2
Alex
»Alex, steh auf.«
Ich knurre meinen kleinen Bruder an und vergrabe meinen Kopf unter dem Kissen. Wenn man sein Zimmer mit einem Elf-und einem Fünfzehnjährigen teilt, ist so ein kleines Stück Stoff alles, was man an Privatsphäre hat.
»Lass mich in Ruhe, Luis«, schnauze ich ihn durch das Kissen an. »No estés chingando
»Das ist kein Scheiß. Mamá hat gesagt, ich soll dich wecken, damit du nicht zu spät zur Schule kommst.«
Mein letztes Jahr. Ich sollte stolz darauf sein, als erstes Mitglied der Fuentes-Familie die Highschool abzuschließen. Aber nach dem Abschluss erwartet mich die knallharte Realität. Von der Uni kann ich nur träumen – für mich ist die Abschlussklasse so was wie die Ausstandsparty eines Fünfundsechzigjährigen, der in Rente geht. Du könntest noch ein paar Jahre, aber alle erwarten von dir, dass du endlich Leine ziehst.
»Ich hab meine neuen Sachen an«, dringt Luis’ Stimme stolz, wenn auch gedämpft, durch das Kissen. »Die nenas werden einem Latino-Hengst wie mir nicht widerstehen können.«
»Schön für dich«, grummle ich.
»Mamá hat gesagt, ich soll diesen Wasserkrug hier über dir auskippen, wenn du nicht aufstehst.«
Ist der Wunsch nach ein bisschen Privatsphäre etwa zuviel verlangt? Ich nehme mein Kopfkissen und schleudere es quer durch den Raum. Volltreffer! Das Wasser durchnässt ihn von oben bis unten.
»Culero!«, kreischt er mich an. »Das waren die einzigen neuen Klamotten, die ich hatte.«
Eine Lachsalve ertönt von der Schlafzimmertür, Carlos, mein anderer Bruder, bellt wie eine verdammte Hyäne. Zumindest so lange, bis Luis ihn anspringt. Ich beobachte, wie der Kampf allmählich außer Kontrolle gerät, während meine kleinen Brüder sich gegenseitig schlagen und treten.
Sie kämpfen nicht schlecht, denke ich stolz und sehe ihnen dabei zu, wie sie ihre Prügelei austragen. Doch als ältester Mann im Haus ist es meine Pflicht, die Streithähne zu trennen. Ich packe Carlos am Kragen, stolpere aber gleichzeitig über Luis’ Bein und gehe mit den beiden zu Boden.
Bevor ich mich wieder aufrappeln kann, ergießt sich ein Schwall eiskalten Wassers über meinen Rücken. Eine blitzschnelle Drehung verrät mir, dass mi’amá uns alle durchtränkt hat – ihre ausgestreckte Faust hält noch immer den Eimer über uns. Sie trägt bereits ihre Arbeitsuniform. Mamá arbeitet als Verkäuferin in einem Supermarkt, ein paar Blocks von hier. Man verdient sich keine goldene Nase damit, aber wir brauchen auch nicht viel.
»Steht auf«, befiehlt sie uns wutschnaubend.
»Scheiße, Ma«, sagt Carlos, der schon wieder steht.
Mi’amá steckt ihren Finger in die eiskalte Pfütze, die noch in dem Eimer ist und schnippst etwas Wasser in Carlos’ Gesicht.
Luis lacht und bevor er weiß, wie ihm geschieht, bekommt auch er etwas Eiswasser ab. Werden sie es denn nie lernen?
»Willst du dich weiter danebenbenehmen, Luis?«, fragt mamá.
»Nein, Ma’am«, erwidert Luis und steht stramm wie ein kleiner Soldat.
»Und was ist mit dir, Carlos? Möchtest du noch mehr schmutzige Wörter loswerden?« Sie tippt zur Warnung mit ihrer Hand in das Eiswasser.
»Nein Ma’am«, entgegnet auch Soldat Nummer zwei.
»Und du, Alejandro?« Ihre Augen verengen sich zu schmalen Schlitzen, als sie ihre Aufmerksamkeit auf mich konzentriert.
»Was? Ich habe versucht, das Ganze zu beenden«, sage ich, als sei ich mir keiner Schuld bewusst, und schenke ihr mein unwiderstehlichstes Lächeln.
Sie schnippst auch in mein Gesicht etwas Wasser. »Das ist dafür, dass du nicht früher eingegriffen hast. Jetzt zieht euch an, alle miteinander, und frühstückt noch schnell, bevor ihr in die Schule müsst.«
Soviel zu meinem unwiderstehlichen Lächeln. »Du weißt, du liebst uns«, rufe ich ihr hinterher, als sie aus dem Zimmer geht.
