39
Brittany
Es ist offensichtlich, dass Jorge und Elena verrückt nach einander sind und es lässt mich darüber nachgrübeln, ob mein zukünftiger Ehemann und ich wohl auch so viel Liebe füreinander empfinden werden.
Ich denke an Shelley. Meine große Schwester wird niemals heiraten, niemals Kinder kriegen. Ich weiß, dass es ihr im Leben nicht an Liebe mangeln wird, weil meine eigenen Kinder sie ebenso lieben werden wie ich. Aber wird sie sich tief in ihrem Inneren doch nach etwas sehen, das sie nie haben wird? Nach einem Ehemann und einer eigene Familie?
Während ich Alex ansehe, geht mir durch den Kopf, dass ich mich nicht auf sein Gangleben und wer weiß was alles noch einlassen will. Das bin ich einfach nicht. Aber dieser Junge, der so viel verkörpert, das ich ablehne, ist gleichzeitig mein Seelenverwandter. Es ist meine Aufgabe, ihn zu bewegen, sein Leben zu ändern, damit die Leute vielleicht eines Tages über uns sagen, dass wir das perfekte Paar sind.
Als Musik erklingt, schlinge ich meine Arme um Alex’ Taille und lehne meinen Kopf an seine Brust. Er streicht lose Haarsträhnen aus meinem Nacken und hält mich fest, während wir uns im Takt der Musik wiegen.
Ein Mann nähert sich der Braut mit einer Fünfdollarnote.
»Das ist Tradition«, erklärt Alex. »Er bezahlt dafür, mit der Braut tanzen zu dürfen. Man nennt es einen Wohlstandstanz.«
Ich sehe fasziniert zu, wie der Mann die Fünfdollarnote mit einer Sicherheitsnadel an der Schleppe des Brautkleides feststeckt.
Meine Mutter wäre entsetzt.
Irgendjemand ruft dem Mann, der nun mit der Braut tanzt etwas zu und alle lachen.
»Worüber lachen sie?«
»Sie sagen, er habe den Geldschein zu dicht an ihrem Hintern angebracht.«
Ich beobachte die Paare auf der Tanzfläche und versuche, ihre Schritte nachzuvollziehen, während mich die Musik langsam in ihren Bann zieht. Als die Braut stehen bleibt, frage ich Alex, ob er auch mit ihr tanzen wird.
Als er »ja« sagt, stoße ich ihn vorwärts. »Geh und tanz mit Elena. Ich werde mich mit deiner Mutter unterhalten.«
»Bist du sicher, dass du das tun willst?«
»Ja. Ich habe sie schon gesehen, als wir reingekommen sind und möchte sie nicht ignorieren. Mach dir keine Sorgen um mich. Ich muss das einfach tun.«
Er nimmt einen Zehndollarschein aus seinem Portemonnaie. Ich versuche nicht genau hinzuschauen, aber es ist jetzt leer. Er hat vor, der Braut alles zu geben, was er an Geld bei sich trägt. Kann er sich das leisten? Ich weiß, er jobbt in der Autowerkstatt, aber mit dem Geld, das er dort verdient, unterstützt er wahrscheinlich seine Familie.
Ich weiche langsam zurück, bis unsere Hände sich trennen. »Ich bin gleich wieder da.«
Alex’ Mom stellt gerade mit einigen anderen Frauen Platten und Schüsseln mit Essen auf die dafür vorgesehenen Tische. Sie trägt ein rotes Wickelkleid und sieht darin jünger aus als meine Mom. Die meisten Leute finden meine Mutter hübsch, aber Mrs Fuentes hat die zeitlose Schönheit eines Filmstars. Ihre Augen sind groß und braun, ihre langen Wimpern biegen sich bis hinauf zu den Augenbrauen und ihre makellose Haut besitzt einen schimmernden Bronzeton.
Ich tippe ihr auf die Schulter, als sie gerade Servietten auf den Tisch legt. »Hallo Mrs Fuentes.«
»Brittany, richtig?«, fragt sie.
Ich nicke. Begrüßung geglückt, Brittany. Du musst jetzt was sagen! »Mm, ich wollte gerne mit Ihnen sprechen, schon seit wir angekommen sind und jetzt scheint ein ebenso guter Zeitpunkt dafür zu sein wie jeder andere. Aber irgendwie plappere ich nur vor mich hin und komme nicht auf den Punkt. Das passiert mir jedes Mal, wenn ich nervös bin.«
Mrs Fuentes sieht mich an, als sei bei mir eine Schraube locker. »Fahr fort«, drängt sie mich.
