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Brittany
Es ist offensichtlich, dass Jorge und Elena
verrückt nach einander sind und es lässt mich darüber nachgrübeln,
ob mein zukünftiger Ehemann und ich wohl auch so viel Liebe
füreinander empfinden werden.
Ich denke an Shelley. Meine große Schwester wird
niemals heiraten, niemals Kinder kriegen. Ich weiß, dass es ihr im
Leben nicht an Liebe mangeln wird, weil meine eigenen Kinder sie
ebenso lieben werden wie ich. Aber wird sie sich tief in ihrem
Inneren doch nach etwas sehen, das sie nie haben wird? Nach einem
Ehemann und einer eigene Familie?
Während ich Alex ansehe, geht mir durch den Kopf,
dass ich mich nicht auf sein Gangleben und wer weiß was alles noch
einlassen will. Das bin ich einfach nicht. Aber dieser Junge, der
so viel verkörpert, das ich ablehne, ist gleichzeitig mein
Seelenverwandter. Es ist meine Aufgabe, ihn zu bewegen, sein Leben
zu ändern, damit die Leute vielleicht eines Tages über uns sagen,
dass wir das perfekte Paar sind.
Als Musik erklingt, schlinge ich meine Arme um
Alex’ Taille und lehne meinen Kopf an seine Brust. Er streicht lose
Haarsträhnen aus meinem Nacken und hält mich fest, während wir uns
im Takt der Musik wiegen.
Ein Mann nähert sich der Braut mit einer
Fünfdollarnote.
»Das ist Tradition«, erklärt Alex. »Er bezahlt
dafür, mit der
Braut tanzen zu dürfen. Man nennt es einen Wohlstandstanz.«
Ich sehe fasziniert zu, wie der Mann die
Fünfdollarnote mit einer Sicherheitsnadel an der Schleppe des
Brautkleides feststeckt.
Meine Mutter wäre entsetzt.
Irgendjemand ruft dem Mann, der nun mit der Braut
tanzt etwas zu und alle lachen.
»Worüber lachen sie?«
»Sie sagen, er habe den Geldschein zu dicht an
ihrem Hintern angebracht.«
Ich beobachte die Paare auf der Tanzfläche und
versuche, ihre Schritte nachzuvollziehen, während mich die Musik
langsam in ihren Bann zieht. Als die Braut stehen bleibt, frage ich
Alex, ob er auch mit ihr tanzen wird.
Als er »ja« sagt, stoße ich ihn vorwärts. »Geh und
tanz mit Elena. Ich werde mich mit deiner Mutter
unterhalten.«
»Bist du sicher, dass du das tun willst?«
»Ja. Ich habe sie schon gesehen, als wir
reingekommen sind und möchte sie nicht ignorieren. Mach dir keine
Sorgen um mich. Ich muss das einfach tun.«
Er nimmt einen Zehndollarschein aus seinem
Portemonnaie. Ich versuche nicht genau hinzuschauen, aber es ist
jetzt leer. Er hat vor, der Braut alles zu geben, was er an Geld
bei sich trägt. Kann er sich das leisten? Ich weiß, er jobbt in der
Autowerkstatt, aber mit dem Geld, das er dort verdient, unterstützt
er wahrscheinlich seine Familie.
Ich weiche langsam zurück, bis unsere Hände sich
trennen. »Ich bin gleich wieder da.«
Alex’ Mom stellt gerade mit einigen anderen Frauen
Platten und Schüsseln mit Essen auf die dafür vorgesehenen Tische.
Sie trägt ein rotes Wickelkleid und sieht darin jünger aus als
meine
Mom. Die meisten Leute finden meine Mutter hübsch, aber Mrs
Fuentes hat die zeitlose Schönheit eines Filmstars. Ihre Augen sind
groß und braun, ihre langen Wimpern biegen sich bis hinauf zu den
Augenbrauen und ihre makellose Haut besitzt einen schimmernden
Bronzeton.
