26
Alex
Als Brittany am Freitag in Mrs P.s Klasse kommt, grüble ich immer noch darüber nach, wie ich es ihr heimzahlen kann, dass sie meine Schlüssel letztes Wochenende ins Gebüsch geschmissen hat. Ich habe eine Dreiviertelstunde gebraucht, um die Mistdinger zu finden und die ganze Zeit über habe ich Brittany verflucht. Na gut, sie hat meinen Respekt, weil sie nicht klein beigegeben hat. Ich bin ihr außerdem dankbar, dass sie mir geholfen hat, über die Nacht zu sprechen, in der papá starb. Das Gespräch mit ihr war der Auslöser dafür, dass ich ältere OGs angerufen und sie gefragt habe, ob sie wüssten, wer vielleicht ein Problem mit meinem Vater hatte.
Brittany war die ganze Woche auf der Hut. Sie wartet darauf, dass ich sie reinlege, um mich an ihr für die Schlüsselaktion zu rächen. Als ich also am Freitag nach der Schule an meinem Spind stehe und ein paar Bücher raussuche, die ich mit nach Hause nehmen möchte, stürmt sie in ihrer sexy Cheerleaderuniform auf mich zu.
»Komm in die Wrestlinghalle«, befiehlt sie mir.
Jetzt kann ich zwei Dinge tun: Sie treffen, wie sie es mir befohlen hat, oder die Schule verlassen. Ich nehme meine Bücher und gehe in die kleine Sporthalle. Brittany steht da und hält mir ihren Schlüsselbund entgegen, an dem keine Schlüssel mehr baumeln.
»Wohin sind meine Schlüssel auf mysteriöse Weise verschwunden?«, fragt sie. »Ich komme zu spät zum Spiel, wenn du es mir nicht verrätst. Und Ms Small wird mich aus dem Team schmeißen, wenn ich nicht beim Spiel auftauche.«
»Ich habe sie irgendwohin geworfen. Du solltest dir wirklich eine Handtasche mit Reißverschluss anschaffen. Man kann nie wissen, wann jemand einfach hineingreift und sich etwas schnappt.«
»Schön zu wissen, dass du ein Klepto bist. Willst du mir einen Hinweis geben, wo du sie versteckt hast?«
Ich lehne mich an die Wand der Sporthalle. Was die Leute wohl denken würden, wenn sie uns hier drin zusammen erwischten? »Sie sind an einem nassen Ort. Einem wirklich nassen Ort«, sage ich, um ihr einen Hinweis zu geben.
»Das Schwimmbecken?«
Ich nicke. »Kreativ, oder?«
Sie versucht, mich gegen die Wand zu schubsen. »Oh, ich werde dich umbringen! Du holst sie mir besser sofort wieder.«
Man könnte fast meinen, sie flirtet mit mir. Ich glaube sogar, ihr gefällt dieses kleine Spiel, das wir treiben. »Mamacita, du solltest mich besser kennen. Du bist auf dich allein gestellt, so wie ich es war, als du mich auf dem Parkplatz allein gelassen hast.«
Sie legt ihren Kopf auf die Seite, macht traurige Augen und schürzt die Lippen. Ich sollte ihre geschürzten Lippen nicht so anstarren, das ist gefährlich. Aber ich kann mir nicht helfen.
»Zeig mir, wo sie sind, Alex. Bitte.«
Ich lasse sie noch eine Minute zappeln, bevor ich nachgebe. Inzwischen ist der Großteil der Schule verlassen. Die Hälfte der Schüler ist auf dem Weg zum Footballspiel. Die andere Hälfte ist heilfroh, dass sie nicht auf dem Weg zum Footballspiel ist.