Nach einem kurzen Sprung unter die Dusche kehre ich mit einem Handtuch um die Hüften in unser Schlafzimmer zurück und erwische Luis mit einem meiner Bandanas auf dem Kopf. Meine Kehle schnürt sich zu, ich reiße ihm das Teil vom Schädel. »Lass ja die Hände davon, Luis.«
»Warum?«, fragt er mich mit weit aufgerissenen braunen Unschuldsaugen.
Für Luis ist es nur ein Kopftuch. Für mich ist es ein Symbol all dessen, was ich bin – oder noch schlimmer, was ich nie sein werde. Doch wie um alles in der Welt soll ich das einem Elfjährigen erklären? Es ist kein Geheimnis, dass mein Bandana die Erkennungsfarben der Latino Blood ziert. Offene Rechnungen und das Verlangen nach Rache haben mich zu einem Gangmitglied werden lassen und jetzt gibt es kein zurück. Aber bevor ich zulasse, dass meine Brüder in die Sache reingezogen werden, sterbe ich lieber.
Ich knülle das Bandana in meiner Faust zusammen. »Luis, lass einfach mein Zeug in Ruhe. Vor allem meine Latino-Blood-Sachen.«
»Ich mag Rot und Schwarz.«
Das ist das Letzte, was ich in diesem Moment hören will. »Wenn ich dich noch mal damit erwische, wird deine Haut in den Trendfarben Grün und Blau schillern«, lasse ich ihn wissen. »Kapiert, kleiner Bruder?«
Er zuckt mit den Schultern. »Ja klar, schon kapiert.«
Während er den Raum mit federnden Schritten verlässt, frage ich mich, ob er es tatsächlich gecheckt hat. Aber ich versuche, nicht zu sehr darüber nachzugrübeln, greife mir ein schwarzes T-Shirt aus der Kommode und schlüpfe in meine abgetragene, verwaschene Jeans. Ich binde mir gerade das Bandana um den Kopf, als ich die erzürnte Stimme meiner mamá aus der Küche rufen höre.
»Alejandro, komm essen, bevor alles kalt wird. De prisa, beeil dich.«
»Bin gleich da«, rufe ich zurück. Ich werde nie verstehen, warum die Mahlzeiten eine so wichtige Rolle für sie spielen.
Meine Brüder kauen bereits emsig ihr Frühstück, als ich in die Küche komme. Ich öffne den Kühlschrank und lasse meinen Blick über den Inhalt schweifen.
»Setz dich.«
»Ma, ich schnappe mir bloß …«
»Du schnappst dir gar nichts, Alejandro. Setz dich. Wir sind eine Familie und werden auch wie eine essen. Gemeinsam.«
Ich seufze, schließe die Kühlschranktür und setze mich neben Carlos. Es hat seine Nachteile, einer Familie anzugehören, die wie Pech und Schwefel zusammenhält. Mi’amá stellt einen Teller vor meine Nase, auf dem sich huevos und tortillas türmen.
»Warum sagst du nicht Alex zu mir, so wie alle anderen?«, frage ich mit gesenktem Kopf und starre auf das Essen vor mir.
»Wenn ich gewollt hätte, dass du Alex heißt, hätte ich mir nicht die Mühe gemacht, den Namen Alejandro für dich auszusuchen. Magst du deinen Namen denn nicht?«
Jeder Muskel in meinem Körper erstarrt. Ich wurde nach meinem Vater benannt, der nicht mehr am Leben ist, und der mir damit die Verantwortung aufgebürdet hat, der Mann im Haus zu sein. Alejandro, Alejandro jr., Junior – für mich ist es alles dasselbe.
»Und wenn es so wäre? Würde das etwas ändern?«, murmle ich und nehme mir eine Tortilla. Ich blicke auf, weil ich auf ihre Reaktion gespannt bin.
Sie hat mir den Rücken zugekehrt und wäscht Teller in der Spüle ab. »Nein.«
»Alex will doch bloß ein Weißer sein«, mischt sich Carlos ein. »Du kannst deinen Namen ändern, Brüderchen, aber es würde keinem einfallen, dich für etwas anderes zu halten als einen Mexicano
»Carlos, cállate la boca«, warne ich ihn. »Ich möchte nicht weiß sein. Ich will nur nicht für unseren Vater gehalten werden.
»Por favor, ihr zwei«, bittet uns meine Mutter. »Genug gestritten für heute.«
»Mojado«, singt Carlos. Er stachelt mich an, indem er mich einen Waschlappen nennt.
Ich habe genug von Carlos’ Großmaul, er ist zu weit gegangen. Mein Stuhl schrammt über den Boden, als ich abrupt aufstehe. Carlos tut es mir gleich und stellt sich provozierend dicht vor mich. Er weiß, dass ich ihm locker den Arsch versohlen könnte. Sein überdimensioniertes Ego wird ihn eines Tages in ernste Schwierigkeiten bringen, wenn er sich mit der falschen Person anlegt.
