14
Alex
»Das nennst du einen Kuss?«
»Mm.«
In Ordnung, ich stehe also unter Schock, weil das Mädchen meine Hand an ihre samtweiche Wange gepresst hat. Verdammt, so wie mein Körper reagiert hat, könnte man glatt meinen, ich hätte etwas eingeworfen.
Es ist keine Minute her, dass sie mich komplett in ihren Bann gezogen hatte. Die kleine Hexe hat den Spieß umgedreht und hatte auf einmal die Oberhand. Sie hat mich ausgetrickst, das steht fest. Ich lache und ziehe damit absichtlich die Aufmerksamkeit der anderen auf uns, weil ich weiß, dass es genau das ist, was sie um jeden Preis vermeiden will.
»Sch«, macht Brittany und haut mir auf die Schulter, damit ich aufhöre. Als ich daraufhin nur noch lauter lache, nimmt sie ihr Chemiebuch zu Hilfe und verpasst meinem Arm einen höllischen Schlag. Meinem verletzten Arm.
Ich krümme mich vor Schmerzen. »Au!« Die Schnittwunde an meinem Oberarm fühlt sich an, als würden eine Million Bienen darauf einstechen. »Cabrón me dolio
Sie beißt sich auf die mit zartrosa Bobbi-Brown-Lipgloss geschminkte Unterlippe, das ihr meiner Meinung nach wunderbar steht. Ich hätte allerdings auch nichts einzuwenden, wenn sie ihre Lippen demnächst mal pink anmalen würde.
»Habe ich dir wehgetan?«, fragt sie besorgt.
»Ja«, erwidere ich mit zusammengebissenen Zähnen und versuche mich anstatt auf den Schmerz auf ihr Lipgloss zu konzentrieren.
»Gut.«
Ich hebe meinen Ärmel, um die Wunde zu untersuchen. Sie hat wieder zu bluten begonnen, dank meiner reizenden Chemiepartnerin. Dabei hatte der Arzt sie nach dem Kampf gegen die Satin Hoods mit einigen Klammern fachgerecht versorgt. Brittany hat einen ganz ordentlichen Schlag für jemanden, der so ein Fliegengewicht ist.
Sie holt erschrocken Luft und weicht zurück. »Oh mein Gott! Ich wollte dir nicht wehtun, Alex. Das musst du mir glauben. Als du gedroht hast, mir die Wunde zu zeigen, hast du deinen linken Ärmel hochgeschoben.«
»Ich wollte sie dir auch nicht wirklich zeigen«, sage ich. »Ich hab dich nur verarscht. Schon okay.« Ich versuche sie zu beruhigen. Himmel, man könnte meinen, das Mädchen hätte noch nie zuvor Blut gesehen. Andererseits fließt in ihren Adern wahrscheinlich kein rotes, sondern blaues.
»Nein, es ist nicht okay«, protestiert sie und schüttelt den Kopf. »Deine Stiche bluten.«
»Die Wunde ist geklammert«, korrigiere ich sie oberlehrerhaft und versuche damit, die Stimmung aufzuheitern. Brittany ist noch weißer, als sie normalerweise ist. Und sie atmet schwer, beinah keuchend. Wenn sie in Ohnmacht fällt, werde ich die Wette gegen Lucky garantiert verlieren. Wenn sie mit einem kleinen Rinnsal meines Blutes schon solche Probleme hat, wie soll sie es dann gebacken kriegen, Sex mit mir zu haben? Außer, wir wären nicht nackt und sie müsste meine zahlreichen Narben nicht sehen. Oder wenn es dunkel wäre, dann könnte sie sich vormachen, ich wäre weiß und reich. Nein, verdammt, ich will unbedingt, dass das Licht an ist! Ich will ihren Körper an meinem spüren und in ihren Augen lesen, dass sie weiß, sie ist mit mir zusammen und nicht mit irgendeinem anderen culero.
»Alex, alles okay?«, fragt Brittany und sieht mich aufrichtig besorgt an.
