28
Alex
Am Montag versuche ich meine Vorfreude auf den Chemieunterricht nicht überzubewerten. Es ist ganz bestimmt nicht Mrs P., die ich dermaßen vermisst habe. Es ist Brittany.
Sie kommt zu spät.
»Hallo«, begrüße ich sie.
»Hallo«, murmelt sie. Kein Lächeln, keine strahlenden Augen. Irgendetwas bereitet ihr Sorgen.
»So, meine Lieben«, sagt Mrs P., »holt eure Stifte heraus. Wir wollen doch mal sehen, wie viel ihr gelernt habt.«
Im Stillen verfluche ich Mrs P., dass sie keinen Labortag mit Experimenten angesetzt hat, denn dann hätten wir reden können. Ein kurzer Seitenblick auf meine Partnerin verrät mir, dass sie der Test vollkommen unvorbereitet trifft. Ich habe das Gefühl, sie beschützen zu müssen, auch wenn ich dazu kein Recht habe und hebe die Hand.
»Ich habe Angst, dir das Wort zu erteilen, Alex«, sagt Mrs P. mit strengem Blick.
»Es ist nur eine ganz harmlose Frage.«
»Dann raus damit. Aber fass dich kurz.«
»Dürfen wir unsere Bücher zu Rate ziehen?«
Die Augen meiner Lehrerin blitzen mich über den Rand ihrer Brillengläser hinweg wütend an. »Nein, Alex, das dürft ihr nicht. Und wenn du nicht gelernt hast, wird unter deinem Test ein dickes, fettes D prangen. Haben wir uns verstanden?«
Ich lasse meine Bücher als Antwort mit einem lauten Knall auf den Boden fallen.
Nachdem Mrs P. den Test ausgeteilt hat, lese ich die erste Frage. Die Dichte von Al (Aluminium) ist 2,7 g/cm3. Welches Volumen haben 10,5 Gramm Al (Aluminium)?
Ich berechne die Antwort und gucke zu Brittany rüber. Sie starrt mit leerem Blick auf den Test vor sich.
Als sie bemerkt, dass ich sie ansehe, schnaubt sie. »Was ist?«
»Nichts. Nada
»Dann hör auf, mich anzustarren.«
Mrs P. beobachtet uns genau. Ich atme tief durch, um mich abzuregen, und bearbeite weiter meinen Test. Muss Brittany so unberechenbar sein und ohne Vorwarnung zwischen heiß und kalt wechseln? Was ist der Grund dafür?
Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie meine Chemiepartnerin sich den Toilettenpass von seinem Haken neben der Zimmertür nimmt. Das Problem dabei ist, der Toilettenpass hilft einem nicht dabei, vor dem Leben davonzulaufen. Es ist immer noch da und wartet auf einen, wenn man von der Toilette zurückkommt. Glaubt mir, ich habe es versucht. Probleme und Mist lösen sich nicht in Luft auf, während man sich auf dem Klo verkriecht.
Zurück im Klassenzimmer legt Brittany ihren Kopf auf die Tischplatte, während sie die Antworten kritzelt. Ein kurzer Blick genügt und ich weiß, dass sie nicht bei der Sache ist, das Mädchen gibt sich keine große Mühe. Und als Mrs P. allen befiehlt, ihre Blätter abzugeben, ist der Gesichtsausdruck meiner Chemiepartnerin vollkommen ausdruckslos.
»Wenn es dir hilft«, sage ich so leise, dass nur Brittany mich hören kann, »ich bin in der Achten in Gesundheitserziehung durchgefallen, weil ich der Übungspuppe eine angezündete Zigarette in den Mund gesteckt habe.«
Ohne hochzusehen sagt sie: »Schön für dich.«
Musik dringt aus den Lautsprechern und zeigt das Ende der Stunde an. Ich beobachte, wie Brittanys goldenes Haar weniger als sonst auf und ab wippt, als sie aus der Klasse trottet. Komischerweise ist ihr Freund nicht an ihrer Seite. Ich frage mich, ob sie denkt, alles müsse ihr in den Schoß fallen, sogar gute Noten.
Ich muss mir alles, was ich haben möchte, hart erarbeiten. Nichts landet in meinem Schoß.
»Hiya, Alex.« Carmen steht vor meinem Spind. Okay, manche Dinge fallen mir in den Schoß.
