24
Alex
Wir führen zum ersten Mal eine zivilisierte
Unterhaltung. Jetzt muss ich mir etwas einfallen lassen, um ihren
Verteidigungswall zu durchbrechen.
Oh Mann. Ich muss etwas von mir preisgeben, das
mich verwundbar macht. Wenn sie mich für verwundbar hält, statt für
ein Arschloch, habe ich vielleicht eine Chance bei ihr. Und
irgendwie weiß ich, dass sie es merken wird, wenn ich ihr etwas
vorlüge.
Ich bin nicht sicher, ob ich es wegen der Wette
tue, für unser Chemieprojekt oder für mich. Tatsache ist, es fühlt
sich gut an, nicht zu analysieren, was hier gerade passiert.
»Mein Vater ist direkt vor meinen Augen ermordet
worden, als ich sechs war«, sage ich leise.
Ihre Augen weiten sich. »Wirklich?«
Ich nicke. Ich rede nicht gern darüber und bin mir
nicht sicher, ob ich es könnte, selbst wenn ich es wollte.
Ihre manikürten Hände fahren unwillkürlich zu ihrem
Mund. »Das wusste ich nicht. Es tut mir so leid. Das muss schlimm
gewesen sein.«
»Stimmt.« Es rauszulassen, fühlt sich gut an. Mich
zu zwingen, es auszusprechen. Das nervöse Lächeln meines
papás, das sich in einen schockierten Gesichtsausdruck
verwandelte, kurz bevor er erschossen wurde.
Wow, unglaublich, dass ich mich an seinen
Gesichtsausdruck erinnere. Warum hätte sein Lächeln von einem
Schock abgelöst werden sollen? Dieses Detail hatte ich bis jetzt
ganz vergessen. Ich bin immer noch durcheinander, als ich mich
Brittany zuwende. »Wenn ich zu sehr an irgendwas hänge und es mir
weggenommen wird, fühle ich mich wie an dem Tag, an dem mein Vater
starb. So will ich mich nie wieder fühlen, also sorge ich dafür,
dass mir nichts etwas bedeutet.«
Ihre Miene ist voller Bedauern, Trauer und Mitleid.
Nichts davon ist aufgesetzt, das sehe ich.
Ihre Augenbrauen sind immer noch gerunzelt, als sie
sagt: »Danke, dass du es mir erzählt hast. Aber ich kann mir nicht
vorstellen, wie man es hinkriegt, dass einem nichts etwas bedeutet.
So kann man sich doch nicht programmieren.«
»Soll’n wir wetten?« Plötzlich will ich unbedingt
das Thema wechseln. »Du bist dran mit Erzählen.«
Sie wendet den Blick ab. Aus Angst, dass sie sich
dadurch der Situation bewusst werden und nach Hause fahren könnte,
dränge ich sie nicht, etwas zu sagen.
Ist es möglich, dass es für sie schwieriger ist,
mir einen kurzen Blick in ihr Leben zu gewähren? Mein Leben war
bisher dermaßen beschissen, dass es verdammt schwer zu glauben ist,
ihres könnte noch ätzender sein. Ich sehe zu, wie eine einzelne
Träne sich von ihrem Auge löst und schnell von ihr weggewischt
wird.
»Meine Schwester …«, beginnt sie. »Meine Schwester
hat Zerebralparese. Und sie ist geistig behindert. Zurückgeblieben,
nennen es die meisten Leute. Sie kann nicht laufen, sie benutzt
verbale Laute und nonverbale Hinweise statt Wörtern, weil sie nicht
sprechen kann …« Als sie das sagt, löst sich eine zweite Träne von
ihren Wimpern. Dieses Mal wischt sie sie nicht weg. Ich habe das
Bedürfnis, sie für sie abzuwischen, spüre aber, dass
sie meine Berührung im Moment nicht ertragen könnte. Sie holt tief
Luft. »Und sie ist wütend wegen irgendetwas, aber ich weiß nicht
weswegen. Sie hat angefangen, andere an den Haaren zu ziehen und
gestern hat sie dermaßen an meinen gezogen, dass mir ein ganzes
Büschel ausgerissen ist. Mein Kopf hat geblutet und meine Mutter
hat mich deswegen fertiggemacht.«
Daher also die mysteriöse kahle Stelle. Kein
Drogentest.
Zum ersten Mal tut sie mir leid. Ich hatte mir ihr
Leben märchenhaft vorgestellt, so als sei das Schlimmste, was ihr
passieren könnte, eine Erbse unter der Matratze, die sie nachts
wach hält.
