Brittany
Drei Monate später
Der August riecht in Colorado definitiv anders als in Illinois. Ich schüttle mein Haar, das ich neuerdings kurz trage, und halte mich nicht damit auf, die Locken zu glätten, während ich meine Kisten in meinem Wohnheimzimmer an der Uni auspacke.
Meine Mitbewohnerin Lexie ist aus Arkansas. Sie sieht aus wie eine kleine Fee, klein und niedlich. Sie könnte glatt eine Nachfahrin von Tinkerbell sein. Ich schwöre, ich habe sie noch nie die Stirn runzeln sehen. Sierra, die an der Uni von Illinois studiert, hatte nicht so viel Glück mit ihrer Mitbewohnerin Dara. Das Mädchen hat den Schrank und das Zimmer strikt zwischen ihnen aufgeteilt und steht jeden Tag (auch am Wochenende) um halb sechs auf, um auf ihrer Zimmerseite Sport zu machen. Sierra ist deswegen ziemlich unglücklich, aber sie verbringt die meiste Zeit in Dougs Wohnheimzimmer, also ist es nicht ganz so schlimm.
»Bist du sicher, dass du nicht mitkommen möchtest?«, fragt Lexie mich. Man hört ihr die Südstaatlerin bei jedem Wort an. Sie geht mit ein paar anderen Erstsemestern auf den Campus, wo eine Willkommensparty stattfinden soll.
»Ich muss noch fertig auspacken und dann gehe ich meine Schwester besuchen. Ich habe ihr versprochen vorbeizukommen, sobald ich ausgepackt habe.«
»Okay«, sagt Lexie und kramt Kleidungsstücke hervor, die sie anprobiert, um den perfekten Look für den Abend zu finden. Als sie sich für ein Outfit entschieden hat, frisiert sie ihr Haar und legt Make-up auf. Es erinnert mich an mein altes Ich, dasjenige, das die ganze Zeit damit beschäftigt war, die Erwartungen der anderen zu erfüllen.
Als Lexie eine halbe Stunde später geht, setze ich mich auf mein Bett und ziehe mein Handy aus der Tasche. Ich klappe es auf und starre das Bild von Alex und mir an. Ich hasse mich dafür, dass ich den Drang verspüre, es anzugucken. Ich habe schon so oft versucht, mich zu zwingen, die Bilder zu löschen, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Aber ich kann es nicht.
Ich greife in die Schublade meines Schreibtisches und ziehe Alex’ Bandana hervor. Es ist frisch und sauber und zu einem Viereck gefaltet. Ich berühre den weichen Stoff und erinnere mich, wie Alex es mir gegeben hat. Für mich repräsentiert es nicht die Latino Blood. Es repräsentiert Alex.
Mein Handy klingelt und katapultiert mich zurück in die Gegenwart. Es ist jemand von Sunny Acres. Als ich drangehe, höre ich am anderen Ende eine Frauenstimme.
»Spreche ich mit Brittany Ellis?«
»Ja.«
»Hier ist Georgia Jackson, von Sunny Acres. Shelley geht es gut, sie wollte nur wissen, ob Sie vor oder nach dem Abendessen kommen.«
Ich werfe einen Blick auf meine Armbanduhr. Es ist halb fünf. »Sagen Sie ihr, ich bin in einer Viertelstunde da. Ich gehe jetzt los.«
Nachdem ich das Gespräch beendet habe, lege ich das Bandana in die Schublade zurück und werfe das Handy in meine Handtasche.
Mit dem Bus ans andere Ende der Stadt zu fahren dauert nicht lange und schon gehe ich auf die Eingangshalle von Sunny Acres zu, wo meine Schwester laut der Empfangsdame auf mich wartet.
Ich sehe Georgia Jackson zuerst. Sie war die Verbindung zwischen Shelley und mir, als ich alle paar Tage angerufen habe, um zu fragen, wie es ihr geht. Sie begrüßt mich mit einem freundlichen und warmherzigen Willkommen.
»Wo ist Shelley?«, frage ich und blicke mich suchend um.
»Sie spielt mal wieder Dame«, sagt Georgia und deutet in eine Ecke. Shelley sitzt abgewandt von mir, aber ich erkenne ihren Hinterkopf und ihren Rollstuhl.
Sie quietscht freudig, was ein Hinweis darauf ist, dass sie das Spiel gewonnen hat.
Als ich näher komme, erhasche ich einen Blick auf die Person, die mit ihr spielt. Das dunkle Haar hätte mich darauf vorbereiten müssen, dass mein Leben jeden Moment Kopf stehen würde, aber ich begreife nicht sofort. Und dann bin ich wie gelähmt.
Es kann nicht sein. Meine Fantasie muss mir einen Streich spielen.
Aber als er sich umdreht und sein Blick in meinen taucht, durchfährt mich die Realität wie ein Blitz.
