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Alex
Als Brittany am Freitag in Mrs P.s Klasse kommt,
grüble ich immer noch darüber nach, wie ich es ihr heimzahlen kann,
dass sie meine Schlüssel letztes Wochenende ins Gebüsch geschmissen
hat. Ich habe eine Dreiviertelstunde gebraucht, um die Mistdinger
zu finden und die ganze Zeit über habe ich Brittany verflucht. Na
gut, sie hat meinen Respekt, weil sie nicht klein beigegeben hat.
Ich bin ihr außerdem dankbar, dass sie mir geholfen hat, über die
Nacht zu sprechen, in der papá starb. Das Gespräch mit ihr
war der Auslöser dafür, dass ich ältere OGs angerufen und sie
gefragt habe, ob sie wüssten, wer vielleicht ein Problem mit meinem
Vater hatte.
Brittany war die ganze Woche auf der Hut. Sie
wartet darauf, dass ich sie reinlege, um mich an ihr für die
Schlüsselaktion zu rächen. Als ich also am Freitag nach der Schule
an meinem Spind stehe und ein paar Bücher raussuche, die ich mit
nach Hause nehmen möchte, stürmt sie in ihrer sexy
Cheerleaderuniform auf mich zu.
»Komm in die Wrestlinghalle«, befiehlt sie
mir.
Jetzt kann ich zwei Dinge tun: Sie treffen, wie sie
es mir befohlen hat, oder die Schule verlassen. Ich nehme meine
Bücher und gehe in die kleine Sporthalle. Brittany steht da und
hält mir ihren Schlüsselbund entgegen, an dem keine Schlüssel mehr
baumeln.
»Wohin sind meine Schlüssel auf mysteriöse Weise
verschwunden?«, fragt sie. »Ich komme zu spät zum Spiel, wenn du es
mir nicht verrätst. Und Ms Small wird mich aus dem Team schmeißen,
wenn ich nicht beim Spiel auftauche.«
»Ich habe sie irgendwohin geworfen. Du solltest dir
wirklich eine Handtasche mit Reißverschluss anschaffen. Man kann
nie wissen, wann jemand einfach hineingreift und sich etwas
schnappt.«
»Schön zu wissen, dass du ein Klepto bist. Willst
du mir einen Hinweis geben, wo du sie versteckt hast?«
Ich lehne mich an die Wand der Sporthalle. Was die
Leute wohl denken würden, wenn sie uns hier drin zusammen
erwischten? »Sie sind an einem nassen Ort. Einem wirklich nassen
Ort«, sage ich, um ihr einen Hinweis zu geben.
»Das Schwimmbecken?«
Ich nicke. »Kreativ, oder?«
Sie versucht, mich gegen die Wand zu schubsen. »Oh,
ich werde dich umbringen! Du holst sie mir besser sofort
wieder.«
Man könnte fast meinen, sie flirtet mit mir. Ich
glaube sogar, ihr gefällt dieses kleine Spiel, das wir treiben.
»Mamacita, du solltest mich besser kennen. Du bist auf dich
allein gestellt, so wie ich es war, als du mich auf dem Parkplatz
allein gelassen hast.«
Sie legt ihren Kopf auf die Seite, macht traurige
Augen und schürzt die Lippen. Ich sollte ihre geschürzten Lippen
nicht so anstarren, das ist gefährlich. Aber ich kann mir nicht
helfen.
»Zeig mir, wo sie sind, Alex. Bitte.«
Ich lasse sie noch eine Minute zappeln, bevor ich
nachgebe. Inzwischen ist der Großteil der Schule verlassen. Die
Hälfte der Schüler ist auf dem Weg zum Footballspiel. Die andere
Hälfte ist heilfroh, dass sie nicht auf dem Weg zum Footballspiel
ist.
Wir gehen zum Schwimmbad. Die Lampen sind aus, aber
die Sonne scheint durch die Fenster herein. Brittanys Schlüssel
sind noch, wo ich sie hingeworfen habe: in der Mitte des Beckens,
am tiefen Ende. Ich deute auf die blinkenden Silberteile unter
Wasser. »Da sind sie. Hol sie dir.«
Brittany steht mit der Hand an ihrem kurzen Rock da
und überlegt, wie sie die Schlüssel wiederbekommt. Sie schlendert
zu der langen Stange, die an der Wand hängt und benutzt wird, um
Ertrinkende aus dem Wasser zu holen. »Kleinigkeit«, sagt sie zu
mir.
Aber als sie die Stange ins Wasser steckt, findet
sie heraus, dass es keineswegs eine Kleinigkeit ist. Ich
unterdrücke ein Lachen, während ich am Beckenrand stehe und zusehe,
wie sie das Unmögliche versucht.
»Du kannst jederzeit blank ziehen und nackt
hineinspringen. Ich stehe Schmiere, damit niemand
hereinplatzt.«
Sie kommt zu mir, die Stange fest in der Hand. »Das
würde dir gefallen, was?«
»Hm, ja«, sage ich, das Offensichtliche
feststellend. »Ich muss dich jedoch warnen. Wenn du Liebestöter
trägst, würde mir das all meine Fantasien rauben.«
»Zu deiner Information, sie sind aus rosafarbener
Seide. Und da wir schon mal dabei sind, persönliche Infos
auszutauschen: Trägst du Boxershorts oder Slips?«
»Weder noch. Meine Jungs genießen jede Menge
Freiraum, wenn du verstehst, was ich meine.« Okay, das war gelogen.