»Ja, also, ich weiß, dass wir keinen optimalen Start hatten. Und es tut mir leid, falls ich Ihnen in irgendeiner Weise zu nahe getreten bin, als wir uns letztens gesehen haben. Ich wollte nur, dass sie wissen, dass ich nicht mit der Absicht in Ihr Haus gekommen bin, Alex zu küssen.«
»Entschuldige meine Neugierde, aber was genau sind deine Absichten?«
»Wie bitte?«
»Was sind deine Absichten in Bezug auf Alex?«
»Ich … ich bin mir nicht sicher, was Sie von mir hören möchten. Um ehrlich zu sein, sind wir gerade dabei, es herauszufinden.«
Mrs Fuentes legt mir eine Hand auf die Schulter. »Der Herrgott weiß, dass ich nicht die beste Mutter der Welt bin. Aber ich liebe meine Söhne mehr als das Leben selbst, Brittany. Und ich würde alles tun, um sie vor Unheil zu schützen. Ich sehe, wie er dich ansieht, und mir wird angst und bange. Ich könnte es nicht ertragen, dass ihm noch einmal von jemandem wehgetan wird, den er liebt.«
Als ich das höre, sehne ich mich plötzlich nach so einer Mutter. Einer Mutter, die sich bedingungslos um mich sorgt und mich bedingungslos liebt, so wie Alex’ Mutter ihren Sohn. Ihre Familie bedeutet ihr alles.
Es ist beinah unmöglich, zu schlucken, was Mrs Fuentes gesagt hat. Ihre Worte lassen einen Kloß von der Größe eines Golfballs in meinem Hals zurück.
Die Wahrheit ist, in letzter Zeit fühle ich mich nicht mal mehr als Teil meiner Familie. Ich bin die Tochter, von der meine Eltern erwarten, dass sie die ganze Zeit das Richtige sagt und tut. Ich spiele diese Rolle schon so lange, damit meine Eltern sich auf Shelley konzentrieren können, die ihre ungeteilte Aufmerksamkeit braucht.
Manchmal ist es kaum noch zu ertragen, die Rolle des »normalen Kindes« jeden Tag aufs Neue spielen zu müssen. Noch nie hat man mir gesagt, dass ich nicht immer perfekt sein müsse. Die Wahrheit ist, dass mein Leben unter einem riesigen Berg von Schuldgefühlen begraben ist.
Ich fühle mich schuldig, weil ich das normale Kind bin.
Ich fühle mich schuldig, weil ich stets das Gefühl habe, dafür sorgen zu müssen, dass Shelley ebenso geliebt wird wie ich.
Ich fühle mich schuldig, weil ich Angst davor habe, meine eigenen Kinder könnten so werden wie Shelley.
Ich fühle mich schuldig, weil es mir peinlich ist, wenn die Leute Shelley anstarren.
Es wird nie aufhören.Und wie sollte es auch, wo ich schon bis zu den Ohren in Schuld vergraben zur Welt gekommen bin? Für Mrs Fuentes bedeutet Familie Liebe und Geborgenheit. Für mich ist Familie gleichbedeutend mit Schuld und an Bedingungen geknüpfte Liebe.
»Mrs Fuentes, ich kann nicht versprechen, dass ich Alex nicht wehtun werde. Aber ich kann mich auch nicht von ihm fernhalten, wenn es das ist, was Sie wollen. Das habe ich schon versucht.« Denn mit Alex zusammen zu sein, nimmt meinem Leben die Dunkelheit. Ich fühle, wie sich Tränen in meinen Augenwinkeln bilden und meine Wangen hinunterrollen. Verzweifelt schiebe ich mich auf der Suche nach einer Toilette durch die Menge.
Paco kommt gerade aus dem Badezimmer, als ich an ihm vorbeihaste.
»An deiner Stelle würde ich einen Moment warten, bevor …« Pacos Stimme verstummt, als ich die Tür hinter mir schließe und den Riegel vorlege. Ich wische mir über die Augen und starre in den Badezimmerspiegel. Ich sehe furchtbar aus. Meine Wimperntusche verläuft und … ach, es hat keinen Sinn. Ich lasse mich an der Wand entlang auf den kalten, gefliesten Boden sinken. Jetzt wird mir klar, was Paco mir zu sagen versucht hat. Es riecht, es stinkt dermaßen, dass mir beinah übel wird. Ich lege die Hand über meine Nase und versuche den entsetzlichen Gestank zu ignorieren, während ich über Mrs Fuentes Worte nachdenke.
Ich sitze auf dem Badezimmerboden, wische mir die Tränen mit Toilettenpapier ab und tue mein Bestes, um meine Nase zu bedecken.
Ein lautes Klopfen unterbricht meinen Weinkrampf. »Brittany, bist du da drin?«, tönt Alex’ Stimme durch die Tür.
»Nein.«
»Bitte komm heraus.«
»Nein.«
»Dann lass mich rein.«
»Nein.«
»Ich möchte dir etwas auf Spanisch beibringen.«
»Was denn?«
»No es gran cosa.«
»Was bedeutet das?«, frage ich, das Papier immer noch vor die Nase haltend.
»Ich verrate es dir, wenn du mich reinlässt.«
Ich schiebe den Riegel zurück.
Alex kommt herein. »Es bedeutet, dass es keine große Sache ist.« Nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hat, kauert er sich neben mich und nimmt mich in den Arm. Er zieht mich fest an sich. Dann schnüffelt er ein paarmal. »Alter Schwede, war Paco hier drin?«
Ich nicke.