Alex ist hier. Zehn Schritte entfernt von mir. Oh Gott, alle Gefühle, die ich je für ihn empfunden habe, kommen mit aller Macht zurück und erfassen mich wie eine Flutwelle. Ich weiß nicht, was ich tun oder sagen soll. Ich drehe mich zu Georgia um, weil ich mich frage, ob sie wusste, dass Alex hier ist. Ein Blick in ihr hoffnungsvolles Gesicht verrät mir alles, was ich wissen muss.
»Brittany ist hier«, höre ich ihn zu Shelley sagen, bevor er aufsteht und ihren Rollstuhl behutsam umdreht, damit sie mich sehen kann.
Ich gehe auf meine Schwester zu wie ein Roboter und umarme sie fest. Als ich sie loslasse, steht Alex direkt vor mir. Er trägt khakifarbene Chinos und ein blaukariertes Hemd. Ich starre ihn sprachlos an, mein Magen ist in Aufruhr und mir ist schwindelig. Um mich herum verschwimmt alles, bis ich nur noch ihn wahrnehme.
Endlich finde ich meine Stimme wieder. »A-Alex …? W-was machst du hier?«, frage ich stotternd.
Er zuckt mit den Schultern. »Ich hatte Shelley eine Revanche versprochen, oder?«
Wir stehen hier und starren einander an. Eine unsichtbare Macht hindert mich daran, den Blick abzuwenden. »Du bist den ganzen Weg nach Colorado gekommen, um Dame mit meiner Schwester zu spielen?«
»Na ja, das ist nicht der einzige Grund. Ich gehe hier aufs College. Mrs P. und Dr. Aguirre haben mir geholfen, den Abschluss zu machen, nachdem ich aus der Gang ausgestiegen bin. Ich habe Julio verkauft. Und ich habe einen Job als studentische Hilfskraft ergattert und einen Kredit aufgenommen.«
Alex? Am College? Die Ärmel seines Hemdes, die sorgfältig an den Handgelenken zugeknöpft sind, verbergen die meisten seiner Latino-Blood-Tattoos. »Du bist ausgestiegen? Du hast doch gesagt, das sei zu gefährlich. Du hast gemeint, die Leute, die es versuchten, würden dabei sterben.«
»Ich bin auch fast draufgegangen. Wenn Gary Frankel nicht gewesen wäre, stünde ich heute wahrscheinlich nicht hier …«
»Gary Frankel?« Der netteste Horst der Schule? Jetzt erst sehe ich mir Alex’ Gesicht genauer an und entdecke eine blasse, neue Narbe über seinem Auge und ein paar üble an seinem Ohr und Hals. »Oh Gott! W-was haben sie m-mit dir gemacht?«
Er nimmt meine Hand und legt sie auf seine Brust. Seine Augen sind dunkel und haben diesen intensiven Blick, wie an jenem ersten Tag des Schuljahres, als wir uns auf dem Parkplatz gegenüberstanden. »Ich habe eine Weile gebraucht, bis mir klar wurde, dass ich die Dinge in Ordnung bringen muss. Die Entscheidungen, die ich getroffen hatte. Die Gang. Dermaßen verprügelt zu werden, bis kaum noch Leben in mir war und wie Vieh gebrandmarkt zu werden, war nichts, verglichen damit, dich verloren zu haben. Wenn ich jedes einzelne Wort zurücknehmen könnte, das ich im Krankenhaus zu dir gesagt habe, würde ich es tun. Ich dachte damals, wenn ich dich wegstoße, würde ich dich vor dem beschützen, was mit Paco und mi papá passiert ist.« Er hebt den Kopf und sein Blick bohrt sich in meinen. »Ich werde dich nie wieder wegstoßen, Brittany. Niemals. Das schwöre ich.«
Verprügelt? Gebrandmarkt? Mir dreht sich der Magen um und Tränen schießen in meine Augen.
»Schhh.« Er legt seine Arme um mich und kreist mit den Händen über meinen Rücken. »Ist schon gut. Mir fehlt nichts«, wiederholt er immer wieder, seine Stimme lullt mich ein.
Er fühlt sich so gut an. Das hier fühlt sich so gut an.
