinen
Brustkorb hoch. »Ich kann dich glücklich machen, Alex«, flüstert
sie. Sie ist so nah, dass ich den Alkohol und das Gras in ihrem
Atem riechen kann. Vielleicht ist es aber auch mein Atem, ich bin
nicht sicher.
»Gib mir noch eine Chance.«
Zugedröhnt und besoffen zu sein führt dazu,
dass ich völlig durcheinander bin. Und als in meinem Kopf das Bild
von Brittany und Colin Gestalt annimmt, wie sie gestern Arm in Arm
durch die Schule marschiert sind, ziehe ich Carmens Körper näher
zu mir heran.
Ich brauche kein Mädchen wie Brittany.
Ich brauche die heiße, feurige Carmen, meine
verlogene kleine Meerjungfrau.