Soll ich ihr erzählen, dass ich neben der Spur bin, weil ich mir gerade vorgestellt habe, Sex mit ihr zu haben?
Mrs P. kommt mit strengem Gesichtsausdruck durch den Gang auf uns zu. »Wir sind hier in einer Bibliothek, ihr zwei. Seid bitte etwas leiser.« Doch dann bemerkt sie die schmale Blutspur, die sich meinen Arm hinunterschlängelt und meinen Ärmel tränkt. »Brittany, bring ihn zur Krankenschwester. Alex, das nächste Mal kommst du bitte mit einem Verband über deiner Wunde zur Schule.«
»Kein bisschen Mitgefühl Mrs P.? Ich verblute gerade jämmerlich.«
»Tu etwas, um der Menschheit zu helfen, Alex. Dann bekommst du mein Mitgefühl. Leute, die sich auf Messerkämpfe einlassen, dürfen mit nichts als meiner Abscheu rechnen. Jetzt geh und lass dich verarzten.«
Brittany nimmt mir die Bücher ab und sagt mit bebender Stimme: »Komm schon.«
»Ich kann die Bücher selbst tragen«, sage ich zu ihr, als ich ihr aus der Bibliothek folge. In der Hoffnung, so die Blutung zu stoppen, drücke ich den Ärmel meines T-Shirts auf die Wunde.
Sie geht vor mir her. Wenn ich ihr jetzt erzähle, dass ich ihre Hilfe beim Gehen brauche, weil ich das Gefühl habe, jeden Moment in Ohnmacht zu fallen, würde sie mir dann glauben und zu meiner Rettung eilen? Vielleicht sollte ich stolpern … Aber, wie ich sie kenne, wäre ihr das egal.
Direkt vor der Tür des Krankenzimmers dreht sie sich zu mir um. Ihre Hände zittern. »Es tut mir so leid, Alex. I-ich … woll-wollte nicht …«
Oh nein, sie wird hysterisch. Wenn sie anfängt zu weinen, werde ich nicht wissen, was ich tun soll. Mit weinenden Hühnern kenne ich mich überhaupt nicht aus. Ich glaube nicht, dass Carmen während unserer gesamten Beziehung auch nur einmal geweint hat. Ich würde noch nicht einmal meine Hand dafür ins Feuer legen, dass Carmen überhaupt Tränendrüsen hat. Auf jeden Fall hat mich das damals angemacht, weil gefühlsduselige Bräute mir Angst einjagen.
»Ähm … bist du okay?«, frage ich.
»Wenn sich das rumspricht, werde ich das nicht mehr los. Oh Gott, wenn Mrs Peterson meine Eltern anruft, bin ich tot. Oder ich werde mir zumindest wünschen, tot zu sein.« Sie redet und zittert immer weiter, als sei sie ein Auto mit miesen Stoßdämpfern ohne Bremsen.
»Brittany?«
»… und meine Mom wird mir die Schuld geben. Es ist meine Schuld, ich weiß. Aber sie wird dermaßen ausflippen und dann werde ich alles erklären müssen und hoffen, sie …«
Bevor sie ein weiteres Wort sagen kann, brülle ich »Brittany!«. Sie sieht mich so verwirrt an, dass ich nicht weiß, ob ich Mitleid mit ihr haben oder verblüfft darüber sein soll, dass sie anscheinend nicht aufhören kann zu blubbern. »Du bist hier diejenige, die gerade ausflippt«, kommentiere ich das Offensichtliche.
Ihre Augen, die normalerweise klar und wach blicken, sind jetzt verhangen und ausdruckslos, als wäre sie nicht ganz bei sich.
Sie guckt nach unten, lässt ihren Blick schweifen, sieht überallhin, nur nicht zu mir.
