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Alex
Nachdem Brittany aus der Werkstatt gebraust ist,
um so schnell wie möglich Distanz zwischen uns zu schaffen, ist mir
nicht nach Reden und ich hoffe, mi’amá aus dem Weg gehen zu
können, als ich nach Hause komme. Aber es braucht nur einen Blick
auf die Wohnzimmercouch und dieser Wunsch hat sich erledigt.
Der Fernseher ist aus, es brennt kaum noch Licht
und meine Brüder sind wahrscheinlich längst ins Bett geschickt
worden.
»Alejandro«, beginnt sie. »Ich wollte nie, dass wir
so leben.«
»Ich weiß.«
»Ich hoffe, Brittany bringt dich nicht auf Ideen,
die keine Zukunft haben.«
Ich zucke mit den Schultern. »Zum Beispiel? Sie
hasst es, dass ich in einer Gang bin. Du dagegen wolltest dieses
Leben vielleicht nicht für mich, hast aber auch nicht protestiert,
als sie mich in die Gang geholt haben.«
»Rede nicht so mit mir, Alejandro.«
»Warum? Ist die Wahrheit zu schmerzvoll? Ich bin in
einer Gang, um dich und meine Brüder zu beschützen, mamá. Du
weißt das, auch wenn wir nie darüber reden«, sage ich. Meine Stimme
wird immer lauter, ein Zeichen meiner wachsenden Frustration. »Es
ist eine Entscheidung, die ich vor langer Zeit getroffen habe. Du
kannst dir einreden, mich nicht dazu ermutigt
zu haben, aber«, ich ziehe mein T-Shirt aus, sodass meine
Latino-Blood-Tattoos sichtbar werden, »sieh mich ganz genau an. Ich
bin ein Latino Blood, genau wie papá. Willst du, dass ich
auch mit Drogen deale?«
Tränen strömen ihr Gesicht hinunter. »Wenn es eine
andere Möglichkeit gäbe …«
»Du hattest zu viel Schiss, dieses Loch zu
verlassen und jetzt stecken wir hier fest. Wälz deine Verantwortung
nicht auf mich oder mein Mädchen ab.«
»Das ist nicht fair«, sagt sie aufgebracht und
steht von der Couch auf.
»Ich sag dir, was nicht fair ist: dass du wie eine
Witwe in immerwährender Trauer lebst, seit papá gestorben
ist. Warum gehen wir nicht zurück nach Mexiko? Sag Onkel Julio,
dass er seine Ersparnisse vergeudet hat, als er uns nach Amerika
schickte. Oder hast du etwa Angst davor, nach Mexiko zurückzugehen
und deiner Familie gestehen zu müssen, dass du hier gescheitert
bist?«
»Wir werden diese Diskussion nicht führen.«
»Mach die Augen auf.« Ich strecke meine Arme zu
beiden Seiten aus. »Was hast du hier, wofür es sich zu bleiben
lohnte? Deine Söhne? Denn das ist eine faule Ausrede. Ist das für
dich der wahr gewordene amerikanische Traum?« Ich zeige auf den
Altar meines Vaters. »Er war ein Gangster, kein Heiliger.«
»Er hatte keine Wahl«, sagt sie weinend. »Er hat
uns beschützt.«
»Und jetzt beschütze ich uns. Bekomme ich auch
einen Altar, wenn es mich erwischt? Und Carlos? Denn er ist als
Nächster an der Reihe, das weißt du. Und nach ihm Luis.«
Mi’amá schlägt mir fest ins Gesicht, dann
weicht sie erschrocken zurück. Dios mío, ich schäme mich
dafür, sie dermaßen aufgebracht zu haben. Ich strecke meine Hand
nach ihr aus,
meine Finger legen sich um ihren Oberarm, um sie zu drücken und
mich bei ihr zu entschuldigen, aber sie zuckt zusammen.
»Mamá?«, sage ich und frage mich, was los ist. Ich habe sie
nicht hart angefasst, aber sie verhält sich, als ob es so
wäre.
Sie befreit sich aus meinem Griff und wendet sich
ab, aber ich kann das nicht auf sich beruhen lassen. Ich mache
einen Schritt auf sie zu und schieb den Ärmel ihres Kleides hoch.
Zu meinem Entsetzen entdecke ich eine fiese Prellung auf ihrem
Oberarm. Lila, schwarze und blaue Schattierungen leuchten mir
anklagend entgegen und meine Gedanken galoppieren zurück zu der
Hochzeit, als ich meine Mutter und Hector ins Gespräch vertieft
beobachtet habe.
»War das Hector?«, frage ich sie sanft.
»Du musst aufhören, Fragen über papá zu
stellen«, sagt sie und zieht schnell den Ärmel runter, um die
Prellung zu bedecken.
In meinem Magen beginnt die Wut zu brodeln, als mir
klar wird, dass mi’amá diese Prellung verpasst wurde, um
mich zu warnen. »Warum? Wen versucht Hector zu schützen?« Beschützt
er jemanden aus der Gang, oder einen Verbündeten der Latino Blood?