Ich tippe ihr auf die Schulter, als sie gerade
Servietten auf den Tisch legt. »Hallo Mrs Fuentes.«
»Brittany, richtig?«, fragt sie.
Ich nicke. Begrüßung geglückt, Brittany. Du musst
jetzt was sagen! »Mm, ich wollte gerne mit Ihnen sprechen, schon
seit wir angekommen sind und jetzt scheint ein ebenso guter
Zeitpunkt dafür zu sein wie jeder andere. Aber irgendwie plappere
ich nur vor mich hin und komme nicht auf den Punkt. Das passiert
mir jedes Mal, wenn ich nervös bin.«
Mrs Fuentes sieht mich an, als sei bei mir eine
Schraube locker. »Fahr fort«, drängt sie mich.
»Ja, also, ich weiß, dass wir keinen optimalen
Start hatten. Und es tut mir leid, falls ich Ihnen in irgendeiner
Weise zu nahe getreten bin, als wir uns letztens gesehen haben. Ich
wollte nur, dass sie wissen, dass ich nicht mit der Absicht in Ihr
Haus gekommen bin, Alex zu küssen.«
»Entschuldige meine Neugierde, aber was genau sind
deine Absichten?«
»Wie bitte?«
»Was sind deine Absichten in Bezug auf Alex?«
»Ich … ich bin mir nicht sicher, was Sie von mir
hören möchten. Um ehrlich zu sein, sind wir gerade dabei, es
herauszufinden.«
Mrs Fuentes legt mir eine Hand auf die Schulter.
»Der Herrgott weiß, dass ich nicht die beste Mutter der Welt bin.
Aber ich liebe meine Söhne mehr als das Leben selbst, Brittany. Und
ich würde alles tun, um sie vor Unheil zu schützen. Ich sehe, wie
er
dich ansieht, und mir wird angst und bange. Ich könnte es nicht
ertragen, dass ihm noch einmal von jemandem wehgetan wird, den er
liebt.«
Als ich das höre, sehne ich mich plötzlich nach so
einer Mutter. Einer Mutter, die sich bedingungslos um mich sorgt
und mich bedingungslos liebt, so wie Alex’ Mutter ihren Sohn. Ihre
Familie bedeutet ihr alles.
Es ist beinah unmöglich, zu schlucken, was Mrs
Fuentes gesagt hat. Ihre Worte lassen einen Kloß von der Größe
eines Golfballs in meinem Hals zurück.
Die Wahrheit ist, in letzter Zeit fühle ich mich
nicht mal mehr als Teil meiner Familie. Ich bin die Tochter, von
der meine Eltern erwarten, dass sie die ganze Zeit das Richtige
sagt und tut. Ich spiele diese Rolle schon so lange, damit meine
Eltern sich auf Shelley konzentrieren können, die ihre ungeteilte
Aufmerksamkeit braucht.
Manchmal ist es kaum noch zu ertragen, die Rolle
des »normalen Kindes« jeden Tag aufs Neue spielen zu müssen. Noch
nie hat man mir gesagt, dass ich nicht immer perfekt sein müsse.
Die Wahrheit ist, dass mein Leben unter einem riesigen Berg von
Schuldgefühlen begraben ist.
Ich fühle mich schuldig, weil ich das normale Kind
bin.
Ich fühle mich schuldig, weil ich stets das Gefühl
habe, dafür sorgen zu müssen, dass Shelley ebenso geliebt wird wie
ich.
Ich fühle mich schuldig, weil ich Angst davor habe,
meine eigenen Kinder könnten so werden wie Shelley.
Ich fühle mich schuldig, weil es mir peinlich ist,
wenn die Leute Shelley anstarren.
Es wird nie aufhören.Und wie sollte es auch, wo ich
schon bis zu den Ohren in Schuld vergraben zur Welt gekommen bin?
