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Alex
»Alex, steh auf.«
Ich knurre meinen kleinen Bruder an und vergrabe
meinen Kopf unter dem Kissen. Wenn man sein Zimmer mit einem
Elf-und einem Fünfzehnjährigen teilt, ist so ein kleines Stück
Stoff alles, was man an Privatsphäre hat.
»Lass mich in Ruhe, Luis«, schnauze ich ihn durch
das Kissen an. »No estés chingando.«
»Das ist kein Scheiß. Mamá hat gesagt, ich
soll dich wecken, damit du nicht zu spät zur Schule kommst.«
Mein letztes Jahr. Ich sollte stolz darauf sein,
als erstes Mitglied der Fuentes-Familie die Highschool
abzuschließen. Aber nach dem Abschluss erwartet mich die knallharte
Realität. Von der Uni kann ich nur träumen – für mich ist die
Abschlussklasse so was wie die Ausstandsparty eines
Fünfundsechzigjährigen, der in Rente geht. Du könntest noch ein
paar Jahre, aber alle erwarten von dir, dass du endlich Leine
ziehst.
»Ich hab meine neuen Sachen an«, dringt Luis’
Stimme stolz, wenn auch gedämpft, durch das Kissen. »Die
nenas werden einem Latino-Hengst wie mir nicht widerstehen
können.«
»Schön für dich«, grummle ich.
»Mamá hat gesagt, ich soll diesen Wasserkrug
hier über dir auskippen, wenn du nicht aufstehst.«
Ist der Wunsch nach ein bisschen Privatsphäre etwa
zuviel
verlangt? Ich nehme mein Kopfkissen und schleudere es quer durch
den Raum. Volltreffer! Das Wasser durchnässt ihn von oben bis
unten.
»Culero!«, kreischt er mich an. »Das waren
die einzigen neuen Klamotten, die ich hatte.«
Eine Lachsalve ertönt von der Schlafzimmertür,
Carlos, mein anderer Bruder, bellt wie eine verdammte Hyäne.
Zumindest so lange, bis Luis ihn anspringt. Ich beobachte, wie der
Kampf allmählich außer Kontrolle gerät, während meine kleinen
Brüder sich gegenseitig schlagen und treten.
Sie kämpfen nicht schlecht, denke ich stolz und
sehe ihnen dabei zu, wie sie ihre Prügelei austragen. Doch als
ältester Mann im Haus ist es meine Pflicht, die Streithähne zu
trennen. Ich packe Carlos am Kragen, stolpere aber gleichzeitig
über Luis’ Bein und gehe mit den beiden zu Boden.
Bevor ich mich wieder aufrappeln kann, ergießt sich
ein Schwall eiskalten Wassers über meinen Rücken. Eine
blitzschnelle Drehung verrät mir, dass mi’amá uns alle
durchtränkt hat – ihre ausgestreckte Faust hält noch immer den
Eimer über uns. Sie trägt bereits ihre Arbeitsuniform. Mamá
arbeitet als Verkäuferin in einem Supermarkt, ein paar Blocks von
hier. Man verdient sich keine goldene Nase damit, aber wir brauchen
auch nicht viel.
»Steht auf«, befiehlt sie uns wutschnaubend.
»Scheiße, Ma«, sagt Carlos, der schon wieder
steht.
Mi’amá steckt ihren Finger in die eiskalte
Pfütze, die noch in dem Eimer ist und schnippst etwas Wasser in
Carlos’ Gesicht.
Luis lacht und bevor er weiß, wie ihm geschieht,
bekommt auch er etwas Eiswasser ab. Werden sie es denn nie
lernen?
»Willst du dich weiter danebenbenehmen, Luis?«,
fragt mamá.
»Nein, Ma’am«, erwidert Luis und steht stramm wie
ein kleiner Soldat.
»Und was ist mit dir, Carlos? Möchtest du noch mehr
schmutzige Wörter loswerden?« Sie tippt zur Warnung mit ihrer Hand
in das Eiswasser.
»Nein Ma’am«, entgegnet auch Soldat Nummer
zwei.
»Und du, Alejandro?« Ihre Augen verengen sich zu
schmalen Schlitzen, als sie ihre Aufmerksamkeit auf mich
konzentriert.
»Was? Ich habe versucht, das Ganze zu beenden«,
sage ich, als sei ich mir keiner Schuld bewusst, und schenke ihr
mein unwiderstehlichstes Lächeln.
Sie schnippst auch in mein Gesicht etwas Wasser.
»Das ist dafür, dass du nicht früher eingegriffen hast. Jetzt zieht
euch an, alle miteinander, und frühstückt noch schnell, bevor ihr
in die Schule müsst.«
Soviel zu meinem unwiderstehlichen Lächeln. »Du
weißt, du liebst uns«, rufe ich ihr hinterher, als sie aus dem
Zimmer geht.