»Nein, tue ich nicht. Mir geht’s gut.«
»Das kannst du deiner Großmutter erzählen. Sieh mich an.«
Sie zögert. »Mir geht’s gut«, sagt sie und konzentriert ihren Blick auf einen Spind auf der anderen Seite des Flurs. »Vergiss einfach alles, was ich gerade gesagt habe.«
»Wenn du mich nicht auf der Stelle anguckst, blute ich den ganzen Fußboden voll und brauch’ne beschissene Transfusion. Sieh mich an, verdammt noch mal.«
Sie atmet immer noch schwer, als sie mich endlich ansieht. »Was? Wenn du mir erzählen willst, dass mein Leben außer Kontrolle ist, kann ich dir sagen, dass ich das bereits weiß.«
»Ich weiß, dass du mir nicht wehtun wolltest«, sage ich zu ihr. »Und selbst, wenn das deine Absicht gewesen wäre, ich hätte es wahrscheinlich verdient.« Ich hoffe, damit ihre Stimmung aufzuhellen, sodass sie nicht mitten im Gang einen totalen Nervenzusammenbruch bekommt. »Einen Fehler zu machen, ist kein Verbrechen, weißt du. Wozu ein guter Ruf, wenn du ihn nicht ab und an ruinieren kannst?«
»Versuch ja nicht, nett zu mir zu sein, Alex. Ich hasse dich.«
»Und ich hasse dich. Jetzt geh bitte aus dem Weg, damit der Hausmeister nicht den ganzen Tag damit zu tun hat, mein Blut aufzuwischen. Er ist ein Verwandter, weißt du.«
Sie schüttelt den Kopf. Sie glaubt nicht eine Sekunde, dass der Hausmeister der Fairfield High mit mir verwandt ist. Okay, dann ist er eben nicht wirklich ein Verwandter. Aber er hat Familie in Atencingo, einer kleinen Stadt in Mexiko, wo Cousins meiner Mom leben.
Anstatt aus dem Weg zu gehen, öffnet meine Chemiepartnerin die Tür des Krankenzimmers für mich. Ich denke, sie kommt klar, auch wenn ihre Hände immer noch zittern.
»Er blutet«, ruft sie Miss Koto, der Schulkrankenschwester zu.
Miss Koto lässt mich auf einer der Untersuchungsliegen Platz nehmen. »Was ist passiert?«
Ich sehe Brittany an. Ihr Gesichtsausdruck ist besorgt, als befürchte sie, ich könnte jeden Moment krepieren. Ich bete zu Gott, dass so der Engel des Todes aussehen wird, wenn ich mal hopsgehe. Ich wäre mehr als glücklich, in der Hölle zu landen, wenn ein Gesicht wie Brittanys mich dort begrüßen würde.
»Meine Klammern haben sich geöffnet«, sage ich. »Ist nicht weiter schlimm.«
»Und wie genau ist das passiert?«, fragt Miss Koto, während sie ein weißes Tuch tränkt und meinen Arm damit abtupft. Ich halte die Luft an und warte darauf, dass das Brennen nachlässt. Ich werde meine Partnerin auf keinen Fall ans Messer liefern – schließlich habe ich vor, sie zu verführen.
»Ich habe ihn geschlagen«, gibt Brittany mit versagender Stimme zu.
Miss Koto dreht sich perplex zu ihr um. »Du hast ihn geschlagen?«
»Aus Versehen«, schalte ich mich ein, ohne einen Schimmer davon zu haben, warum ich dieses Mädchen auf einmal beschützen möchte. Dieses Mädchen, das mich hasst und wahrscheinlich lieber in Chemie durchfallen würde, als mich zum Partner zu haben.
Meine Pläne für Brittany gehen nicht auf. Das einzige Gefühl, das sie vorgibt, für mich zu empfinden, ist Hass. Aber die Vorstellung von Lucky auf meiner Maschine ist sehr viel schmerzvoller als das antiseptische Zeug, mit dem Miss Koto meine Wunde abreibt.