»Carlos, setz dich«, befiehlt mi’amá.
»Kleiner, dreckiger Mexikaner«, stichelt Carlos mit einem gestellten, starken Akzent. »Oder noch besser, es un Ganguero
»Carlos!«, ruft ihn mi’amá scharf zur Ordnung und macht einen Schritt auf ihn zu, aber ich bin schneller und packe meinen Bruder am Kragen.
»Ja, das ist alles, was die Leute je über mich denken werden«, sage ich zu ihm. »Und wenn du weiter so einen Müll erzählst, denken sie das bald auch von dir.«
»Brüderchen, das tun sie doch sowieso schon. Ob ich es nun will oder nicht.«
Ich lasse ihn los. »Da liegst du falsch, Carlos. Du könntest es schaffen, etwas aus dir zu machen, und ein anständiges Leben führen.«
»Ein anständigeres als du?«
»Ja, ein anständigeres als ich und das weißt du auch«, erwidere ich. »Jetzt entschuldige dich bei mamá dafür, dass du in ihrer Gegenwart so einen Mist erzählt hast.«
Ein Blick in mein Gesicht verrät Carlos, dass ich es verdammt ernst meine. »Tut mir leid, Ma«, sagt er. Dann setzt er sich wieder hin. Sein erboster Blick entgeht mir keineswegs, sein Ego hat offenbar einen Kratzer abbekommen.
Mi’amá wendet sich ab, um ihre Tränen zu verbergen, und öffnet den Kühlschrank. Verdammt, sie macht sich Sorgen um Carlos. Er kommt bald in die Senior High und die nächsten beiden Jahre werden darüber entscheiden, ob etwas aus ihm wird oder nicht.
Ich ziehe meine schwarze Lederjacke über – ich muss hier raus! Von mi’amá verabschiede ich mich mit einem Kuss auf die Wange und entschuldige mich dafür, ihr das Frühstück ruiniert zu haben. Auf dem Weg nach draußen frage ich mich, wie ich Carlos und Luis davon abhalten kann, sich so in die Scheiße zu reiten wie ich. Wie soll ich sie dazu bringen, es anders zu machen? Besser? Bei dem Beispiel, das ich ihnen gebe!
Auf der Straße grüßen mich ein paar Jungs, die die gleichen Bandanafarben wie ich tragen, mit dem Latino-Blood-Zeichen: Die rechte Hand tippt mit gekrümmtem Ringfinger zweimal auf den linken Arm. Das Adrenalin schießt durch meinen Körper, als ich den Gruß erwidere. Dann werfe ich mein Motorrad an. Wenn sie unbedingt ein brutales Gangmitglied sehen wollen, sollen sie eins bekommen. Manchmal bin ich selbst überrascht, wie gut mir das gelingt.
»Alex, warte«, ruft eine vertraute weibliche Stimme.
Carmen Sanchez, meine Nachbarin und Ex-Freundin, rennt auf mich zu.
»Hey, Carmen«, brumme ich.
»Nimmst du mich mit zur Schule?«
Ihr kurzer schwarzer Rock bedeckt nur einen Bruchteil ihrer unglaublichen Beine und ihr T-Shirt sitzt so eng, dass es ihre kleinen aber festen chichis betont. Früher hätte ich alles für sie getan, aber das war, bevor ich sie mit einem anderen im Bett erwischt habe. In einem Auto, um genau zu sein. Und zwar diesen Sommer.
»Komm schon, Alex. Ich verspreche auch, nicht zu beißen … außer du bittest mich darum.«
Carmen ist meine Latino-Blood-Schwester. Ob wir ein Paar sind oder nicht, spielt keine Rolle, wir können uns trotzdem aufeinander verlassen. Das ist das Gesetz, nach dem wir leben. »Steig auf«, sage ich.
Carmen schwingt sich auf mein Motorrad und platziert selbstbewusst ihre Hände auf meinen Hüften, während sie sich gleichzeitig an meinen Rücken schmiegt. Es zeigt nicht die Wirkung, die sie sich anscheinend erhofft hat. Was glaubt sie denn? Dass ich die Vergangenheit so einfach vergesse? Auf keinen Fall. Meine Vergangenheit macht mich zu dem, der ich bin.
Ich versuche, mich ganz auf mein letztes Jahr an der Fairfield zu konzentrieren, auf das Hier und Jetzt. Das ist verdammt schwer, denn auf mich wartet nach dem Abschluss eine Zukunft, die genauso verkorkst ist wie meine Vergangenheit.
Du oder das ganze Leben
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