Er streicht mir über das Haar und murmelt etwas auf Spanisch. »Was hat meine Mutter zu dir gesagt?«
Ich verberge das Gesicht an seiner Brust. »Sie war nur ehrlich«, nuschle ich in sein T-Shirt.
Ein lautes Klopfen an der Tür unterbricht uns.
»Abre la puerta, soy Elena
»Wer ist das?«
»Die Braut.«
»Lasst mich rein!«, befiehlt Elena.
Alex öffnet die Tür. Ein Traum in weißen Rüschen und Dutzenden Dollarscheinen, die mit Sicherheitsnadeln auf ihrem Kleid angebracht sind, quetscht sich in den Raum und schließt die Tür hinter sich.
»Okay, was ist los?« Auch sie beginnt zu schnüffeln. »War Paco hier drin?«
Alex und ich nicken.
»Was zum Teufel isst dieser Kerl, dass es dermaßen ekelhaft stinkt, wenn es am anderen Ende wieder rauskommt? Verdammt«, sagt sie, reißt sich etwas Toilettenpapier ab und hält es sich vor die Nase.
»Die Trauung war wunderschön«, sage ich durch mein eigenes Papier. Das ist die unangenehmste und surrealste Situation, in der ich je gewesen bin.
Elena nimmt meine Hand. »Komm nach draußen und genieße das Fest. Meine Tante kann sehr direkt sein, aber sie meint es selten böse. Außerdem glaube ich, dass sie dich tief drinnen eigentlich recht gern hat.«
»Ich bringe sie nach Hause«, sagt Alex, ganz in der Rolle meines persönlichen Helden. Ich frage mich, wann er genug davon haben wird.
»Nein, du bringst sie nicht nach Hause, oder ich sperre euch beide so lange in diesem stinkenden Raum ein, bis ihr eure Meinung ändert.«
Elena meint es todernst.
Es klopft noch einmal an der Tür. »Vete vete
Ich weiß nicht, was Elena da gesagt hat, aber es geschieht mit viel Nachdruck.
»Soy Jorge
Ich zucke mit den Schultern und sehe Alex fragend an.
»Das ist der Bräutigam«, sagt er, um mir auf die Sprünge zu helfen.
Jorge öffnet die Tür einen Spalt und schlüpft hinein. Er ignoriert die Tatsache, dass es im Bad stinkt, als verrotte etwas Totes. Aber er schnieft mehrmals laut und seine Augen beginnen zu tränen.
»Komm schon, Elena«, sagt Jorge und versucht unauffällig seine Nase zu bedecken, was ihm kein Stück gelingt. »Deine Gäste wundern sich schon, wo du bist.«
»Siehst du nicht, dass ich mich mit meinem Cousin und seiner hübschen Begleiterin unterhalte?«
»Ja, aber …«
Elena hebt die eine Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen, während sie mit der anderen weiter das Toilettenpapier auf die Nase drückt. »Ich habe gesagt, ich unterhalte mich«, verkündet sie streng. »Und ich bin noch nicht fertig.«
»Du«, sagt Elena und zeigt auf mich. »Komm mit mir. Alex, ich möchte, dass du und deine Brüder singen.«
Alex schüttelt den Kopf. »Elena, ich denke nicht …«
Elena hebt wieder die Hand, diesmal, um Alex zum Schweigen zu bringen. »Ich habe dich nicht gebeten, zu denken. Ich habe dich gebeten, mit deinen Brüdern für mich und meinen Ehemann zu singen.«
Elena öffnet die Tür und zerrt mich hinter sich her durch das Haus. Sie bleibt erst stehen, als wir im Garten angekommen sind. Und sie lässt mich nur los, um sich das Mikro vom Sänger der Band zu schnappen.
»Paco!«, verkündet sie lautstark. »Ja, ich rede mit dir«, sagt Elena und zeigt auf Paco, der sich mit ein paar Mädchen unterhält. »Das nächste Mal, wenn du ein größeres Geschäft machen musst, mach es im Haus von jemand anderem.«
Pacos Fanclub wendet sich kichernd von ihm ab und lässt ihn stehen.
Jorge stürmt auf die Bühne und versucht, seiner Frau das Mikro zu entreißen. Der arme Mann kämpft auf verlorenem Posten, während alle anderen lachen und klatschen.
Als Elena endlich die Bühne räumt und Alex mit dem Bandleader spricht, jubeln die Gäste Alex und seinen Brüdern zu. Sie wollen sie singen hören.
Paco setzt sich neben mich.
»Äh, tut mir leid, das mit dem Badezimmer. Ich hab noch versucht, dich zu warnen«, sagt er errötend.
»Schon gut. Ich glaube, Elena hat dich ausreichend bloßgestellt. « Ich beuge mich zu Paco und frage ihn: »Mal im Ernst, was hältst du davon, dass Alex und ich zusammen sind?«
»Im Ernst? Du bist wahrscheinlich das Beste, das dem Typen je passiert ist.«
Du oder das ganze Leben
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