Ich wünschte, ich könnte Hector fragen. Mehr noch, ich würde mich
gerne an ihm rächen und ihm eine Abreibung verpassen, weil er
meiner Mom wehgetan hat, aber Hector ist unantastbar. Forderte ich
Hector heraus, wäre es, als wendete ich mich gegen die Bruderschaft
selbst.
Sie starrt mich wütend an. »Stell mir deswegen
keine Fragen. Es gibt Dinge, die du nicht weißt, Alejandro. Dinge,
die du besser nie erfährst. Lass es einfach auf sich
beruhen.«
»Meinst du in Unwissenheit zu leben sei was Tolles?
Papá war in einer Gang und hat mit Drogen gedealt. Ich habe
keine Angst vor der Wahrheit, verdammt. Warum versuchen alle um
mich herum, sie vor mir zu verbergen?«
Meine Hände sind verschwitzt und hängen verkrampft
an meiner Seite. Ein Geräusch aus dem Flur erregt meine
Aufmerksamkeit. Ich drehe mich um und sehe meine zwei Brüder, die
Augen weit aufgerissen vor Verwirrung.
Mist.
Als mi’amá Luis und Carlos entdeckt, holt
sie erschrocken Luft. Ich würde alles darum geben, diesen Schmerz
von ihr nehmen zu können.
Ich gehe auf sie zu und lege ihr sanft die Hand auf
die Schulter. »Perdón, mamá.«
Sie wischt meine Hand weg, unterdrückt einen
Schluchzer und rennt in ihr Zimmer. Die Tür schlägt hinter ihr
zu.
»Ist das wahr?«, fragt Carlos. Seine Stimme klingt
abgeschnürt.
Ich nicke. »Ja.«
Luis schüttelt den Kopf und zieht verwirrt die
Augenbrauen zusammen. »Was sagt ihr zwei da? Das verstehe ich
nicht. Ich dachte, papá war ein guter Mensch. Mamá
hat immer gesagt, er war einer.«
Ich gehe zu meinem kleinen Bruder und ziehe seinen
Kopf an meine Brust.
»Es waren alles Lügen!«, platzt Carlos heraus. »Du,
er, alles Lüge. Mentiras!«
»Carlos …«, sage ich, lasse Luis los und packe
Carlos’ Arm.
Carlos sieht meine Hand angewidert an, in ihm
brodelt es. »Und die ganze Zeit dachte ich, du wärst ein Latino
Blood, um uns zu beschützen. Dabei wollest du nur in papás
Fußstapfen treten. In echt scheißt du darauf, ein Held zu sein. Du
bist gerne ein LB, willst aber nicht, dass ich auch eins werde. Ist
das nicht ganz schön scheinheilig, Bruderherz?«
»Vielleicht.«
»Du bist eine Schande für unsere Familie, das weißt
du, oder?«
Sobald ich meinen Griff lockere, stößt Carlos die
Hintertür auf und stürmt hinaus.
Luis’ leise Stimme bricht das Schweigen. »Manchmal
müssen gute Menschen Dinge tun, die nicht gut sind.
Stimmt’s?«
Ich zerzause sein Haar. Luis ist viel unschuldiger,
als ich es in seinem Alter war. »Weißt du was, ich glaube, du bist
der Klügste von uns allen, kleiner Bruder. Jetzt geh ins Bett und
lass mich mit Carlos reden.«
Ich finde Carlos auf unserer Veranda, die an den
Nachbargarten grenzt.
»Ist er so gestorben?«, fragt er, als ich mich
neben ihn setze. »Bei einem Drogendeal?«
»Mm.«
»Und er hat dich mitgenommen?«
Ich nicke.
»Der Bastard, du warst erst sechs.« Carlos stößt
theatralisch die Luft aus. »Ich habe Hector heute bei den
Basketballplätzen an der Main Street gesehen.«
»Halt dich von ihm fern. Die Wahrheit ist, ich
hatte keine Wahl, nachdem papá gestorben war und jetzt kann
ich nicht zurück. Wenn du glaubst, ich sein ein Latino Blood, weil
ich es toll finde, täuschst du dich. Ich möchte nicht, dass aus dir
eines wird.«
»Ich weiß.«
Ich sehe ihn so streng an, wie unsere Mutter mich
früher angeblickt hat. Wenn ich Tennisbälle in ihre Strumpfhose
gelegt und sie als Schleuder benutzt habe, um zu sehen, wie hoch
sie fliegen. »Hör mir zu, Carlos, und hör genau hin. Konzentrier
dich auf die Schule, damit du aufs College gehen kannst. Mach etwas
aus dir.« Im Gegensatz zu mir.
Es ist lange still.
»Destiny möchte auch nicht, dass ich ein LB werde.
Sie will,
dass ich auf die Uni gehe und Krankenpflege studiere.« Er gluckst.
»Sie hat gesagt, es wäre doch toll, wenn wir auf dieselbe Uni gehen
würden.« Ich halte den Mund und höre ihm zu, weil es wichtig für
ihn ist, dass ich aufhöre, ihm Ratschläge zu erteilen und ihn seine
eigenen Pläne machen lasse. »Ich mag Brittany«, sagt er.