»¿Que pasa?«
Meine Ex-Freundin beugt sich zu mir, das V ihres T-Shirts ist extra tief ausgeschnitten. »Ein paar von uns wollen nach der Schule an den Strand. Kommst du mit?«
»Ich muss arbeiten«, antworte ich. »Vielleicht komme ich später nach.«
Ich denke an das Wochenende vor zwei Wochen. Nachdem ich bei Brittany vorbeigefahren war, nur damit ihre Mutter mich zusammenstauchen konnte, ist etwas in mir ausgeklinkt.
Mich zu betrinken, um mein verletztes Ego zu betäuben, war eine dämliche Idee. Ich wollte Zeit mit Brittany verbringen, nicht nur mit ihr zusammen sein, um zu lernen, sondern um herauszufinden, was sich unter diesem Wust blonder Locken verbirgt. Meine Chemiepartnerin hat mich in die Wüste geschickt, Carmen nicht. Die Erinnerung ist verschwommen, aber ich erinnere mich an Carmen im See, die ihren Körper um meinen geschlungen hat. Und die beim Feuer auf mir saß, als wir etwas sehr viel Stärkeres als eine Marlboro geraucht haben. So breit und down wie ich war, hätte sich jedes Mädchen gut angefühlt.
Carmen war da und willig und ich schulde ihr noch eine Entschuldigung, denn selbst wenn sie sich mir angeboten hat, hätte ich die Finger aus der Keksdose lassen sollen. Ich muss nachher zum Strand und ihr mein abartiges Verhalten erklären.
Nach der Schule entdecke ich eine Menschentraube um mein Motorrad. Verdammt, wenn Julio auch nur einen Kratzer abbekommt, werde ich jemanden dafür zahlen lassen. Ich muss mich nicht durch die Menge drängen, weil sich ein Spalier für mich öffnet, als ich mich nähere.
Sie lassen mich nicht aus den Augen, als ich den Vandalismus an meinem Motorrad entdecke. Alle erwarten von mir, dass ich jetzt ausraste. Wer würde sich schon trauen, eine pinkfarbene Dreiradhupe an Julios Lenker zu montieren und glitzernde Bänder an die Enden seiner Handgriffe zu kleben? Niemand kommt mit diesem Mist durch.
Außer Brittany.
Ich suche die Umgebung nach ihr ab, aber sie ist nicht da.
»Ich war es nicht«, sagt Lucky schnell.
Alle anderen murmeln, dass sie es ebenfalls nicht gewesen seien.
Dann fliegen gemurmelte Vermutungen, wer es denn gewesen sein könnte, von Mund zu Mund. »Colin Adams, Greg Hanson …« Ich höre gar nicht hin, weil ich nur allzu genau weiß, wer die Schuldige ist. Es ist meine Chemiepartnerin, diejenige, die mich den ganzen Tag ignoriert hat.
Ich reiße die flatternden Glitzerbänder mit einem Ruck vom Lenker, dann montiere ich die pinkfarbene Plastikhupe ab. Pink. Ich frage mich, ob sie wohl irgendwann ihr gehört hat.
»Aus dem Weg«, befehle ich der Menge. Alle weichen schnell zur Seite, da sie vermuten, dass mein Wutpegel gewaltig ist, und sie nicht ins Kreuzfeuer geraten wollen. Manchmal hat es seine Vorteile, als Gangster verschrien zu sein. Die Wahrheit? Ich werde die pinkfarbene Hupe und die Glitzerbänder als Vorwand benutzen, um noch mal mit Brittany zu reden.
Nachdem die Menge sich zerstreut hat, gehe ich zum Footballfeld rüber. Die Cheerleader sind da und trainieren wie immer.
»Suchst du jemanden?«
Ich drehe mich zu Darlene Boehm um, einer Freundin von Brittany. »Ist Brittany in der Nähe?«, frage ich.
»Nö.«
»Weißt du, wo sie ist?«
Alex Fuentes, der nach dem Aufenthaltsort von Brittany Ellis fragt? Ich rechne damit, dass sie mir an den Kopf werfen wird, das gehe mich nichts an. Oder dass ich sie gefälligst in Ruhe lassen solle.
Stattdessen sagt ihre Freundin: »Sie ist nach Hause gegangen.«
Ich murmle ein »Danke«, drehe mich um und kehre zu Julio zurück, während ich die Nummer meines Cousins wähle.
