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Alex
Am Montag versuche ich meine Vorfreude auf den
Chemieunterricht nicht überzubewerten. Es ist ganz bestimmt nicht
Mrs P., die ich dermaßen vermisst habe. Es ist Brittany.
Sie kommt zu spät.
»Hallo«, begrüße ich sie.
»Hallo«, murmelt sie. Kein Lächeln, keine
strahlenden Augen. Irgendetwas bereitet ihr Sorgen.
»So, meine Lieben«, sagt Mrs P., »holt eure Stifte
heraus. Wir wollen doch mal sehen, wie viel ihr gelernt
habt.«
Im Stillen verfluche ich Mrs P., dass sie keinen
Labortag mit Experimenten angesetzt hat, denn dann hätten wir reden
können. Ein kurzer Seitenblick auf meine Partnerin verrät mir, dass
sie der Test vollkommen unvorbereitet trifft. Ich habe das Gefühl,
sie beschützen zu müssen, auch wenn ich dazu kein Recht habe und
hebe die Hand.
»Ich habe Angst, dir das Wort zu erteilen, Alex«,
sagt Mrs P. mit strengem Blick.
»Es ist nur eine ganz harmlose Frage.«
»Dann raus damit. Aber fass dich kurz.«
»Dürfen wir unsere Bücher zu Rate ziehen?«
Die Augen meiner Lehrerin blitzen mich über den
Rand ihrer Brillengläser hinweg wütend an. »Nein, Alex, das dürft
ihr nicht. Und wenn du nicht gelernt hast, wird unter deinem
Test ein dickes, fettes D prangen. Haben wir uns
verstanden?«
Ich lasse meine Bücher als Antwort mit einem lauten
Knall auf den Boden fallen.
Nachdem Mrs P. den Test ausgeteilt hat, lese ich
die erste Frage. Die Dichte von Al (Aluminium) ist 2,7
g/cm3. Welches Volumen haben 10,5 Gramm Al
(Aluminium)?
Ich berechne die Antwort und gucke zu Brittany
rüber. Sie starrt mit leerem Blick auf den Test vor sich.
Als sie bemerkt, dass ich sie ansehe, schnaubt sie.
»Was ist?«
»Nichts. Nada.«
»Dann hör auf, mich anzustarren.«
Mrs P. beobachtet uns genau. Ich atme tief durch,
um mich abzuregen, und bearbeite weiter meinen Test. Muss Brittany
so unberechenbar sein und ohne Vorwarnung zwischen heiß und kalt
wechseln? Was ist der Grund dafür?
Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie meine
Chemiepartnerin sich den Toilettenpass von seinem Haken neben der
Zimmertür nimmt. Das Problem dabei ist, der Toilettenpass hilft
einem nicht dabei, vor dem Leben davonzulaufen. Es ist immer noch
da und wartet auf einen, wenn man von der Toilette zurückkommt.
Glaubt mir, ich habe es versucht. Probleme und Mist lösen sich
nicht in Luft auf, während man sich auf dem Klo verkriecht.
Zurück im Klassenzimmer legt Brittany ihren Kopf
auf die Tischplatte, während sie die Antworten kritzelt. Ein kurzer
Blick genügt und ich weiß, dass sie nicht bei der Sache ist, das
Mädchen gibt sich keine große Mühe. Und als Mrs P. allen befiehlt,
ihre Blätter abzugeben, ist der Gesichtsausdruck meiner
Chemiepartnerin vollkommen ausdruckslos.
»Wenn es dir hilft«, sage ich so leise, dass nur
Brittany mich hören kann, »ich bin in der Achten in
Gesundheitserziehung
durchgefallen, weil ich der Übungspuppe eine angezündete Zigarette
in den Mund gesteckt habe.«
Ohne hochzusehen sagt sie: »Schön für dich.«
Musik dringt aus den Lautsprechern und zeigt das
Ende der Stunde an. Ich beobachte, wie Brittanys goldenes Haar
weniger als sonst auf und ab wippt, als sie aus der Klasse trottet.
Komischerweise ist ihr Freund nicht an ihrer Seite. Ich frage mich,
ob sie denkt, alles müsse ihr in den Schoß fallen, sogar gute
Noten.
Ich muss mir alles, was ich haben möchte, hart
erarbeiten. Nichts landet in meinem Schoß.
»Hiya, Alex.« Carmen steht vor meinem Spind. Okay,
manche Dinge fallen mir in den Schoß.
