42
Alex
Nachdem Brittany aus der Werkstatt gebraust ist, um so schnell wie möglich Distanz zwischen uns zu schaffen, ist mir nicht nach Reden und ich hoffe, mi’amá aus dem Weg gehen zu können, als ich nach Hause komme. Aber es braucht nur einen Blick auf die Wohnzimmercouch und dieser Wunsch hat sich erledigt.
Der Fernseher ist aus, es brennt kaum noch Licht und meine Brüder sind wahrscheinlich längst ins Bett geschickt worden.
»Alejandro«, beginnt sie. »Ich wollte nie, dass wir so leben.«
»Ich weiß.«
»Ich hoffe, Brittany bringt dich nicht auf Ideen, die keine Zukunft haben.«
Ich zucke mit den Schultern. »Zum Beispiel? Sie hasst es, dass ich in einer Gang bin. Du dagegen wolltest dieses Leben vielleicht nicht für mich, hast aber auch nicht protestiert, als sie mich in die Gang geholt haben.«
»Rede nicht so mit mir, Alejandro.«
»Warum? Ist die Wahrheit zu schmerzvoll? Ich bin in einer Gang, um dich und meine Brüder zu beschützen, mamá. Du weißt das, auch wenn wir nie darüber reden«, sage ich. Meine Stimme wird immer lauter, ein Zeichen meiner wachsenden Frustration. »Es ist eine Entscheidung, die ich vor langer Zeit getroffen habe. Du kannst dir einreden, mich nicht dazu ermutigt zu haben, aber«, ich ziehe mein T-Shirt aus, sodass meine Latino-Blood-Tattoos sichtbar werden, »sieh mich ganz genau an. Ich bin ein Latino Blood, genau wie papá. Willst du, dass ich auch mit Drogen deale?«
Tränen strömen ihr Gesicht hinunter. »Wenn es eine andere Möglichkeit gäbe …«
»Du hattest zu viel Schiss, dieses Loch zu verlassen und jetzt stecken wir hier fest. Wälz deine Verantwortung nicht auf mich oder mein Mädchen ab.«
»Das ist nicht fair«, sagt sie aufgebracht und steht von der Couch auf.
»Ich sag dir, was nicht fair ist: dass du wie eine Witwe in immerwährender Trauer lebst, seit papá gestorben ist. Warum gehen wir nicht zurück nach Mexiko? Sag Onkel Julio, dass er seine Ersparnisse vergeudet hat, als er uns nach Amerika schickte. Oder hast du etwa Angst davor, nach Mexiko zurückzugehen und deiner Familie gestehen zu müssen, dass du hier gescheitert bist?«
»Wir werden diese Diskussion nicht führen.«
»Mach die Augen auf.« Ich strecke meine Arme zu beiden Seiten aus. »Was hast du hier, wofür es sich zu bleiben lohnte? Deine Söhne? Denn das ist eine faule Ausrede. Ist das für dich der wahr gewordene amerikanische Traum?« Ich zeige auf den Altar meines Vaters. »Er war ein Gangster, kein Heiliger.«
»Er hatte keine Wahl«, sagt sie weinend. »Er hat uns beschützt.«
»Und jetzt beschütze ich uns. Bekomme ich auch einen Altar, wenn es mich erwischt? Und Carlos? Denn er ist als Nächster an der Reihe, das weißt du. Und nach ihm Luis.«
Mi’amá schlägt mir fest ins Gesicht, dann weicht sie erschrocken zurück. Dios mío, ich schäme mich dafür, sie dermaßen aufgebracht zu haben. Ich strecke meine Hand nach ihr aus, meine Finger legen sich um ihren Oberarm, um sie zu drücken und mich bei ihr zu entschuldigen, aber sie zuckt zusammen. »Mamá?«, sage ich und frage mich, was los ist. Ich habe sie nicht hart angefasst, aber sie verhält sich, als ob es so wäre.
Sie befreit sich aus meinem Griff und wendet sich ab, aber ich kann das nicht auf sich beruhen lassen. Ich mache einen Schritt auf sie zu und schieb den Ärmel ihres Kleides hoch. Zu meinem Entsetzen entdecke ich eine fiese Prellung auf ihrem Oberarm. Lila, schwarze und blaue Schattierungen leuchten mir anklagend entgegen und meine Gedanken galoppieren zurück zu der Hochzeit, als ich meine Mutter und Hector ins Gespräch vertieft beobachtet habe.
»War das Hector?«, frage ich sie sanft.
»Du musst aufhören, Fragen über papá zu stellen«, sagt sie und zieht schnell den Ärmel runter, um die Prellung zu bedecken.
In meinem Magen beginnt die Wut zu brodeln, als mir klar wird, dass mi’amá diese Prellung verpasst wurde, um mich zu warnen. »Warum? Wen versucht Hector zu schützen?« Beschützt er jemanden aus der Gang, oder einen Verbündeten der Latino Blood? Ich wünschte, ich könnte Hector fragen. Mehr noch, ich würde mich gerne an ihm rächen und ihm eine Abreibung verpassen, weil er meiner Mom wehgetan hat, aber Hector ist unantastbar. Forderte ich Hector heraus, wäre es, als wendete ich mich gegen die Bruderschaft selbst.
