54
Alex
Der Deal soll hier stattfinden, im Naturschutzgebiet von Busse Woods.
Der Parkplatz und das Gebüsch dahinter liegen im Dunkeln. Ein Hauch von Mondlicht weist mir den Weg. Der Platz ist vollkommen verlassen, bis auf einen blauen Sedan, dessen Lichter an sind. Ich laufe weiter in den Wald und entdecke die Umrisse einer dunklen Gestalt auf dem Boden.
Ich renne los, von Grauen gepackt. Als ich näher komme, erkenne ich meine Jacke. Es ist, als sähe ich meinen eigenen Tod vor mir.
Ich knie mich auf den Boden und drehe den Körper langsam um.
Paco.
»Scheiße, nein«, schreie ich, als ich fühle, wie sein warmes, feuchtes Blut meine Hände tränkt.
Pacos Augen sind verhangen, aber er bewegt langsam seine Hand und klammert sich an meinen Arm. »Ich hab’s versaut.«
Ich lege Pacos Kopf auf meinem Oberschenkel. »Ich hab dir doch gesagt, du sollst dich aus meinen Leben raushalten. Stirb mir jetzt bloß nicht, wage es ja nicht, mir jetzt wegzusterben«, würge ich hervor. »Heilige Scheiße, du blutest überall.«
Helles rotes Blut fließt aus seinem Mund.
»Ich habe Angst«, flüstert er und krümmt sich vor Schmerzen.
»Bleib bei mir. Halte durch und alles wird gut.« Ich drücke Paco fest an mich und weiß nur zu genau, dass ich ihn gerade belogen habe. Mein bester Freund liegt im Sterben. Daran ist nichts zu ändern. Ich spüre seine Schmerzen, als wären es meine eigenen.
»Sieh an, sieh an. Alex’ Double und sein Kumpel, der wahre Alex. Was für eine Halloweennacht, meint ihr nicht auch?«
Ich wende mich in die Richtung, aus der Hectors Stimme kommt.
»Zu schade, dass ich nicht realisiert habe, dass ich auf Paco schieße«, fährt er fort. »Dabei seht ihr zwei bei Tageslicht so unterschiedlich aus. Ich schätze, ich sollte mal zum Augenarzt gehen.« Er richtet eine Waffe auf mich.
Ich habe keine Angst. Ich bin stinkwütend. Und ich will endlich ein paar Antworten. »Warum hast du das getan?«
»Wenn du das wirklich wissen willst … dein Vater ist schuld. Er wollte aussteigen. Aber das ist unmöglich, Alex. Er war der Beste, den wir hatten, dein padre. Kurz bevor er starb, hat er versucht auszusteigen. Dieser letzte Drogendeal war seine Herausforderung, Alex. Ein Vater-Sohn-Drogendeal. Wenn ihr ihn beide überlebt hättet, wäre er frei gewesen.« Er lacht, ein meckerndes Geräusch, das in meinen Ohren vibriert. »Der dämliche Hurensohn hatte keine Chance. Und du gleichst deinem alten Herrn leider viel zu sehr. Ich dachte, ich könnte dich anlernen, damit du seinen Platz als großer Drogen- und Waffenhändler einnehmen kannst. Aber nein, du bist wirklich genau wie dein alter Herr. Ein Drückeberger … un rajado
Ich sehe auf Paco hinunter. Er atmet kaum noch, seinen Lungen entweicht so gut wie keine Luft mehr. Während ich auf seine blutverschmierte Brust starre, auf das größer werdende rote Mal, muss ich an papá denken. Doch heute bin ich keine sechs Jahre mehr alt. Ich sehe alles völlig klar.
Mein Blick und Pacos tauchen für eine gefühlte Ewigkeit ineinander.
»Die Latino Blood hat uns beide betrogen«, sind Pacos letzte Worte, dann verdunkelt sich sein Blick und er sackt in meinen Armen zusammen.
»Jetzt lass ihn schon los, Alex! Er ist tot. Genau wie dein alter Herr. Steh auf und kämpfe!«, ruft Hector. Er fuchtelt mit der Waffe in der Luft herum wie ein Geistesgestörter.
