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Alex
Der Deal soll hier stattfinden, im
Naturschutzgebiet von Busse Woods.
Der Parkplatz und das Gebüsch dahinter liegen im
Dunkeln. Ein Hauch von Mondlicht weist mir den Weg. Der Platz ist
vollkommen verlassen, bis auf einen blauen Sedan, dessen Lichter an
sind. Ich laufe weiter in den Wald und entdecke die Umrisse einer
dunklen Gestalt auf dem Boden.
Ich renne los, von Grauen gepackt. Als ich näher
komme, erkenne ich meine Jacke. Es ist, als sähe ich meinen eigenen
Tod vor mir.
Ich knie mich auf den Boden und drehe den Körper
langsam um.
Paco.
»Scheiße, nein«, schreie ich, als ich fühle, wie
sein warmes, feuchtes Blut meine Hände tränkt.
Pacos Augen sind verhangen, aber er bewegt langsam
seine Hand und klammert sich an meinen Arm. »Ich hab’s
versaut.«
Ich lege Pacos Kopf auf meinem Oberschenkel. »Ich
hab dir doch gesagt, du sollst dich aus meinen Leben raushalten.
Stirb mir jetzt bloß nicht, wage es ja nicht, mir jetzt
wegzusterben«, würge ich hervor. »Heilige Scheiße, du blutest
überall.«
Helles rotes Blut fließt aus seinem Mund.
»Ich habe Angst«, flüstert er und krümmt sich vor
Schmerzen.
»Bleib bei mir. Halte durch und alles wird gut.«
Ich drücke Paco fest an mich und weiß nur zu genau, dass ich ihn
gerade belogen habe. Mein bester Freund liegt im Sterben. Daran ist
nichts zu ändern. Ich spüre seine Schmerzen, als wären es meine
eigenen.
»Sieh an, sieh an. Alex’ Double und sein Kumpel,
der wahre Alex. Was für eine Halloweennacht, meint ihr nicht
auch?«
Ich wende mich in die Richtung, aus der Hectors
Stimme kommt.
»Zu schade, dass ich nicht realisiert habe, dass
ich auf Paco schieße«, fährt er fort. »Dabei seht ihr zwei bei
Tageslicht so unterschiedlich aus. Ich schätze, ich sollte mal zum
Augenarzt gehen.« Er richtet eine Waffe auf mich.
Ich habe keine Angst. Ich bin stinkwütend. Und ich
will endlich ein paar Antworten. »Warum hast du das getan?«
»Wenn du das wirklich wissen willst … dein Vater
ist schuld. Er wollte aussteigen. Aber das ist unmöglich, Alex. Er
war der Beste, den wir hatten, dein padre. Kurz bevor er
starb, hat er versucht auszusteigen. Dieser letzte Drogendeal war
seine Herausforderung, Alex. Ein Vater-Sohn-Drogendeal. Wenn ihr
ihn beide überlebt hättet, wäre er frei gewesen.« Er lacht, ein
meckerndes Geräusch, das in meinen Ohren vibriert. »Der dämliche
Hurensohn hatte keine Chance. Und du gleichst deinem alten Herrn
leider viel zu sehr. Ich dachte, ich könnte dich anlernen, damit du
seinen Platz als großer Drogen- und Waffenhändler einnehmen kannst.
Aber nein, du bist wirklich genau wie dein alter Herr. Ein
Drückeberger … un rajado.«
Ich sehe auf Paco hinunter. Er atmet kaum noch,
seinen Lungen entweicht so gut wie keine Luft mehr. Während ich auf
seine blutverschmierte Brust starre, auf das größer werdende rote
Mal, muss ich an papá denken. Doch heute bin ich keine sechs
Jahre mehr alt. Ich sehe alles völlig klar.
Mein Blick und Pacos tauchen für eine gefühlte
Ewigkeit ineinander.
»Die Latino Blood hat uns beide betrogen«, sind
Pacos letzte Worte, dann verdunkelt sich sein Blick und er sackt in
meinen Armen zusammen.
»Jetzt lass ihn schon los, Alex! Er ist tot. Genau
wie dein alter Herr. Steh auf und kämpfe!«, ruft Hector. Er
fuchtelt mit der Waffe in der Luft herum wie ein
Geistesgestörter.