Meine Jungs sind gut verpackt. Aber das wird sie ganz allein
rausfinden müssen.«
»Widerlich, Alex.«
»Verteufel nichts, das du nicht selbst probiert
hast«, erwidere ich, dann gehe ich zur Tür.
»Du gehst?«
»Mmm … ja.«
»Willst du mir nicht helfen, die Schlüssel
wiederzubekommen?«
»Mmm … nein.« Wenn ich noch länger bleibe, gerate
ich in Versuchung, sie zu fragen, ob sie das Spiel mit mir
schwänzt. Und ich bin definitiv noch nicht bereit dazu, die Antwort
auf diese Frage zu hören. Mit ihr zu spielen, bekomme ich hin. Aber
ihr einen Blick auf den wahren Alex zu gewähren, wie ich es gestern
getan habe, macht mich zu verwundbar. Ich werde nicht zulassen,
dass das noch mal passiert. Nach einem letzten Blick auf Brittany
stoße ich die Tür auf und frage mich gleichzeitig, ob mich das zu
einem Idioten, einem Scheißkerl, einem Feigling oder allen dreien
macht.
Zu Hause, weit weg von Brittany und ihren
Autoschlüsseln, suche ich nach meinem Bruder. Ich habe mir selbst
versprochen, diese Woche mit Carlos zu reden und ich habe es lange
genug vor mir hergeschoben. Bevor ich mich versehe, wird er
aufgenommen und bekommt zum Eintritt in die Bruderschaft die
traditionelle Abreibung, genau wie ich.
Ich finde Carlos in unserem Zimmer. Er ist gerade
im Begriff, etwas unter dem Bett verschwinden zu lassen.
»Was war das?«, frage ich.
Er sitzt mit verschränkten Armen auf seinem Bett.
»Nada.«
»Versuch nicht, mich mit deinem nada für
dumm zu verkaufen, Carlos.« Ich stoße ihn beiseite und gucke unter
sein Bett: Eine schimmernde, fünfundzwanziger Beretta starrt mich
an. Fordert mich heraus. Ich ziehe sie hervor und nehme sie in die
Hand. »Woher hast du die?«
»Das geht dich nichts an.«
Das ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich
Carlos ernsthaft so viel Angst einjagen will, bis er sich in die
Hosen macht. Es juckt mich, ihm die Waffe zwischen die Augen zu
stoßen
und ihm das Gefühl zu zeigen, das Gangmitglieder die ganze Zeit
empfinden. Wie bedroht man sich fühlt und wie unsicher, ob man den
Tag überleben wird. »Ich bin dein großer Bruder, Carlos. Se nos
fue mi papá, also bin ich derjenige, der dir etwas Vernunft
einprügeln muss.« Ich sehe die Waffe an. Ihr Gewicht verrät mir,
dass sie geladen ist. Scheiße. Wenn sie aus Versehen losgeht,
könnte Carlos getötet werden. Wenn Luis sie fände … Scheiße, das
ist wirklich übel.
Carlos versucht aufzustehen, aber ich stoße ihn auf
das Bett zurück.
»Du läufst mit einem Bandana rum«, beschwert er
sich. »Warum darf ich das nicht?«
»Du weißt, wieso. Ich bin in der Gang, du nicht. Du
wirst lernen, du wirst aufs College gehen und du wirst ein Leben
haben.«
»Du hast unser ganzes Leben schon so schön
durchgeplant, was?«, schleudert Carlos mir ins Gesicht. »Von wegen,
ich habe auch einen Plan.«
»Es ist hoffentlich nicht der Plan, aufgenommen zu
werden.«
Carlos schweigt.
Ich befürchte, ihn bereits verloren zu haben, und
mein Körper erstarrt. Ich kann verhindern, dass er in die Gang
aufgenommen wird, aber nur, wenn er es zulässt. Ich blicke das Foto
über Carlos Bett an, es ist Destiny. Er hat sie diesen Sommer in
Chicago kennengelernt, als wir uns das Feuerwerk zum vierten Juli
auf dem Navy Pier angeguckt haben. Ihre Familie lebt in Gurnee und
Carlos ist wie besessen von ihr. Sie telefonieren jeden Abend. Sie
ist klug, sie ist Mexikanerin und als Carlos mich ihr vorstellen
wollte und sie mich und meine Tattoos gesehen hat, sprangen ihre
Augen vor Angst wie Pingpongbälle hin und her. So als glaubte sie,
augenblicklich erschossen zu werden, nur weil sie sich mir bis auf
einen Meter genähert hatte.
»Meinst du etwa, Destiny wird noch mit dir
ausgehen, wenn du ein Gangmitglied geworden bist?«, frage
ich.
Keine Antwort, was gut ist. Er denkt nach.
»Sie lässt dich fallen, bevor du fünfundzwanzig
Kaliber sagen kannst.«
Carlos’ Blick wandert zu dem Bild an der
Wand.
»Carlos, frag sie, auf welches College sie gehen
will. Ich wette, sie hat schon Pläne. Wenn du dieselben Pläne haben
willst, ist das machbar.«
Mein Bruder sieht zu mir hoch. In ihm tobt ein
Kampf zwischen dem, von dem er weiß, dass es einfach zu erreichen
wäre – wie das Leben in einer Gang – und den komplizierteren
Dingen, die er sich wünscht – wie Destiny.
»Hör auf, mit Wil rumzuhängen. Finde ein paar neue
Freunde und spiel im Fußballteam der Schule mit oder so. Verhalte
dich wie ein ganz normaler Junge und lass mich den Rest
erledigen.«
Ich stopfe die Beretta in den Bund meiner Jeans und
verlasse das Gebäude Richtung Lagerhaus.