Nach einem kurzen Sprung unter die Dusche kehre ich
mit einem Handtuch um die Hüften in unser Schlafzimmer zurück und
erwische Luis mit einem meiner Bandanas auf dem Kopf. Meine Kehle
schnürt sich zu, ich reiße ihm das Teil vom Schädel. »Lass ja die
Hände davon, Luis.«
»Warum?«, fragt er mich mit weit aufgerissenen
braunen Unschuldsaugen.
Für Luis ist es nur ein Kopftuch. Für mich ist es
ein Symbol all dessen, was ich bin – oder noch schlimmer, was ich
nie sein werde. Doch wie um alles in der Welt soll ich das einem
Elfjährigen erklären? Es ist kein Geheimnis, dass mein Bandana die
Erkennungsfarben der Latino Blood ziert. Offene Rechnungen und das
Verlangen nach Rache haben mich zu einem Gangmitglied werden lassen
und jetzt gibt es kein zurück. Aber bevor ich zulasse, dass meine
Brüder in die Sache reingezogen werden, sterbe ich lieber.
Ich knülle das Bandana in meiner Faust zusammen.
»Luis, lass einfach mein Zeug in Ruhe. Vor allem meine
Latino-Blood-Sachen.«
»Ich mag Rot und Schwarz.«
Das ist das Letzte, was ich in diesem Moment hören
will. »Wenn ich dich noch mal damit erwische, wird deine Haut in
den Trendfarben Grün und Blau schillern«, lasse ich ihn wissen.
»Kapiert, kleiner Bruder?«
Er zuckt mit den Schultern. »Ja klar, schon
kapiert.«
Während er den Raum mit federnden Schritten
verlässt, frage ich mich, ob er es tatsächlich gecheckt hat. Aber
ich versuche, nicht zu sehr darüber nachzugrübeln, greife mir ein
schwarzes T-Shirt aus der Kommode und schlüpfe in meine
abgetragene, verwaschene Jeans. Ich binde mir gerade das Bandana um
den Kopf, als ich die erzürnte Stimme meiner mamá aus der
Küche rufen höre.
»Alejandro, komm essen, bevor alles kalt wird.
De prisa, beeil dich.«
»Bin gleich da«, rufe ich zurück. Ich werde nie
verstehen, warum die Mahlzeiten eine so wichtige Rolle für sie
spielen.
Meine Brüder kauen bereits emsig ihr Frühstück, als
ich in die Küche komme. Ich öffne den Kühlschrank und lasse meinen
Blick über den Inhalt schweifen.
»Setz dich.«
»Ma, ich schnappe mir bloß …«
»Du schnappst dir gar nichts, Alejandro. Setz dich.
Wir sind eine Familie und werden auch wie eine essen.
Gemeinsam.«
Ich seufze, schließe die Kühlschranktür und setze
mich neben Carlos. Es hat seine Nachteile, einer Familie
anzugehören, die wie Pech und Schwefel zusammenhält. Mi’amá
stellt einen Teller vor meine Nase, auf dem sich huevos und
tortillas türmen.
»Warum sagst du nicht Alex zu mir, so wie alle
anderen?«, frage ich mit gesenktem Kopf und starre auf das Essen
vor mir.
»Wenn ich gewollt hätte, dass du Alex heißt, hätte
ich mir nicht die Mühe gemacht, den Namen Alejandro für dich
auszusuchen. Magst du deinen Namen denn nicht?«
Jeder Muskel in meinem Körper erstarrt. Ich wurde
nach meinem Vater benannt, der nicht mehr am Leben ist, und der mir
damit die Verantwortung aufgebürdet hat, der Mann im Haus zu sein.
Alejandro, Alejandro jr., Junior – für mich ist es alles
dasselbe.
»Und wenn es so wäre? Würde das etwas ändern?«,
murmle ich und nehme mir eine Tortilla. Ich blicke auf, weil ich
auf ihre Reaktion gespannt bin.
Sie hat mir den Rücken zugekehrt und wäscht Teller
in der Spüle ab. »Nein.«
»Alex will doch bloß ein Weißer sein«, mischt sich
Carlos ein. »Du kannst deinen Namen ändern, Brüderchen, aber es
würde keinem einfallen, dich für etwas anderes zu halten als einen
Mexicano.«
»Carlos, cállate la boca«, warne ich ihn.
»Ich möchte nicht weiß sein. Ich will nur nicht für unseren Vater
gehalten werden.
»Por favor, ihr zwei«, bittet uns meine
Mutter. »Genug gestritten für heute.«
»Mojado«, singt Carlos. Er stachelt mich an,
indem er mich einen Waschlappen nennt.
