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Alex
Ich war mir darüber im Klaren, dass ich irgendwann
im Laufe des Schuljahres im Büro des Direktors landen würde, aber
ich hatte nicht damit gerechnet, dass es mich schon am ersten
Schultag erwischt. Ich habe gehört, Dr. Aguirre wurde eingestellt,
weil er in irgendeiner Highschool in Milwaukee knallhart
durchgegriffen hat. Jemand muss ihm den Tipp gegeben haben, dass
ich ein führender Kopf der Latino Blood bin, sonst hätte er nicht
ausgerechnet meinen Arsch herzitiert, sondern den eines anderen
Blutsbruders.
Hier sitze ich also, man hat mich aus dem
Sportunterricht geholt, damit Aguirre mit stolzgeschwellter Brust
etwas über härtere Schulregeln schwafeln kann. Ich spüre, dass er
versucht, mich einzuschätzen. Er fragt sich, wie ich auf seine
Drohung reagieren werde. »… und für dieses Jahr habe ich zwei
Vollzeit-Securityleute engagiert, die eine Waffe tragen,
Alejandro.«
Sein Blick konzentriert sich ganz auf mich,
versucht, mich einzuschüchtern. Alles klar. Ich sehe sofort, dass
Aguirre zwar Latino sein mag, aber keine Ahnung davon hat, was auf
unseren Straßen so abgeht. Als Nächstes wird er mir bestimmt
erzählen, dass er in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen ist,
genau wie ich. Dabei ist er bis heute wahrscheinlich noch nicht
einmal mit dem Auto durch mein Viertel gefahren. Vielleicht sollte
ich anbieten, den Touristguide für ihn zu machen.
Er baut sich vor mir auf. »Ich habe dem
Schulinspektor und der Schulbehörde versprochen, die Gewaltexzesse
zu unterbinden, die diese Schule seit Jahren sukzessive zugrunde
richten. Ich werde nicht zögern, jeden vom Unterricht zu
suspendieren, der sich nicht an die Regeln hält.«
Ich habe nichts weiter verbrochen, als ein bisschen
Spaß mit der Pompon-Queen zu haben und der Typ redet schon von
Suspendierung. Vielleicht weiß er von meiner Suspendierung im
letzten Jahr. Wegen eines kleinen Vorfalls hat man mich für drei
Tage auf die Bank geschickt. Es war nicht meine Schuld … zumindest
nicht ganz. Paco hatte diese verrückte Theorie, dass kaltes Wasser
sich auf Latinoschwänze anders auswirken würde als auf die der
Gringos. Ich führte gerade eine hitzige Diskussion mit ihm im
Heizungsraum, wo er den Heißwasserboiler abgestellt hatte, als wir
entdeckt wurden.
Ich hatte nichts damit zu tun, wurde aber dennoch
dafür bestraft. Paco versuchte, alles richtigzustellen, aber unser
alter Direx wollte nichts davon wissen. Vielleicht hätte er mich
angehört, wenn ich mich mehr ins Zeug gelegt hätte. Aber warum soll
man seine Energie auf etwas verschwenden, das sowieso nicht
eintreten wird?
Brittany Ellis ist ganz klar der Grund, warum ich
heute hier stehe. Ihr Arsch von einem Freund wird sicher nie in
Aguirres Büro landen. Die Lusche ist ein Footballcrack. Er kann den
Unterricht schwänzen und Streit vom Zaun brechen und Aguirre wird
ihm wahrscheinlich trotzdem den Hintern küssen. Colin Adams liebt
es, mich herauszufordern, weil er weiß, dass er locker damit
davonkommt. Er ist bisher noch jedes Mal, wenn ich es ihm
heimzahlen wollte, entwischt, oder hat sich schnell in die Nähe
eines Lehrers gestellt … eines Lehrers, der nur darauf wartete,
dass ich mich so richtig in die Scheiße reite.
Eines Tages …
Ich sehe Aguirre in die Augen. »Ich breche keinen
Streit vom Zaun.« Was nicht heißen soll, dass ich nicht ordentlich
mitmische.