Für Mrs Fuentes bedeutet Familie Liebe und Geborgenheit. Für
mich ist Familie gleichbedeutend mit Schuld und an Bedingungen
geknüpfte Liebe.
»Mrs Fuentes, ich kann nicht versprechen, dass ich
Alex nicht wehtun werde. Aber ich kann mich auch nicht von ihm
fernhalten, wenn es das ist, was Sie wollen. Das habe ich schon
versucht.« Denn mit Alex zusammen zu sein, nimmt meinem Leben die
Dunkelheit. Ich fühle, wie sich Tränen in meinen Augenwinkeln
bilden und meine Wangen hinunterrollen. Verzweifelt schiebe ich
mich auf der Suche nach einer Toilette durch die Menge.
Paco kommt gerade aus dem Badezimmer, als ich an
ihm vorbeihaste.
»An deiner Stelle würde ich einen Moment warten,
bevor …« Pacos Stimme verstummt, als ich die Tür hinter mir
schließe und den Riegel vorlege. Ich wische mir über die Augen und
starre in den Badezimmerspiegel. Ich sehe furchtbar aus. Meine
Wimperntusche verläuft und … ach, es hat keinen Sinn. Ich lasse
mich an der Wand entlang auf den kalten, gefliesten Boden sinken.
Jetzt wird mir klar, was Paco mir zu sagen versucht hat. Es riecht,
es stinkt dermaßen, dass mir beinah übel wird. Ich lege die Hand
über meine Nase und versuche den entsetzlichen Gestank zu
ignorieren, während ich über Mrs Fuentes Worte nachdenke.
Ich sitze auf dem Badezimmerboden, wische mir die
Tränen mit Toilettenpapier ab und tue mein Bestes, um meine Nase zu
bedecken.
Ein lautes Klopfen unterbricht meinen Weinkrampf.
»Brittany, bist du da drin?«, tönt Alex’ Stimme durch die
Tür.
»Nein.«
»Bitte komm heraus.«
»Nein.«
»Dann lass mich rein.«
»Nein.«
»Ich möchte dir etwas auf Spanisch
beibringen.«
»Was denn?«
»No es gran cosa.«
»Was bedeutet das?«, frage ich, das Papier immer
noch vor die Nase haltend.
»Ich verrate es dir, wenn du mich reinlässt.«
Ich schiebe den Riegel zurück.
Alex kommt herein. »Es bedeutet, dass es keine
große Sache ist.« Nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hat,
kauert er sich neben mich und nimmt mich in den Arm. Er zieht mich
fest an sich. Dann schnüffelt er ein paarmal. »Alter Schwede, war
Paco hier drin?«
Ich nicke.
Er streicht mir über das Haar und murmelt etwas auf
Spanisch. »Was hat meine Mutter zu dir gesagt?«
Ich verberge das Gesicht an seiner Brust. »Sie war
nur ehrlich«, nuschle ich in sein T-Shirt.
Ein lautes Klopfen an der Tür unterbricht
uns.
»Abre la puerta, soy Elena.«
»Wer ist das?«
»Die Braut.«
»Lasst mich rein!«, befiehlt Elena.
Alex öffnet die Tür. Ein Traum in weißen Rüschen
und Dutzenden Dollarscheinen, die mit Sicherheitsnadeln auf ihrem
Kleid angebracht sind, quetscht sich in den Raum und schließt die
Tür hinter sich.
»Okay, was ist los?« Auch sie beginnt zu
schnüffeln. »War Paco hier drin?«
Alex und ich nicken.
»Was zum Teufel isst dieser Kerl, dass es dermaßen
ekelhaft stinkt, wenn es am anderen Ende wieder rauskommt?
Verdammt«,
sagt sie, reißt sich etwas Toilettenpapier ab und hält es sich vor
die Nase.
»Die Trauung war wunderschön«, sage ich durch mein
eigenes Papier. Das ist die unangenehmste und surrealste Situation,
in der ich je gewesen bin.