Sie starrt mich wütend an. »Stell mir deswegen keine Fragen. Es gibt Dinge, die du nicht weißt, Alejandro. Dinge, die du besser nie erfährst. Lass es einfach auf sich beruhen.«
»Meinst du in Unwissenheit zu leben sei was Tolles? Papá war in einer Gang und hat mit Drogen gedealt. Ich habe keine Angst vor der Wahrheit, verdammt. Warum versuchen alle um mich herum, sie vor mir zu verbergen?«
Meine Hände sind verschwitzt und hängen verkrampft an meiner Seite. Ein Geräusch aus dem Flur erregt meine Aufmerksamkeit. Ich drehe mich um und sehe meine zwei Brüder, die Augen weit aufgerissen vor Verwirrung.
Mist.
Als mi’amá Luis und Carlos entdeckt, holt sie erschrocken Luft. Ich würde alles darum geben, diesen Schmerz von ihr nehmen zu können.
Ich gehe auf sie zu und lege ihr sanft die Hand auf die Schulter. »Perdón, mamá
Sie wischt meine Hand weg, unterdrückt einen Schluchzer und rennt in ihr Zimmer. Die Tür schlägt hinter ihr zu.
»Ist das wahr?«, fragt Carlos. Seine Stimme klingt abgeschnürt.
Ich nicke. »Ja.«
Luis schüttelt den Kopf und zieht verwirrt die Augenbrauen zusammen. »Was sagt ihr zwei da? Das verstehe ich nicht. Ich dachte, papá war ein guter Mensch. Mamá hat immer gesagt, er war einer.«
Ich gehe zu meinem kleinen Bruder und ziehe seinen Kopf an meine Brust.
»Es waren alles Lügen!«, platzt Carlos heraus. »Du, er, alles Lüge. Mentiras
»Carlos …«, sage ich, lasse Luis los und packe Carlos’ Arm.
Carlos sieht meine Hand angewidert an, in ihm brodelt es. »Und die ganze Zeit dachte ich, du wärst ein Latino Blood, um uns zu beschützen. Dabei wollest du nur in papás Fußstapfen treten. In echt scheißt du darauf, ein Held zu sein. Du bist gerne ein LB, willst aber nicht, dass ich auch eins werde. Ist das nicht ganz schön scheinheilig, Bruderherz?«
»Vielleicht.«
»Du bist eine Schande für unsere Familie, das weißt du, oder?«
Sobald ich meinen Griff lockere, stößt Carlos die Hintertür auf und stürmt hinaus.
Luis’ leise Stimme bricht das Schweigen. »Manchmal müssen gute Menschen Dinge tun, die nicht gut sind. Stimmt’s?«
Ich zerzause sein Haar. Luis ist viel unschuldiger, als ich es in seinem Alter war. »Weißt du was, ich glaube, du bist der Klügste von uns allen, kleiner Bruder. Jetzt geh ins Bett und lass mich mit Carlos reden.«
Ich finde Carlos auf unserer Veranda, die an den Nachbargarten grenzt.
»Ist er so gestorben?«, fragt er, als ich mich neben ihn setze. »Bei einem Drogendeal?«
»Mm.«
»Und er hat dich mitgenommen?«
Ich nicke.
»Der Bastard, du warst erst sechs.« Carlos stößt theatralisch die Luft aus. »Ich habe Hector heute bei den Basketballplätzen an der Main Street gesehen.«
»Halt dich von ihm fern. Die Wahrheit ist, ich hatte keine Wahl, nachdem papá gestorben war und jetzt kann ich nicht zurück. Wenn du glaubst, ich sein ein Latino Blood, weil ich es toll finde, täuschst du dich. Ich möchte nicht, dass aus dir eines wird.«
»Ich weiß.«
Ich sehe ihn so streng an, wie unsere Mutter mich früher angeblickt hat. Wenn ich Tennisbälle in ihre Strumpfhose gelegt und sie als Schleuder benutzt habe, um zu sehen, wie hoch sie fliegen. »Hör mir zu, Carlos, und hör genau hin. Konzentrier dich auf die Schule, damit du aufs College gehen kannst. Mach etwas aus dir.« Im Gegensatz zu mir.
Es ist lange still.
»Destiny möchte auch nicht, dass ich ein LB werde. Sie will, dass ich auf die Uni gehe und Krankenpflege studiere.« Er gluckst. »Sie hat gesagt, es wäre doch toll, wenn wir auf dieselbe Uni gehen würden.« Ich halte den Mund und höre ihm zu, weil es wichtig für ihn ist, dass ich aufhöre, ihm Ratschläge zu erteilen und ihn seine eigenen Pläne machen lasse. »Ich mag Brittany«, sagt er.