Wir gehen zum Schwimmbad. Die Lampen sind aus, aber die Sonne scheint durch die Fenster herein. Brittanys Schlüssel sind noch, wo ich sie hingeworfen habe: in der Mitte des Beckens, am tiefen Ende. Ich deute auf die blinkenden Silberteile unter Wasser. »Da sind sie. Hol sie dir.«
Brittany steht mit der Hand an ihrem kurzen Rock da und überlegt, wie sie die Schlüssel wiederbekommt. Sie schlendert zu der langen Stange, die an der Wand hängt und benutzt wird, um Ertrinkende aus dem Wasser zu holen. »Kleinigkeit«, sagt sie zu mir.
Aber als sie die Stange ins Wasser steckt, findet sie heraus, dass es keineswegs eine Kleinigkeit ist. Ich unterdrücke ein Lachen, während ich am Beckenrand stehe und zusehe, wie sie das Unmögliche versucht.
»Du kannst jederzeit blank ziehen und nackt hineinspringen. Ich stehe Schmiere, damit niemand hereinplatzt.«
Sie kommt zu mir, die Stange fest in der Hand. »Das würde dir gefallen, was?«
»Hm, ja«, sage ich, das Offensichtliche feststellend. »Ich muss dich jedoch warnen. Wenn du Liebestöter trägst, würde mir das all meine Fantasien rauben.«
»Zu deiner Information, sie sind aus rosafarbener Seide. Und da wir schon mal dabei sind, persönliche Infos auszutauschen: Trägst du Boxershorts oder Slips?«
»Weder noch. Meine Jungs genießen jede Menge Freiraum, wenn du verstehst, was ich meine.« Okay, das war gelogen. Meine Jungs sind gut verpackt. Aber das wird sie ganz allein rausfinden müssen.«
»Widerlich, Alex.«
»Verteufel nichts, das du nicht selbst probiert hast«, erwidere ich, dann gehe ich zur Tür.
»Du gehst?«
»Mmm … ja.«
»Willst du mir nicht helfen, die Schlüssel wiederzubekommen?«
»Mmm … nein.« Wenn ich noch länger bleibe, gerate ich in Versuchung, sie zu fragen, ob sie das Spiel mit mir schwänzt. Und ich bin definitiv noch nicht bereit dazu, die Antwort auf diese Frage zu hören. Mit ihr zu spielen, bekomme ich hin. Aber ihr einen Blick auf den wahren Alex zu gewähren, wie ich es gestern getan habe, macht mich zu verwundbar. Ich werde nicht zulassen, dass das noch mal passiert. Nach einem letzten Blick auf Brittany stoße ich die Tür auf und frage mich gleichzeitig, ob mich das zu einem Idioten, einem Scheißkerl, einem Feigling oder allen dreien macht.
Zu Hause, weit weg von Brittany und ihren Autoschlüsseln, suche ich nach meinem Bruder. Ich habe mir selbst versprochen, diese Woche mit Carlos zu reden und ich habe es lange genug vor mir hergeschoben. Bevor ich mich versehe, wird er aufgenommen und bekommt zum Eintritt in die Bruderschaft die traditionelle Abreibung, genau wie ich.
Ich finde Carlos in unserem Zimmer. Er ist gerade im Begriff, etwas unter dem Bett verschwinden zu lassen.
»Was war das?«, frage ich.
Er sitzt mit verschränkten Armen auf seinem Bett. »Nada
»Versuch nicht, mich mit deinem nada für dumm zu verkaufen, Carlos.« Ich stoße ihn beiseite und gucke unter sein Bett: Eine schimmernde, fünfundzwanziger Beretta starrt mich an. Fordert mich heraus. Ich ziehe sie hervor und nehme sie in die Hand. »Woher hast du die?«
»Das geht dich nichts an.«
Das ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich Carlos ernsthaft so viel Angst einjagen will, bis er sich in die Hosen macht. Es juckt mich, ihm die Waffe zwischen die Augen zu stoßen und ihm das Gefühl zu zeigen, das Gangmitglieder die ganze Zeit empfinden. Wie bedroht man sich fühlt und wie unsicher, ob man den Tag überleben wird. »Ich bin dein großer Bruder, Carlos. Se nos fue mi papá, also bin ich derjenige, der dir etwas Vernunft einprügeln muss.« Ich sehe die Waffe an. Ihr Gewicht verrät mir, dass sie geladen ist. Scheiße. Wenn sie aus Versehen losgeht, könnte Carlos getötet werden. Wenn Luis sie fände … Scheiße, das ist wirklich übel.