»Enriques Autowerkstatt?«
»Hier ist Alex. Ich komme heute etwas später zur Arbeit.«
»Musst du wieder nachsitzen?«
»Nein, nichts dergleichen.«
»Solange du dich noch um den Lexus von Chuy kümmerst. Ich habe ihm versprochen, er könne ihn um sieben abholen und du weißt, wie Chuy drauf ist, wenn man seine Versprechen nicht hält.«
»Kein Problem«, versichere ich ihm. Chuy ist einer der Leute der Latino Blood, mit dem man sich besser nicht anlegt; der Kerl, der ohne Empathiechip im Hirn geboren wurde. Wenn einer illoyal ist, liegt es in Chuys Händen, ihn entweder zur Loyalität zu zwingen oder sicherzustellen, dass er niemals reden wird. Und das tut er mit allen verfügbaren Mitteln – da kannst du um dein Leben schreien und betteln.
»Ich werde da sein.«
Als ich zehn Minuten später mit der pinkfarbenen Hupe und den Glitzerbändern in der Hand an die Haustür der Ellis-Familie klopfe, versuche ich es mit der Ich-bin-ein-cooler-Bastard-Pose.
Doch Brittanys Anblick – sie öffnet die Tür in einem weiten T-Shirt und Shorts – haut mich völlig um.
Ihre hellblauen Augen weiten sich vor Erstaunen. »Alex, was tust du hier?«
Ich halte ihr wortlos die Hupe und die Bänder hin.
Sie reißt sie mir aus der Hand. »Ich kann nicht glauben, dass du wegen einem Streich hergekommen bist.«
»Wir haben Dinge zu bereden. Und damit meine ich nicht nur den Streich.«
Sie schluckt nervös. »Ich fühle mich nicht so toll, okay? Lass uns in der Schule reden.« Sie versucht, die Tür zu schließen.
Scheiße, ich kann nicht glauben, dass ich mich verhalte, wie so ein Stalkertyp in einem schlechten Film. Ich stelle einen Fuß in die Tür. ¡Qué mierda!
»Alex, nicht.«
»Lass mich rein. Nur für eine Minute. Bitte.«
Sie schüttelt den Kopf, ihre Engelslocken tanzen um ihr Gesicht. »Meine Eltern mögen es nicht, wenn ich Freunde da habe.«
»Sind sie zu Hause?«
»Nein.« Sie seufzt, dann öffnet sie zögernd die Tür.
Ich trete ein. Das Haus ist sogar noch größer als es von draußen aussieht. Die Wände sind strahlend weiß gestrichen, es erinnert mich an ein Krankenhaus. Ich schwöre, kein Staubkorn würde es wagen, auf dem Boden oder den Möbeln zu landen. Die zweigeschossige Eingangshalle wartet mit einer Treppe auf, die derjenigen Konkurrenz macht, die ich in The Sound of Music gesehen habe, einem Film, den wir in der Junior High gucken mussten. Der Boden glänzt, als sei er nass.
Brittany hatte recht. Ich gehöre hier nicht hierher. Aber das ist egal, denn auch wenn ich nicht an diesen Ort gehöre, ist sie hier und ich möchte sein, wo sie ist.
»Worüber wolltest du mit mir reden?«, fragt sie.
Ich wünschte, ihre langen schlanken Beine würden nicht so aufreizend aus ihrer Shorts wachsen. Sie lenken mich ab. Ich wende den Blick von ihnen ab und versuche verzweifelt, einen klaren Gedanken zu fassen. Na und, dann hat sie eben sexy Beine. Dann hat sie eben Augen, so klar wie Glasmurmeln. Dann kann sie eben einen Spaß wie ein Mann nehmen und mit gleicher Münze heimzahlen.
Wem versuche ich etwas vorzumachen? Ich habe keinen anderen Grund, hier zu sein, als den, dass ich bei ihr sein möchte. Scheiß auf die Wette.
Ich möchte wissen, was dieses Mädchen zum Lachen bringt. Ich möchte wissen, was sie zum Weinen bringt. Ich möchte wissen, wie es sich anfühlt, wenn sie mich ansieht, als sei ich ihr Ritter in strahlender Rüstung.
»Biwiee!«, tönt eine entfernte Stimme durch das Haus. Sie bricht das Schweigen.
»Warte hier«, befiehlt Brittany. Dann eilt sie den Flur entlang nach rechts. »Ich bin gleich zurück.«
Ich werde hier nicht wie bestellt und nicht abgeholt in der Eingangshalle rumstehen. Ich folge ihr in der Erwartung, jeden Moment einen Blick in ihre private Welt zu erhaschen.
Du oder das ganze Leben
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