»¿Que pasa?«
Meine Ex-Freundin beugt sich zu mir, das V ihres
T-Shirts ist extra tief ausgeschnitten. »Ein paar von uns wollen
nach der Schule an den Strand. Kommst du mit?«
»Ich muss arbeiten«, antworte ich. »Vielleicht
komme ich später nach.«
Ich denke an das Wochenende vor zwei Wochen.
Nachdem ich bei Brittany vorbeigefahren war, nur damit ihre Mutter
mich zusammenstauchen konnte, ist etwas in mir ausgeklinkt.
Mich zu betrinken, um mein verletztes Ego zu
betäuben, war eine dämliche Idee. Ich wollte Zeit mit Brittany
verbringen, nicht nur mit ihr zusammen sein, um zu lernen, sondern
um herauszufinden, was sich unter diesem Wust blonder Locken
verbirgt. Meine Chemiepartnerin hat mich in die Wüste geschickt,
Carmen nicht. Die Erinnerung ist verschwommen, aber ich erinnere
mich an Carmen im See, die ihren Körper um meinen geschlungen hat.
Und die beim Feuer auf mir saß, als wir etwas sehr viel Stärkeres
als eine Marlboro geraucht haben. So breit und down wie ich war,
hätte sich jedes Mädchen gut angefühlt.
Carmen war da und willig und ich schulde ihr noch
eine Entschuldigung, denn selbst wenn sie sich mir angeboten hat,
hätte ich die Finger aus der Keksdose lassen sollen. Ich muss
nachher zum Strand und ihr mein abartiges Verhalten erklären.
Nach der Schule entdecke ich eine Menschentraube um
mein Motorrad. Verdammt, wenn Julio auch nur einen Kratzer
abbekommt, werde ich jemanden dafür zahlen lassen. Ich muss mich
nicht durch die Menge drängen, weil sich ein Spalier für mich
öffnet, als ich mich nähere.
Sie lassen mich nicht aus den Augen, als ich den
Vandalismus an meinem Motorrad entdecke. Alle erwarten von mir,
dass ich jetzt ausraste. Wer würde sich schon trauen, eine
pinkfarbene Dreiradhupe an Julios Lenker zu montieren und
glitzernde Bänder an die Enden seiner Handgriffe zu kleben? Niemand
kommt mit diesem Mist durch.
Außer Brittany.
Ich suche die Umgebung nach ihr ab, aber sie ist
nicht da.
»Ich war es nicht«, sagt Lucky schnell.
Alle anderen murmeln, dass sie es ebenfalls nicht
gewesen seien.
Dann fliegen gemurmelte Vermutungen, wer es denn
gewesen sein könnte, von Mund zu Mund. »Colin Adams, Greg Hanson …«
Ich höre gar nicht hin, weil ich nur allzu genau weiß, wer die
Schuldige ist. Es ist meine Chemiepartnerin, diejenige, die mich
den ganzen Tag ignoriert hat.
Ich reiße die flatternden Glitzerbänder mit einem
Ruck vom Lenker, dann montiere ich die pinkfarbene Plastikhupe ab.
Pink. Ich frage mich, ob sie wohl irgendwann ihr gehört hat.
»Aus dem Weg«, befehle ich der Menge. Alle weichen
schnell zur Seite, da sie vermuten, dass mein Wutpegel gewaltig
ist, und sie nicht ins Kreuzfeuer geraten wollen. Manchmal hat es
seine Vorteile, als Gangster verschrien zu sein. Die Wahrheit? Ich
werde
die pinkfarbene Hupe und die Glitzerbänder als Vorwand benutzen,
um noch mal mit Brittany zu reden.
Nachdem die Menge sich zerstreut hat, gehe ich zum
Footballfeld rüber. Die Cheerleader sind da und trainieren wie
immer.
»Suchst du jemanden?«
Ich drehe mich zu Darlene Boehm um, einer Freundin
von Brittany. »Ist Brittany in der Nähe?«, frage ich.
»Nö.«
»Weißt du, wo sie ist?«
Alex Fuentes, der nach dem Aufenthaltsort von
Brittany Ellis fragt? Ich rechne damit, dass sie mir an den Kopf
werfen wird, das gehe mich nichts an. Oder dass ich sie gefälligst
in Ruhe lassen solle.
Stattdessen sagt ihre Freundin: »Sie ist nach Hause
gegangen.«
Ich murmle ein »Danke«, drehe mich um und kehre zu
Julio zurück, während ich die Nummer meines Cousins wähle.