»Ich auch.« Ich denke an das, was vorhin im Auto
passiert ist. Ich habe völlig den Kopf verloren. Hoffentlich habe
ich es mir nicht mit ihr versaut.
»Ich habe gesehen, wie Brittany sich auf der
Hochzeit mit mamá unterhalten hat. Sie hat sich gut
geschlagen.«
»Ich will dir ja nicht deine Illusionen rauben,
aber sie ist kurz darauf im Bad zusammengeklappt.«
»Für jemanden, der so klug ist, bist du ganz schön
loco, wenn du meinst, du bekämest alles allein auf die
Kette.«
»Ich halte einiges aus«, versichere ich Carlos.
»Und ich bin darauf vorbereitet, dass es gefährlich werden
könnte.«
Carlos tätschelt meinen Rücken. »Irgendwie, Bruder,
glaube ich, dass ein Mädchen von der Northside zu daten härter ist,
als in einer Gang zu sein.«
Das ist die perfekte Gelegenheit, meinem Bruder
reinen Wein einzuschenken. »Carlos, wenn sie dir von Brüderlichkeit
und Ehre und Loyalität erzählen, hört es sich großartig an. Aber
sie sind nicht deine Familie, weißt du. Und sie sind nur so lange
deine Brüder, wie du bereit bist, alles zu tun, was sie von dir
verlangen.«
Meine Mom öffnet die Tür und sieht auf uns
herunter. Sie sieht so traurig aus. Ich wünschte, ich könnte ihr
Leben verändern und ihr den Schmerz nehmen, aber ich weiß, dass ich
das nicht kann.
»Carlos, lass mich allein mit Alejandro
reden.«
Als Carlos ins Haus zurückgekehrt ist und außer
Hörweite,
setzt sich meine Mom neben mich. Sie hat eine Zigarette in der
Hand, die erste, die ich sie seit langer Zeit rauchen sehe.
Ich warte darauf, dass sie beginnt. Ich habe heute
Nacht schon genug gesagt.
»Ich habe in meinem Leben eine Menge Fehler
gemacht, Alejandro«, sagt sie und bläst Zigarettenqualm zum Mond
hinauf. »Und einige davon kann ich nicht wiedergutmachen, egal wie
sehr ich den Herrn darum bitte.« Sie streckt die Hand aus und
streicht mir das Haar hinter die Ohren. »Du bist ein Teenager, der
die Verantwortung eines Mannes trägt. Ich weiß, das ist dir
gegenüber nicht fair.«
»Está bien.«
»Nein, das ist es nicht. Ich bin auch zu schnell
erwachsen geworden. Ich habe noch nicht mal die Highschool
abgeschlossen, weil ich mit dir schwanger wurde.« Sie sieht mich
an, als sähe sie sich selbst vor nicht allzu langer Zeit als
Teenager. »Oh, ich wollte so gern ein Baby haben. Dein Vater wollte
bis nach der Highschool warten, aber ich habe dafür gesorgt, dass
es früher passierte. Alles, was ich wollte, war eine Mom zu
sein.«
»Bereust du es?«, frage ich sie.
»Eine Mom zu sein? Niemals. Deinen Vater verführt
und dafür gesorgt zu haben, dass er kein Kondom benutzt. Ja.«
»So genau wollte ich es gar nicht wissen.«
»Nun, ich werde es dir erzählen, ob du es hören
willst oder nicht. Sei vorsichtig, Alex.«
»Das bin ich.«
Sie zieht an ihrer Zigarette, während sie den Kopf
schüttelt. »Nein, du verstehst mich nicht. Du bist vielleicht
vorsichtig, aber die Mädchen sind es nicht. Mädchen manipulieren
dich. Ich muss es wissen, ich war eins von ihnen.«
»Brittany ist …«
»… die Art Mädchen, die dich dazu bringt, Dinge zu
tun, die du nicht tun willst.«
»Glaub mir, Mom. Sie will kein Kind.«
»Nein, aber sie wird andere Dinge wollen. Dinge,
die du ihr nie geben können wirst.«
Ich blicke zu den Sternen hoch, zum Mond. Das
Universum, das ich kenne, hat kein Ende. »Was ist, wenn ich sie ihr
geben will?«
Sie atmet langsam aus, mit ihrem Atem verlässt der
Zigarettenrauch ihren Mund als weiße Schwade. »Mit fünfunddreißig
bin ich alt genug, um Leute sterben gesehen zu haben, die dachten,
sie könnten den Lauf der Welt verändern. Egal, was du denkst, dein
Vater ist bei dem Versuch gestorben, sein Leben wieder in Ordnung
zu bringen. Das Bild, das du von ihm hast, ist verzerrt, Alejandro.
Du warst noch ein kleiner Junge, zu jung, um zu verstehen.«
»Jetzt bin ich alt genug.«
Eine Träne löst sich aus ihrem Augenwinkel und sie
wischt sie weg. »Ja, vielleicht, aber jetzt ist es zu spät.«