Elena nimmt meine Hand. »Komm nach draußen und
genieße das Fest. Meine Tante kann sehr direkt sein, aber sie meint
es selten böse. Außerdem glaube ich, dass sie dich tief drinnen
eigentlich recht gern hat.«
»Ich bringe sie nach Hause«, sagt Alex, ganz in der
Rolle meines persönlichen Helden. Ich frage mich, wann er genug
davon haben wird.
»Nein, du bringst sie nicht nach Hause, oder ich
sperre euch beide so lange in diesem stinkenden Raum ein, bis ihr
eure Meinung ändert.«
Elena meint es todernst.
Es klopft noch einmal an der Tür. »Vete
vete.«
Ich weiß nicht, was Elena da gesagt hat, aber es
geschieht mit viel Nachdruck.
»Soy Jorge.«
Ich zucke mit den Schultern und sehe Alex fragend
an.
»Das ist der Bräutigam«, sagt er, um mir auf die
Sprünge zu helfen.
Jorge öffnet die Tür einen Spalt und schlüpft
hinein. Er ignoriert die Tatsache, dass es im Bad stinkt, als
verrotte etwas Totes. Aber er schnieft mehrmals laut und seine
Augen beginnen zu tränen.
»Komm schon, Elena«, sagt Jorge und versucht
unauffällig seine Nase zu bedecken, was ihm kein Stück gelingt.
»Deine Gäste wundern sich schon, wo du bist.«
»Siehst du nicht, dass ich mich mit meinem Cousin
und seiner hübschen Begleiterin unterhalte?«
»Ja, aber …«
Elena hebt die eine Hand, um ihn zum Schweigen zu
bringen, während sie mit der anderen weiter das Toilettenpapier auf
die Nase drückt. »Ich habe gesagt, ich unterhalte mich«, verkündet
sie streng. »Und ich bin noch nicht fertig.«
»Du«, sagt Elena und zeigt auf mich. »Komm mit mir.
Alex, ich möchte, dass du und deine Brüder singen.«
Alex schüttelt den Kopf. »Elena, ich denke nicht
…«
Elena hebt wieder die Hand, diesmal, um Alex zum
Schweigen zu bringen. »Ich habe dich nicht gebeten, zu denken. Ich
habe dich gebeten, mit deinen Brüdern für mich und meinen Ehemann
zu singen.«
Elena öffnet die Tür und zerrt mich hinter sich her
durch das Haus. Sie bleibt erst stehen, als wir im Garten
angekommen sind. Und sie lässt mich nur los, um sich das Mikro vom
Sänger der Band zu schnappen.
»Paco!«, verkündet sie lautstark. »Ja, ich rede mit
dir«, sagt Elena und zeigt auf Paco, der sich mit ein paar Mädchen
unterhält. »Das nächste Mal, wenn du ein größeres Geschäft machen
musst, mach es im Haus von jemand anderem.«
Pacos Fanclub wendet sich kichernd von ihm ab und
lässt ihn stehen.
Jorge stürmt auf die Bühne und versucht, seiner
Frau das Mikro zu entreißen. Der arme Mann kämpft auf verlorenem
Posten, während alle anderen lachen und klatschen.
Als Elena endlich die Bühne räumt und Alex mit dem
Bandleader spricht, jubeln die Gäste Alex und seinen Brüdern zu.
Sie wollen sie singen hören.
Paco setzt sich neben mich.
Ȁh, tut mir leid, das mit dem Badezimmer. Ich hab
noch versucht, dich zu warnen«, sagt er errötend.
»Schon gut. Ich glaube, Elena hat dich ausreichend
bloßgestellt.
« Ich beuge mich zu Paco und frage ihn: »Mal im Ernst, was hältst
du davon, dass Alex und ich zusammen sind?«
»Im Ernst? Du bist wahrscheinlich das Beste, das
dem Typen je passiert ist.«