Ich schätze, das ist nicht der Fall.
Etwas passiert gerade. Ich spüre die Veränderung in
der Luft. Als gäbe es mit einem Mal ein gegenseitiges Verständnis
füreinander. So etwas habe ich seit Ewigkeiten nicht mehr gefühlt.
Ich räuspere mich, dann sage ich: »Deine Mom lässt ihren Frust
wahrscheinlich meistens an dir aus, weil sie weiß, dass du es
wegsteckst.«
»Kann schon sein, lieber an mir als an meiner
Schwester.«
»Richtig ist es deswegen noch lange nicht.« Ich bin
ehrlich mit ihr und hoffe, sie ist es auch. »Hör zu, ich will mich
dir gegenüber nicht wie ein Arsch benehmen«, sage ich. So viel zur
Alex-Fuentes-Show.
»Ich weiß. Es ist dein Image, das was Alex Fuentes
ausmacht. Es ist dein Markenzeichen, dein Aushängeschild … Sexy
Mexikaner – gefährlich, tödlich, heiß. Ich bin schließlich die
absolute Meisterin im Image-Erfinden. Auch wenn ich nicht die
unterbelichtete Superblondine im Sinn hatte. Ich wollte mehr die
Perfekte, Unnahbare geben.«
Wahnsinn. Rückspultaste. Brittany hat mich gerade
heiß und sexy genannt. Damit hatte ich nicht gerechnet. Vielleicht
habe ich doch eine Chance, diese dämliche Wette zu gewinnen. »Du
weißt, dass du mich gerade heiß genannt hast.«
»Als ob das für dich was Neues wäre.«
Ich wusste nicht, dass Brittany Ellis mich
heiß findet. »Um das mal festzuhalten, ich dachte, du wärst
unnahbar. Aber jetzt, da ich weiß, dass du mich für einen heißen,
mexikanischen Sexgott hältst …«
»Das Wort ›Gott‹ habe ich nie gesagt.«
Ich lege den Finger an die Lippen. »Schhh, lass
mich diese Fantasie eine Minute genießen.« Ich schließe meine
Augen. Brittany lacht, ein himmlisches Geräusch in meinen
Ohren.
»Auf eine kranke Art und Weise verstehe ich dich
sogar, Alex. Aber es regt mich total auf, dass du dich wie ein
Neandertaler aufführst.« Als ich meine Augen öffne, sehe ich, dass
sie mich beobachtet. »Erzähl niemandem von meiner Schwester«, sagt
sie. »Ich mag es nicht, wenn die Leute etwas über mich
wissen.«
»Wir sind Protagonisten auf der Bühne unseres
eigenen Lebens und geben vor, das zu sein, was die Menschen in uns
sehen sollen.«
»Dann verstehst du sicher, warum es schlimm für
mich wäre, wenn meine Eltern herausfänden, dass wir … Freunde
sind.«
»Du würdest Ärger bekommen? Du bist achtzehn,
verdammt. Meinst du nicht, du kannst mit jedem befreundet sein, mit
dem du willst? Die Nabelschnur ist schon lange zerschnitten, weißt
du.«
»Du verstehst das nicht.«
»Erklär’s mir.«
»Warum willst du das alles wissen?«
»Sollten Chemiepartner nicht eine Menge über
einander wissen?«
Sie lacht auf. »Ich hoffe nicht.«
Die Wahrheit ist, dieses Mädchen ist völlig anders
als ich dachte. Von dem Moment an, als ich ihr von mi papá
erzählte, war es, als seufze ihr ganzer Körper erleichtert auf. Als
tröste sie
das Unglück eines anderen, als fühle sie sich dadurch weniger
allein. Ich verstehe immer noch nicht, warum es ihr so viel
ausmacht, was andere über sie denken. Warum sie beschlossen hat,
sich hinter einer makellosen Fassade zu verstecken.
Über meinem Kopf hängt drohend die Wette. Ich muss
dieses Mädchen dazu bringen, sich in mich zu verlieben. Und während
mein Körper sagt, worauf wartest du noch?, denkt der Rest von mir,
du bist ein herzloser Mistkerl, sie ist so verletzbar.
»Ich will die gleichen Dinge vom Leben wie du«,
gebe ich zu. »Ich gehe sie nur anders an. Du passt dich an
deine Umgebung an, ich an meine.« Ich lege meine Hand zurück
auf ihre. »Lass mich dir beweisen, dass ich ganz anders sein kann.