»Gut zu wissen«, sagt Aguirre. »Doch mir ist zu
Ohren gekommen, dass du heute eine Schülerin auf dem Parkplatz
belästigt hast.«
Dass ich beinah von Brittany Ellis’ schickem neuem
Schlitten zu Kompost verarbeitet worden bin, ist also meine Schuld?
In den letzten drei Jahren habe ich es geschafft, einen großen
Bogen um die reiche Tussi zu machen. Ich habe gehört, letztes Jahr
hatte sie ein C auf ihrem Zeugnis, aber ein kurzer Anruf ihrer
Eltern hat genügt und die Note verwandelte sich – Abrakadabra – in
ein A.
Ihre Chance auf ein gutes College wäre doch sonst
ruiniert gewesen!
Scheiß drauf. Wenn ich ein C hätte, würde
mi’amá mir eine Kopfnuss verpassen, die sich gewaschen hat
und mich an den Haaren an meinen Schreibtisch zerren, damit ich
doppelt so viel lerne. Ich habe mir den Arsch aufgerissen, um gute
Noten zu bekommen, obwohl ich mich ständig rechtfertigen musste,
woher ich die Antworten wusste. Als ob ich betrügen würde. Mir
geht’s doch nicht darum, aufs College zu kommen. Es geht darum, zu
beweisen, dass ich aufs College gehen könnte … wenn mein
Leben ein anderes wäre.
Die von der Southside werden oft für dümmer
gehalten als die von der Northside, aber das ist kompletter Unsinn.
Wir sind eben nicht so reich oder besessen von materiellen Dingen
oder davon, auf die teuerste und angesehenste Uni zu gehen. Die
meiste Zeit kämpfen wir ums Überleben, müssen ständig auf der Hut
sein.
Das Schwierigste in Brittany Ellis’ Leben ist
wahrscheinlich, jeden Abend aufs Neue entscheiden zu müssen, in
welches
Restaurant sie heute essen geht. Dieses Mädchen benutzt ihren
heißen Körper, um jeden zu manipulieren, der in ihren Bannkreis
gerät.
»Willst du mir erzählen, was auf dem Parkplatz
geschehen ist? Ich würde gern deine Seite der Geschichte hören«,
sagt Aguirre.
Von wegen. Ich habe schon vor langer Zeit gelernt,
dass meine Seite keinen interessiert. »Das heute Morgen war ein
totales Missverständnis«, erkläre ich. Brittany Ellis’
Missverständnis darüber, dass zwei Fahrzeuge auf denselben
Parkplatz passen.
Aguirre beugt sich im Stehen über seine blitzblank
polierte Schreibtischplatte. »Versuch, Missverständnisse nicht zur
Gewohnheit werden zu lassen, Alejandro, okay?«
»Alex.«
»Hä?«
»Ich werde Alex genannt«, sage ich. Was er über
mich weiß, steht in meiner Schulakte, einer Akte, die so akribisch
geführt wurde, dass sie wahrscheinlich fünfundzwanzig Zentimeter
dick ist.
Aguirre nickt mir zu. »Gut, Alex. Ich entlasse dich
in die sechste Stunde. Aber ich habe meine Augen überall und werde
dich genau beobachten. Ich will dich nicht noch einmal in meinem
Büro sehen.« Als ich aufstehe, legt er mir eine Hand auf die
Schulter. »Nur damit du es weißt, mein Ziel ist, dass jeder Schüler
dieser Schule etwas aus sich macht. Jeder Schüler, Alex, du
eingeschlossen. Welche Vorurteile du auch über mich haben magst,
verabschiede dich von ihnen. ¿Me entiendes?«
»Sí. Entiendo«, sage ich und frage mich
gleichzeitig, ob ich ihm vertrauen kann. Im Gang beeilen sich
Horden von Schülern, zu ihrer nächsten Stunde zu kommen. Ich habe
keinen Schimmer, wo ich als Nächstes sein soll und trage immer noch
meine Sportklamotten.
In der Umkleide scheppert ein Song aus dem
Lautsprecher, der anzeigt, dass jetzt die sechste Stunde beginnt.
Ich ziehe den Stundenplan aus der Gesäßtasche meiner Jeans. Chemie
mit Mrs Peterson. Na toll, der nächste Henker reibt sich schon die
Hände.