»Ich auch.« Ich denke an das, was vorhin im Auto passiert ist. Ich habe völlig den Kopf verloren. Hoffentlich habe ich es mir nicht mit ihr versaut.
»Ich habe gesehen, wie Brittany sich auf der Hochzeit mit mamá unterhalten hat. Sie hat sich gut geschlagen.«
»Ich will dir ja nicht deine Illusionen rauben, aber sie ist kurz darauf im Bad zusammengeklappt.«
»Für jemanden, der so klug ist, bist du ganz schön loco, wenn du meinst, du bekämest alles allein auf die Kette.«
»Ich halte einiges aus«, versichere ich Carlos. »Und ich bin darauf vorbereitet, dass es gefährlich werden könnte.«
Carlos tätschelt meinen Rücken. »Irgendwie, Bruder, glaube ich, dass ein Mädchen von der Northside zu daten härter ist, als in einer Gang zu sein.«
Das ist die perfekte Gelegenheit, meinem Bruder reinen Wein einzuschenken. »Carlos, wenn sie dir von Brüderlichkeit und Ehre und Loyalität erzählen, hört es sich großartig an. Aber sie sind nicht deine Familie, weißt du. Und sie sind nur so lange deine Brüder, wie du bereit bist, alles zu tun, was sie von dir verlangen.«
Meine Mom öffnet die Tür und sieht auf uns herunter. Sie sieht so traurig aus. Ich wünschte, ich könnte ihr Leben verändern und ihr den Schmerz nehmen, aber ich weiß, dass ich das nicht kann.
»Carlos, lass mich allein mit Alejandro reden.«
Als Carlos ins Haus zurückgekehrt ist und außer Hörweite, setzt sich meine Mom neben mich. Sie hat eine Zigarette in der Hand, die erste, die ich sie seit langer Zeit rauchen sehe.
Ich warte darauf, dass sie beginnt. Ich habe heute Nacht schon genug gesagt.
»Ich habe in meinem Leben eine Menge Fehler gemacht, Alejandro«, sagt sie und bläst Zigarettenqualm zum Mond hinauf. »Und einige davon kann ich nicht wiedergutmachen, egal wie sehr ich den Herrn darum bitte.« Sie streckt die Hand aus und streicht mir das Haar hinter die Ohren. »Du bist ein Teenager, der die Verantwortung eines Mannes trägt. Ich weiß, das ist dir gegenüber nicht fair.«
»Está bien
»Nein, das ist es nicht. Ich bin auch zu schnell erwachsen geworden. Ich habe noch nicht mal die Highschool abgeschlossen, weil ich mit dir schwanger wurde.« Sie sieht mich an, als sähe sie sich selbst vor nicht allzu langer Zeit als Teenager. »Oh, ich wollte so gern ein Baby haben. Dein Vater wollte bis nach der Highschool warten, aber ich habe dafür gesorgt, dass es früher passierte. Alles, was ich wollte, war eine Mom zu sein.«
»Bereust du es?«, frage ich sie.
»Eine Mom zu sein? Niemals. Deinen Vater verführt und dafür gesorgt zu haben, dass er kein Kondom benutzt. Ja.«
»So genau wollte ich es gar nicht wissen.«
»Nun, ich werde es dir erzählen, ob du es hören willst oder nicht. Sei vorsichtig, Alex.«
»Das bin ich.«
Sie zieht an ihrer Zigarette, während sie den Kopf schüttelt. »Nein, du verstehst mich nicht. Du bist vielleicht vorsichtig, aber die Mädchen sind es nicht. Mädchen manipulieren dich. Ich muss es wissen, ich war eins von ihnen.«
»Brittany ist …«
»… die Art Mädchen, die dich dazu bringt, Dinge zu tun, die du nicht tun willst.«
»Glaub mir, Mom. Sie will kein Kind.«
»Nein, aber sie wird andere Dinge wollen. Dinge, die du ihr nie geben können wirst.«
Ich blicke zu den Sternen hoch, zum Mond. Das Universum, das ich kenne, hat kein Ende. »Was ist, wenn ich sie ihr geben will?«
Sie atmet langsam aus, mit ihrem Atem verlässt der Zigarettenrauch ihren Mund als weiße Schwade. »Mit fünfunddreißig bin ich alt genug, um Leute sterben gesehen zu haben, die dachten, sie könnten den Lauf der Welt verändern. Egal, was du denkst, dein Vater ist bei dem Versuch gestorben, sein Leben wieder in Ordnung zu bringen. Das Bild, das du von ihm hast, ist verzerrt, Alejandro. Du warst noch ein kleiner Junge, zu jung, um zu verstehen.«
»Jetzt bin ich alt genug.«
Eine Träne löst sich aus ihrem Augenwinkel und sie wischt sie weg. »Ja, vielleicht, aber jetzt ist es zu spät.«
Du oder das ganze Leben
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