Würdest du mit einem Typen ausgehen, der sich weder teure
Restaurants leisten noch dich mit Gold und Diamanten überschütten
kann?«
»Absolut.« Sie zieht ihre Hand unter meiner hervor.
»Aber ich habe einen Freund.«
»Wenn du keinen hättest, würdest du diesem
Mexicano hier eine Chance geben?«
Ihr Gesicht läuft in einem hübschen Pink an. Ich
frage mich, ob Colin sie je so rot werden lässt. »Darauf antworte
ich nicht«, sagt sie.
»Warum nicht? Es ist eine einfache Frage.«
»Ach was. Mit dir ist nichts einfach, Alex. Lass
uns erst gar nicht davon anfangen.« Sie schaltet in den ersten
Gang. »Können wir jetzt los?«
»Si, wenn du willst. Alles klar zwischen
uns?«
»Ich denke schon.«
Ich strecke meine Hand aus, damit sie sie schütteln
kann. Sie betrachtet die Tattoos auf meinen Fingern, nimmt dann
meine Hand in ihre und schüttelt sie mit unverhohlener Freude. »Auf
die Handwärmer«, sagt sie mit einem Lächeln auf den Lippen.
»Auf die Handwärmer«, sage ich zustimmend. Und auf
den Sex, ergänze ich im Kopf.
»Möchtest du zurückfahren? Ich weiß den Weg
nicht.«
Wir fahren in einträchtigem Schweigen zurück,
während die Sonne langsam untergeht. Unser Waffenstillstand bringt
mich meinen Zielen näher: Dem Schulabschluss, der Wette … und etwas
anderem, das ich noch nicht bereit bin, mir einzugestehen.
Als ich ihren heißen Schlitten auf den Parkplatz
der Bücherei lenke, sage ich: »Danke, dass ich dich entführen
durfte. Ich schätze, man sieht sich.« Ich hole meine Schlüssel aus
der Hosentasche hervor und frage mich, ob ich mir jemals ein Auto
werde leisten können, das nicht verrostet, alt und gebraucht ist.
Nachdem ich aus ihrem Wagen gestiegen bin, ziehe ich Colins Foto
aus meiner Gesäßtasche und werfe es auf den Sitz, dem ich gerade
entstiegen bin.
»Warte!«, ruft Brittany, als ich davongehe.
Ich drehe mich um und da steht sie direkt vor mir.
»Was ist?«
Sie lächelt verführerisch, als wolle sie mehr als
nur einen Waffenstillstand. Sehr viel mehr. Scheiße, sie wird mich
doch jetzt nicht küssen? Ich bin vollkommen überrumpelt, was mir
normalerweise nicht passiert. Sie beißt sich auf die Unterlippe,
als plane sie ihren nächsten Schritt. Ich bin nur allzu bereit, mit
ihr rumzuknutschen.
Während mein Gehirn sämtliche denkbaren Szenarien
abspult, kommt sie etwas näher.
Und schnappt sich die Schlüssel aus meiner
Hand.
»Was glaubst du, tust du da?«, frage ich sie.
»Ich zahle dir heim, dass du mich entführt hast.«
Sie tritt einen Schritt zurück und wirft die Schlüssel mit viel
Schwung in das Wäldchen neben dem Parkplatz.
»Das hast du gerade nicht getan.«
Sie geht langsam rückwärts. Die ganze Zeit, während
sie sich auf ihren Wagen zu bewegt, lässt sie mich nicht aus den
Augen. »Nimm’s mir nicht übel, Alex. Rache ist süß, stimmt’s?«,
sagt sie und versucht dabei einen ernsten Gesichtsausdruck zu
wahren.
Ich sehe fassungslos zu, wie meine Chemiepartnerin
in ihren BMW steigt. Das Auto rollt ohne Ruckeln, Stottern oder
Aufheulen vom Parkplatz. Ein einwandfreier Start.
Ich bin angepisst, weil ich jetzt entweder im
dunklen Unterholz herumkriechen und nach meinen Schlüsseln suchen
oder Enrique anrufen muss, damit er mich abholt.
Dann lache ich lauthals. Brittany Ellis hat mich
mit meinen eigenen Waffen geschlagen.
»Ja«, sage ich zu ihr, obwohl sie wahrscheinlich
schon eine Meile weit weg ist und mich nicht hören kann. »Rache ist
süß.« ¡Carajo!