Ich muss eine Gelegenheit finden, mit Brittany allein zu sein, wenn ich eine Chance haben will, mein Gesicht zu wahren und meine Honda zu retten. Bedeutet ihr Ausflippen in Wahrheit, dass sie mich eigentlich gar nicht hasst? Ich habe noch nie gesehen, dass dieses Mädchen etwas getan hätte, das nicht zu hundert Prozent nach Drehbuch und mit voller Absicht geschehen wäre. Sie ist ein Roboter. Jedenfalls habe ich das immer gedacht. Sie wirkt stets wie eine unnahbare Prinzessin und hat sich bisher auch immer so benommen. Wer hätte gedacht, dass mein blutverschmierter Arm sie knacken würde.
Ich blicke zu Brittany rüber. Sie ist ganz auf meinen Arm und Miss Kotos Handgriffe konzentriert. Ich wünschte, wir wären zurück in der Bibliothek. Ich könnte schwören, als wir dort waren, hat sie darüber nachgedacht mit mir rumzuknutschen.
Miss Kotos Anwesenheit verhindert nicht, dass ich hart werde, wenn ich nur daran denke. Gracias a Dios – jetzt geht die Schwester zu ihrem Medizinschränkchen hinüber. Wo ist das große Chemiebuch, wenn man es braucht?
»Sollen wir uns am Donnerstag nach der Schule treffen? Um am Entwurf zu arbeiten und so«, sage ich aus zwei Gründen zu Brittany. Erstens muss ich schnell damit aufhören, mir in Miss Kotos Gegenwart vorzustellen, wie wir uns gegenseitig die Kleider vom Leib reißen. Und zweitens möchte ich Brittany für mich haben.
»Ich habe Donnerstag schon was vor«, antwortet sie.
Wahrscheinlich mit Eselsgesicht. Klar – sie ist lieber mit diesem pendejo zusammen als mit mir.
»Dann Freitag«, sage ich. Ich stelle sie auf die Probe, obwohl ich das wahrscheinlich besser bleiben lassen sollte. Ein Mädchen wie Brittany auf die Probe zu stellen, könnte meinem Ego einen empfindlichen Kratzer verpassen. Andererseits habe ich einen guten Zeitpunkt erwischt – sie ist verletzbar und steht immer noch unsicher auf den Beinen, weil sie mein Blut gesehen hat. Ich gebe es zu, ich bin ein manipulatives Arschloch.
Sie beißt sich auf die Unterlippe, von der sie annimmt, sie sei in der falschen Nuance angepinselt. »Ich kann Freitag auch nicht.« Meinem Ständer ist definitiv das Stehen vergangen.
»Wie sieht es mit Samstagvormittag aus?«, fragt sie dann. »Wir könnten uns in der Bücherei treffen.«
»Bist du sicher, dass du mich in deinen engen Terminkalender quetschen kannst?«
»Halt die Klappe. Wir treffen uns dort um zehn.«
»Das ist ein Date«, sage ich, während Miss Koto, die unserer Unterhaltung anscheinend interessiert gelauscht hat, das letzte Stück von dem idiotischen Mull um meinen Arm wickelt und feststeckt.
Brittany sammelt ihre Bücher ein. »Es ist kein Date, Alex«, erwidert sie über die Schulter.
Ich schnappe mein Buch und hetze den Gang hinter ihr her. Sie marschiert allein davon. Die Lautsprechermusik ist noch nicht an, also läuft der Unterricht noch.
»Es ist vielleicht kein Date, aber du schuldest mir noch einen Kuss. Ich treibe meine Schulden immer ein.« Der Blick meiner Chemiepartnerin ist nicht länger ausdruckslos, sondern rasend vor Wut und voller Feuer. Mmm, gefährlich. Ich zwinkere ihr zu. »Und zerbrich dir nicht deinen süßen kleinen Kopf, welches Lipgloss du am Samstag auflegen sollst. Du musst es sowieso erneuern, nachdem wir rumgeknutscht haben.«
Du oder das ganze Leben
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