Ich lege Pacos leblosen Körper behutsam auf den Boden und richte mich auf, bereit für den Kampf.
»Lege die Hände an den Kopf, sodass ich sie sehen kann. Weißt du was, Alex? Als ich el vjejo gekillt habe, hast du wie ein escuincle geweint, wie ein Baby. Du hast in meinen Armen geweint, in den Armen des Mannes, der ihn getötet hatte. Ironisch, was?«
Ich war erst sechs. Wenn ich gewusst hätte, dass es Hector war, wäre ich niemals im Leben ein Latino Blood geworden. »Warum hast du es getan, Hector?«
»Junge, du wirst es nie lernen, oder? Sieh mal, tu papá dachte, er sei etwas Besseres als ich. Dem hab ich’s gezeigt, was? Er hat gemeint, die Southside von Fairfield sei eine Nummer zu groß für uns, da die Highschool in einer reichen Gegend liege. Hat gesagt, in Fairfield gäbe es keine Gangs. Ich habe das geändert, Alex. Ich habe meine Jungs da reingeschickt und dafür gesorgt, dass sämtliche Haushalte mir gehörten. Es hieß, entweder mit mir paktieren oder alles verlieren. Das, mein Junge, macht mich zu el jefe.«
»Es macht dich zu einem Größenwahnsinnigen.«
»Größenwahninnig. Genial. Alles ein und dasselbe.« Hector stößt mich mit der Waffe an. »Jetzt geh auf die Knie. Ich finde, hier ist ein guter Platz für dich zum Sterben. Mitten im Wald, wie ein Tier. Willst du wie ein Tier sterben, Alex?«
»Das Tier bist du, Arschloch. Schau mir gefälligst in die Augen, wenn du mich umbringst wie meinen Vater.«
Als Hector um mich herum geht, ergreife ich verzweifelt meine Chance: Ich schnappe mir sein Handgelenk und zwinge ihn mit aller Kraft zu Boden.
Hector flucht und ist schnell wieder auf den Beinen, die Waffe noch immer in der Hand. Ich nutzte seine Orientierungslosigkeit und trete ihn in die Seite, doch Hector fährt blitzschnell herum und zieht mir mit dem Griff seiner Waffe einen über. Ich falle auf die Knie und verfluche insgeheim die Tatsache, dass ich nicht unbesiegbar bin. Allein der Gedanke an mi papá und Paco verleiht mir die Stärke, gegen den Schwindel anzukämpfen. Ich bin mir nur allzu bewusst, dass Hector sich in Position bringt, um einen gut gezielten Schuss auf mich abzufeuern.
Ich schnelle hoch, verpasse Hector einen Tritt und komme stolpernd auf die Füße.
Hectors Glock zielt genau auf meine Brust.
»Hier spricht die Polizei von Arlington Heights! Lassen Sie die Waffe fallen und heben Sie Ihre Hände hoch, dass wir sie sehen können!«
Durch die Bäume und meinen getrübten Blick kann ich die rot und blau blinkenden Lichter in der Entfernung kaum ausmachen.
Ich hebe die Hände. »Lass sie fallen, Hector. Das Spiel ist aus.«
Hector hält die Waffe weiter auf meine Brust gerichtet. Seine Hand ist vollkommen ruhig.
»Lassen Sie die Waffe fallen!«, ruft die Polizei. »Sofort!«
Hectors Blick wird wild. Ich spüre seine rasende Wut über die zwei Meter hinweg, die uns trennen.
Ich weiß, dass er es tun wird. Es un cabrón.
Er wird den Abzug drücken.
»Du irrst dich, Alex«, sagt er. »Das Spiel hat gerade erst begonnen.«
Dann passiert alles sehr schnell. Ich bewege mich nach rechts, während er die Waffe mehrmals abfeuert.
Poff. Poff. Poff
Ich stolpere rückwärts und weiß, dass ich getroffen bin. Die Kugel sengt sich durch meine Haut, als würde jemand Tabasco in eine offene Wunde gießen.
Dann wird alles schwarz.
Du oder das ganze Leben
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