»Enriques Autowerkstatt?«
»Hier ist Alex. Ich komme heute etwas später zur
Arbeit.«
»Musst du wieder nachsitzen?«
»Nein, nichts dergleichen.«
»Solange du dich noch um den Lexus von Chuy
kümmerst. Ich habe ihm versprochen, er könne ihn um sieben abholen
und du weißt, wie Chuy drauf ist, wenn man seine Versprechen nicht
hält.«
»Kein Problem«, versichere ich ihm. Chuy ist einer
der Leute der Latino Blood, mit dem man sich besser nicht anlegt;
der Kerl, der ohne Empathiechip im Hirn geboren wurde. Wenn einer
illoyal ist, liegt es in Chuys Händen, ihn entweder zur Loyalität
zu zwingen oder sicherzustellen, dass er niemals reden wird. Und
das tut er mit allen verfügbaren Mitteln – da kannst du um dein
Leben schreien und betteln.
»Ich werde da sein.«
Als ich zehn Minuten später mit der pinkfarbenen
Hupe und den Glitzerbändern in der Hand an die Haustür der
Ellis-Familie klopfe, versuche ich es mit der
Ich-bin-ein-cooler-Bastard-Pose.
Doch Brittanys Anblick – sie öffnet die Tür in
einem weiten T-Shirt und Shorts – haut mich völlig um.
Ihre hellblauen Augen weiten sich vor Erstaunen.
»Alex, was tust du hier?«
Ich halte ihr wortlos die Hupe und die Bänder
hin.
Sie reißt sie mir aus der Hand. »Ich kann nicht
glauben, dass du wegen einem Streich hergekommen bist.«
»Wir haben Dinge zu bereden. Und damit meine ich
nicht nur den Streich.«
Sie schluckt nervös. »Ich fühle mich nicht so toll,
okay? Lass uns in der Schule reden.« Sie versucht, die Tür zu
schließen.
Scheiße, ich kann nicht glauben, dass ich mich
verhalte, wie so ein Stalkertyp in einem schlechten Film. Ich
stelle einen Fuß in die Tür. ¡Qué mierda!
»Alex, nicht.«
»Lass mich rein. Nur für eine Minute. Bitte.«
Sie schüttelt den Kopf, ihre Engelslocken tanzen um
ihr Gesicht. »Meine Eltern mögen es nicht, wenn ich Freunde da
habe.«
»Sind sie zu Hause?«
»Nein.« Sie seufzt, dann öffnet sie zögernd die
Tür.
Ich trete ein. Das Haus ist sogar noch größer als
es von draußen aussieht. Die Wände sind strahlend weiß gestrichen,
es erinnert mich an ein Krankenhaus. Ich schwöre, kein Staubkorn
würde es wagen, auf dem Boden oder den Möbeln zu landen. Die
zweigeschossige Eingangshalle wartet mit einer Treppe auf, die
derjenigen Konkurrenz macht, die ich in The Sound of
Music gesehen habe, einem Film, den wir in der Junior High
gucken mussten. Der Boden glänzt, als sei er nass.
Brittany hatte recht. Ich gehöre hier nicht
hierher. Aber das ist egal, denn auch wenn ich nicht an diesen Ort
gehöre, ist sie hier und ich möchte sein, wo sie ist.
»Worüber wolltest du mit mir reden?«, fragt
sie.
Ich wünschte, ihre langen schlanken Beine würden
nicht so aufreizend aus ihrer Shorts wachsen. Sie lenken mich ab.
Ich wende den Blick von ihnen ab und versuche verzweifelt, einen
klaren Gedanken zu fassen. Na und, dann hat sie eben sexy Beine.
Dann hat sie eben Augen, so klar wie Glasmurmeln. Dann kann sie
eben einen Spaß wie ein Mann nehmen und mit gleicher Münze
heimzahlen.
Wem versuche ich etwas vorzumachen? Ich habe keinen
anderen Grund, hier zu sein, als den, dass ich bei ihr sein möchte.
Scheiß auf die Wette.
Ich möchte wissen, was dieses Mädchen zum Lachen
bringt. Ich möchte wissen, was sie zum Weinen bringt. Ich möchte
wissen, wie es sich anfühlt, wenn sie mich ansieht, als sei ich ihr
Ritter in strahlender Rüstung.
»Biwiee!«, tönt eine entfernte Stimme durch das
Haus. Sie bricht das Schweigen.
»Warte hier«, befiehlt Brittany. Dann eilt sie den
Flur entlang nach rechts. »Ich bin gleich zurück.«
Ich werde hier nicht wie bestellt und nicht
abgeholt in der Eingangshalle rumstehen. Ich folge ihr in der
Erwartung, jeden Moment einen Blick in ihre private Welt zu
erhaschen.