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Alex
»Mann, die hat dich geküsst, als wäre es der
letzte Kuss ihres Lebens. Wenn sie schon so küsst, frage ich mich,
wie sie erst …«
»Klappe, Enrique.«
»Sie wird dein Ende sein, Alejo«, fährt Enrique
fort. Er benutzt meinen spanischen Spitznamen. »Sieh dich nur an,
die letzte Nacht hast du im Knast verbracht und jetzt schwänzt du
die Schule, um dein Motorrad zurückzubekommen. Zugegeben, sie hat
eine buena torta, aber ist sie es auch wert?«
»Ich muss zurück an die Arbeit«, sage ich. In
meinem Kopf wirbeln die Gedanken umher, die Enrique dort
eingepflanzt hat. Während ich den Rest des Abends unter einem
Chevrolet Blazer verbringe, ist alles, wonach mir der Sinn steht,
meine mamacita wieder und wieder zu küssen und zu
berühren.
Ja, sie ist es definitiv wert.
»Alex, Hector ist hier. Mit Chuy«, sagt Enrique um
sechs Uhr, als ich gerade nach Hause gehen will.
Ich wische mir die Hände an meiner Arbeitshose ab.
»Wo sind sie?«
»In meinem Büro.«
Angst macht sich in mir breit, als ich mich dem
Zimmer nähere. Ich sehe Hector, kaum dass ich die Tür geöffnet
habe. Er steht mitten im Raum, als gehöre ihm der Laden. Chuy
wartet in der Ecke, aber seine Rolle ist beileibe nicht die eines
unbeteiligten Zuschauers.
»Enrique, lass uns allein.«
Ich hatte gar nicht bemerkt, dass Enrique hinter
mir geblieben war, falls ich einen Verbündeten brauchen sollte. Ich
nicke meinem Cousin zu. Ich habe mir nichts vorzuwerfen, Hector hat
keinen Grund an meiner Loyalität zu zweifeln. Chuys Anwesenheit
jedoch macht aus diesem Treffen eine Riesennummer. Wäre es nur
Hector, wäre ich nicht so angespannt.
»Alex«, sagt Hector, sobald Enrique verschwunden
ist. »Ist es nicht angenehmer, sich hier zu treffen, als in einem
Gerichtsgebäude?«
Ich schenke ihm ein müdes Lächeln und schließe die
Tür.
Hector deutet auf die kleine, abgewetzte Couch in
der hinteren Ecke des Zimmers. »Setz dich.« Er wartet, bis ich
Platz genommen habe. »Ich will, dass du mir einen Gefallen tust,
amigo.«
Es gibt keinen Grund, das Unausweichliche
hinauszuzögern. »Welche Sorte Gefallen?«
»Am einunddreißigsten Oktober muss eine
Schiffslieferung verteilt werden.«
Bis dahin sind es noch ein paar Wochen. Halloween –
Nacht der Geister und Dämonen. »Ich deale nicht«, werfe ich ein.
»Das wusstest du von Anfang an.«
Ich behalte Chuy im Auge, so wie ein Pitcher beim
Baseball den gegnerischen Spieler, wenn der sich zu weit von der
Base entfernt.
Hector beugt sich über mich und legt mir eine Hand
auf die Schulter. »Du musst über das hinwegkommen, was mit deinem
alten Herrn passiert ist. Wenn du die Latino Blood eines Tages
führen willst, muss du auch mit Drogen handeln.«
»Dann steh ich für den Posten nicht zur
Verfügung.«
Hectors Hand packt fester zu und Chuy kommt einige
Schritte näher. Eine stille Drohung.
»Ich wünschte, es wäre so einfach«, sagt Hector.
»Ich brauche deine Hilfe. Und, ehrlich gesagt, schuldest du mir
was.«
Verdammt. Wenn ich nicht verhaftet worden wäre,
würde ich Hector gar nichts schulden.
»Ich weiß, du wirst mich nicht enttäuschen. Wie
geht es eigentlich deiner Mutter? Ich habe sie schon eine Weile
nicht mehr gesehen.«
»Ihr geht es gut«, sage ich und frage mich
insgeheim, was mi’amá mit dem Ganzen zu tun haben
soll.
»Richte ihr meine Grüße aus, in Ordnung?«
Was zum Teufel soll das denn heißen?
Hector öffnet die Tür, weist Chuy an, ihm zu folgen
und lässt mich allein, um in aller Ruhe darüber
nachzugrübeln.
Ich lehne mich auf dem Sofa zurück, starre die
geschlossene Tür an und frage mich, ob ich die Nerven habe, einen
Drogendeal durchzuziehen.
Aber wenn ich meine Familie schützen will, ist die
Entscheidung längst gefallen.