Ich lege Pacos leblosen Körper behutsam auf den
Boden und richte mich auf, bereit für den Kampf.
»Lege die Hände an den Kopf, sodass ich sie sehen
kann. Weißt du was, Alex? Als ich el vjejo gekillt habe,
hast du wie ein escuincle geweint, wie ein Baby. Du hast in
meinen Armen geweint, in den Armen des Mannes, der ihn getötet
hatte. Ironisch, was?«
Ich war erst sechs. Wenn ich gewusst hätte, dass es
Hector war, wäre ich niemals im Leben ein Latino Blood geworden.
»Warum hast du es getan, Hector?«
»Junge, du wirst es nie lernen, oder? Sieh mal,
tu papá dachte, er sei etwas Besseres als ich. Dem hab ich’s
gezeigt, was? Er hat gemeint, die Southside von Fairfield sei eine
Nummer zu groß für uns, da die Highschool in einer reichen Gegend
liege. Hat gesagt, in Fairfield gäbe es keine Gangs. Ich habe das
geändert, Alex. Ich habe meine Jungs da reingeschickt und dafür
gesorgt, dass sämtliche Haushalte mir gehörten. Es hieß, entweder
mit mir paktieren oder alles verlieren. Das, mein Junge, macht mich
zu el jefe.«
»Es macht dich zu einem Größenwahnsinnigen.«
»Größenwahninnig. Genial. Alles ein und dasselbe.«
Hector stößt mich mit der Waffe an. »Jetzt geh auf die Knie. Ich
finde, hier ist ein guter Platz für dich zum Sterben. Mitten im
Wald, wie ein Tier. Willst du wie ein Tier sterben, Alex?«
»Das Tier bist du, Arschloch. Schau mir gefälligst
in die Augen, wenn du mich umbringst wie meinen Vater.«
Als Hector um mich herum geht, ergreife ich
verzweifelt meine Chance: Ich schnappe mir sein Handgelenk und
zwinge ihn mit aller Kraft zu Boden.
Hector flucht und ist schnell wieder auf den
Beinen, die Waffe noch immer in der Hand. Ich nutzte seine
Orientierungslosigkeit und trete ihn in die Seite, doch Hector
fährt blitzschnell herum und zieht mir mit dem Griff seiner Waffe
einen über. Ich falle auf die Knie und verfluche insgeheim die
Tatsache, dass ich nicht unbesiegbar bin. Allein der Gedanke an
mi papá und Paco verleiht mir die Stärke, gegen den
Schwindel anzukämpfen. Ich bin mir nur allzu bewusst, dass Hector
sich in Position bringt, um einen gut gezielten Schuss auf mich
abzufeuern.
Ich schnelle hoch, verpasse Hector einen Tritt und
komme stolpernd auf die Füße.
Hectors Glock zielt genau auf meine Brust.
»Hier spricht die Polizei von Arlington Heights!
Lassen Sie die Waffe fallen und heben Sie Ihre Hände hoch, dass wir
sie sehen können!«
Durch die Bäume und meinen getrübten Blick kann ich
die rot und blau blinkenden Lichter in der Entfernung kaum
ausmachen.
Ich hebe die Hände. »Lass sie fallen, Hector. Das
Spiel ist aus.«
Hector hält die Waffe weiter auf meine Brust
gerichtet. Seine Hand ist vollkommen ruhig.
»Lassen Sie die Waffe fallen!«, ruft die Polizei.
»Sofort!«
Hectors Blick wird wild. Ich spüre seine rasende
Wut über die zwei Meter hinweg, die uns trennen.
Ich weiß, dass er es tun wird. Es un
cabrón.
Er wird den Abzug drücken.
»Du irrst dich, Alex«, sagt er. »Das Spiel hat
gerade erst begonnen.«
Dann passiert alles sehr schnell. Ich bewege mich
nach rechts, während er die Waffe mehrmals abfeuert.
Poff. Poff. Poff
Ich stolpere rückwärts und weiß, dass ich getroffen
bin. Die Kugel sengt sich durch meine Haut, als würde jemand
Tabasco in eine offene Wunde gießen.
Dann wird alles schwarz.