Carlos versucht aufzustehen, aber ich stoße ihn auf das Bett zurück.
»Du läufst mit einem Bandana rum«, beschwert er sich. »Warum darf ich das nicht?«
»Du weißt, wieso. Ich bin in der Gang, du nicht. Du wirst lernen, du wirst aufs College gehen und du wirst ein Leben haben.«
»Du hast unser ganzes Leben schon so schön durchgeplant, was?«, schleudert Carlos mir ins Gesicht. »Von wegen, ich habe auch einen Plan.«
»Es ist hoffentlich nicht der Plan, aufgenommen zu werden.«
Carlos schweigt.
Ich befürchte, ihn bereits verloren zu haben, und mein Körper erstarrt. Ich kann verhindern, dass er in die Gang aufgenommen wird, aber nur, wenn er es zulässt. Ich blicke das Foto über Carlos Bett an, es ist Destiny. Er hat sie diesen Sommer in Chicago kennengelernt, als wir uns das Feuerwerk zum vierten Juli auf dem Navy Pier angeguckt haben. Ihre Familie lebt in Gurnee und Carlos ist wie besessen von ihr. Sie telefonieren jeden Abend. Sie ist klug, sie ist Mexikanerin und als Carlos mich ihr vorstellen wollte und sie mich und meine Tattoos gesehen hat, sprangen ihre Augen vor Angst wie Pingpongbälle hin und her. So als glaubte sie, augenblicklich erschossen zu werden, nur weil sie sich mir bis auf einen Meter genähert hatte.
»Meinst du etwa, Destiny wird noch mit dir ausgehen, wenn du ein Gangmitglied geworden bist?«, frage ich.
Keine Antwort, was gut ist. Er denkt nach.
»Sie lässt dich fallen, bevor du fünfundzwanzig Kaliber sagen kannst.«
Carlos’ Blick wandert zu dem Bild an der Wand.
»Carlos, frag sie, auf welches College sie gehen will. Ich wette, sie hat schon Pläne. Wenn du dieselben Pläne haben willst, ist das machbar.«
Mein Bruder sieht zu mir hoch. In ihm tobt ein Kampf zwischen dem, von dem er weiß, dass es einfach zu erreichen wäre – wie das Leben in einer Gang – und den komplizierteren Dingen, die er sich wünscht – wie Destiny.
»Hör auf, mit Wil rumzuhängen. Finde ein paar neue Freunde und spiel im Fußballteam der Schule mit oder so. Verhalte dich wie ein ganz normaler Junge und lass mich den Rest erledigen.«
Ich stopfe die Beretta in den Bund meiner Jeans und verlasse das Gebäude Richtung Lagerhaus.
Du oder das ganze Leben
cover.html
elke_9783641039455_oeb_cover_r1.html
elke_9783641039455_oeb_toc_r1.html
elke_9783641039455_oeb_ata_r1.html
elke_9783641039455_oeb_ded_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c01_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c02_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c03_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c04_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c05_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c06_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c07_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c08_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c09_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c10_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c11_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c12_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c13_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c14_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c15_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c16_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c17_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c18_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c19_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c20_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c21_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c22_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c23_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c24_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c25_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c26_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c27_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c28_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c29_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c30_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c31_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c32_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c33_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c34_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c35_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c36_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c37_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c38_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c39_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c40_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c41_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c42_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c43_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c44_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c45_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c46_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c47_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c48_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c49_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c50_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c51_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c52_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c53_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c54_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c55_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c56_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c57_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c58_r1.html
elke_9783641039455_oeb_elg_r1.html
elke_9783641039455_oeb_ack_r1.html
elke_9783641039455_oeb_cop_r1.html