Ich habe genug von Carlos’ Großmaul, er ist zu weit
gegangen. Mein Stuhl schrammt über den Boden, als ich abrupt
aufstehe. Carlos tut es mir gleich und stellt sich provozierend
dicht vor mich. Er weiß, dass ich ihm locker den Arsch versohlen
könnte. Sein überdimensioniertes Ego wird ihn eines Tages in ernste
Schwierigkeiten bringen, wenn er sich mit der falschen Person
anlegt.
»Carlos, setz dich«, befiehlt mi’amá.
»Kleiner, dreckiger Mexikaner«, stichelt Carlos mit
einem gestellten, starken Akzent. »Oder noch besser, es un
Ganguero.«
»Carlos!«, ruft ihn mi’amá scharf zur
Ordnung und macht einen Schritt auf ihn zu, aber ich bin schneller
und packe meinen Bruder am Kragen.
»Ja, das ist alles, was die Leute je über mich
denken werden«, sage ich zu ihm. »Und wenn du weiter so einen Müll
erzählst, denken sie das bald auch von dir.«
»Brüderchen, das tun sie doch sowieso schon. Ob ich
es nun will oder nicht.«
Ich lasse ihn los. »Da liegst du falsch, Carlos.
Du könntest es schaffen, etwas aus dir zu machen, und ein
anständiges Leben führen.«
»Ein anständigeres als du?«
»Ja, ein anständigeres als ich und das weißt du
auch«, erwidere ich. »Jetzt entschuldige dich bei mamá
dafür, dass du in ihrer Gegenwart so einen Mist erzählt
hast.«
Ein Blick in mein Gesicht verrät Carlos, dass ich
es verdammt ernst meine. »Tut mir leid, Ma«, sagt er. Dann setzt er
sich wieder hin. Sein erboster Blick entgeht mir keineswegs, sein
Ego hat offenbar einen Kratzer abbekommen.
Mi’amá wendet sich ab, um ihre Tränen zu
verbergen, und öffnet den Kühlschrank. Verdammt, sie macht sich
Sorgen um Carlos. Er kommt bald in die Senior High und die nächsten
beiden Jahre werden darüber entscheiden, ob etwas aus ihm wird oder
nicht.
Ich ziehe meine schwarze Lederjacke über – ich muss
hier raus! Von mi’amá verabschiede ich mich mit einem Kuss
auf die Wange und entschuldige mich dafür, ihr das Frühstück
ruiniert zu haben. Auf dem Weg nach draußen frage ich mich, wie
ich Carlos und Luis davon abhalten kann, sich so in die Scheiße zu
reiten wie ich. Wie soll ich sie dazu bringen, es anders zu machen?
Besser? Bei dem Beispiel, das ich ihnen gebe!
Auf der Straße grüßen mich ein paar Jungs, die die
gleichen Bandanafarben wie ich tragen, mit dem
Latino-Blood-Zeichen: Die rechte Hand tippt mit gekrümmtem
Ringfinger zweimal auf den linken Arm. Das Adrenalin schießt durch
meinen Körper, als ich den Gruß erwidere. Dann werfe ich mein
Motorrad an. Wenn sie unbedingt ein brutales Gangmitglied sehen
wollen, sollen sie eins bekommen. Manchmal bin ich selbst
überrascht, wie gut mir das gelingt.
»Alex, warte«, ruft eine vertraute weibliche
Stimme.
Carmen Sanchez, meine Nachbarin und Ex-Freundin,
rennt auf mich zu.
»Hey, Carmen«, brumme ich.
»Nimmst du mich mit zur Schule?«
Ihr kurzer schwarzer Rock bedeckt nur einen
Bruchteil ihrer unglaublichen Beine und ihr T-Shirt sitzt so eng,
dass es ihre kleinen aber festen chichis betont. Früher
hätte ich alles für sie getan, aber das war, bevor ich sie mit
einem anderen im Bett erwischt habe. In einem Auto, um genau zu
sein. Und zwar diesen Sommer.
»Komm schon, Alex. Ich verspreche auch, nicht zu
beißen … außer du bittest mich darum.«
Carmen ist meine Latino-Blood-Schwester. Ob wir ein
Paar sind oder nicht, spielt keine Rolle, wir können uns trotzdem
aufeinander verlassen. Das ist das Gesetz, nach dem wir leben.
»Steig auf«, sage ich.
Carmen schwingt sich auf mein Motorrad und
platziert selbstbewusst ihre Hände auf meinen Hüften, während sie
sich gleichzeitig an meinen Rücken schmiegt. Es zeigt nicht die
Wirkung, die sie sich anscheinend erhofft hat. Was glaubt sie denn?
Dass ich die Vergangenheit so einfach vergesse? Auf keinen Fall.
Meine Vergangenheit macht mich zu dem, der ich bin.
Ich versuche, mich ganz auf mein letztes Jahr an
der Fairfield zu konzentrieren, auf das Hier und Jetzt. Das ist
verdammt schwer, denn auf mich wartet nach dem Abschluss eine
Zukunft, die genauso verkorkst ist wie meine Vergangenheit.