Er presst seine Stirn an meine. »Ich muss dir etwas sagen. Ich bin die Wette eingegangen, weil ich tief drinnen wusste, dass es mich umbringen würde, wenn ich Gefühle für dich entwickle. Und so war es auch fast. Du bist das einzige Mädchen, für das ich bereit war, alles zu riskieren und mir eine echte Zukunft zu erkämpfen.« Er tritt einen Schritt zurück, um mir in die Augen sehen zu können. »Es tut mir so leid. Mujer, sag mir, was du willst und ich werde es tun. Wenn es dich glücklich macht, werde ich dich für den Rest deines Lebens in Ruhe lassen. Aber wenn du mich noch immer willst, werde ich mein Bestes geben, um so zu sein … Er zeigt auf seine Kleidung. »Wie kann ich dir beweisen, dass ich mich geändert habe?«
»Auch ich bin nicht mehr dieselbe«, sage ich. »Ich bin nicht mehr das Mädchen, das ich einmal war. Und es tut mir leid, aber diese Klamotten … das bist nicht du.«
»Es ist, was du willst.«
»Da irrst du dich, Alex. Ich will dich. Nicht ein aufgesetztes Image. Du hast mir in Jeans und T-Shirt sehr viel besser gefallen, weil das du warst.«
Er sieht an sich hinunter und grinst. »Du hast recht.« Dann hebt er den Blick wieder. »Du hast mal gesagt, du liebst mich. Tust du das noch immer?«
Meine Schwester beobachtet uns. Sie schenkt mir ein warmes Lächeln, das mir die Stärke verleiht, ihm die Wahrheit zu sagen. »Ich habe nie aufgehört, dich zu lieben. Sogar, als ich verzweifelt versucht habe, dich zu vergessen, konnte ich es nicht.«
Er atmet langsam aus und reibt sich erleichtert die Stirn. Seine Augen wirken glasig, sie spiegeln die Gefühle, die in seinem Inneren toben. Ich spüre, dass meine Augen sich erneut mit Tränen füllen und kralle mich an seinem Hemd fest. »Ich möchte nicht ständig kämpfen müssen, Alex. Mit jemandem zusammen zu sein, sollte Spaß machen. Liebe sollte sich gut anfühlen.« Ich ziehe ihn zu mir. Ich möchte seine Lippen auf meinen spüren. »W-wird sie das je für uns sein?«
Unsere Lippen berühren sich beinah, doch dann löst er sich von mir und …
Oh. Mein Gott.
Er kniet vor mir, hält meine Hände in seinen und mein Herz setzt nicht nur einen, sondern gleich mehrere Schläge aus. »Brittany Ellis, ich werde dir beweisen, dass in mir der Mann steckt, an den du vor zehn Monaten geglaubt hast und dass dieser Mann alles erreichen kann, was du dir für ihn erträumt hast. Ich plane, dich heute in vier Jahren zu fragen, ob du mich heiraten willst, an dem Tag, an dem wir unseren Abschluss machen.« Er legt den Kopf auf die Seite, während seine Stimme einen neckenden Unterton annimmt. »Und ich garantiere dir lebenslangen Spaß, gewürzt mit handfesten Streitereien, da du eine mamacita mit viel Feuer bist … Auf den Versöhnungssex freue ich mich jedenfalls schon sehr. Vielleicht können wir eines Tages sogar nach Fairfield zurückkehren und dazu beitragen, dass es der Ort wird, von dem mein Vater immer geträumt hat. Du, ich und Shelley. Und jedes andere Mitglied der Fuentes-oder Ellis-Familie, das Teil unseres Lebens sein möchte. Wir werden eine einzige, große, verrückte mexikanisch-amerikanische Familie sein. Was meinst du? Mujer, du hältst mein Herz in deinen Händen.«
Ich kann nicht anders als lächeln, während ich mir eine einsame Träne abwische, die meine Wange hinunterrollt. Wie könnte ich nicht verrückt nach diesem Kerl sein? Die lange Zeit, die wir getrennt waren, hat daran nichts geändert. Ich kann ihm eine zweite Chance nicht verwehren. Damit würde ich mich selbst verleugnen.
Es ist Zeit, das Risiko einzugehen, aufs Neue zu vertrauen.
»Shelley, meinst du, sie nimmt mich zurück?«, fragt Alex meine Schwester. Seine Haare sind gefährlich nahe bei ihren Händen. Aber sie zieht nicht daran, sondern streichelt nur sanft über seinen Kopf. Da laufen mir die Tränen unaufhaltsam die Wangen hinunter.
»Jaaa!«, brüllt Shelley mit einem strahlenden, schiefen Grinsen. Sie sieht so glücklich und zufrieden aus, wie schon seit Langem nicht mehr. Die beiden Menschen, die ich auf dieser Welt am meisten liebe, sind hier bei mir. Was könnte ich mir sonst noch wünschen?
»Was ist dein Hauptfach?«, frage ich.
Alex wirft mir sein unwiderstehliches Lächeln zu. »Chemie. Und deins?«
»Chemie.« Ich schlinge die Arme um seinen Nacken. »Küss mich, damit wir sehen, ob wir es immer noch draufhaben. Denn du besitzt mein Herz, meine Seele und alles andere auch.«
Seine Lippen senken sich endlich auf meine und der Feuersturm, den sie in mir entfachen, ist machtvoller als je zuvor.
Wow. In diesem Moment ist die Welt endlich in den Fugen und ich habe meine kosmische Wiederholungstaste bekommen, ohne dass ich darum gebeten hätte.
Du oder das ganze Leben
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