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Brittany
Das schwere Atmen meiner Schwester ist das Erste,
was ich höre, nachdem mich das Licht der frühen Morgensonne geweckt
hat, die in ihr Zimmer scheint. Ich bin in Shelleys Zimmer gegangen
und habe stundenlang neben ihr gelegen und beobachtet, wie sie
friedlich schlief, bevor ich selbst eingedöst bin.
Als ich noch klein war, bin ich bei jedem Gewitter
in das Zimmer meiner Schwester gerannt. Nicht um Shelley die Angst
zu nehmen, sondern damit ihre Nähe mir die meine nahm. Ich hielt
Shelleys Hand und irgendwie lösten sich dadurch meine Ängste in
Luft auf.
Während ich meine große Schwester so friedlich
schlafen sehe, kann ich nicht glauben, dass meine Eltern sie
wegschicken wollen. Shelley ist ein Teil von mir, der Gedanke, ohne
sie zu leben, scheint so … falsch. Manchmal habe ich das Gefühl,
Shelley und ich sind auf eine Weise verbunden, die nur wenige
Menschen nachvollziehen können. Wenn unsere Eltern nicht
entschlüsseln können, was Shelley ihnen sagen will, oder weshalb
sie frustriert ist, weiß ich es für gewöhnlich.
Deswegen hat es mich so fertiggemacht, dass sie
mich an den Haaren gezogen hat. Ich habe nie wirklich geglaubt,
dass sie es bei mir machen würde.
Aber das hat sie.
»Ich werde nicht zulassen, dass sie dich
wegbringen«, sage ich leise zu meiner schlafenden Schwester. »Ich
werde dich immer beschützen.«
Ich stehe vorsichtig aus Shelleys Bett auf. Es wäre
mir nicht möglich, Zeit mit Shelley zu verbringen, ohne dass sie
bemerkt, wie aufgewühlt ich bin. Deshalb ziehe ich mich an und
verlasse das Haus, bevor sie aufwacht.
Ich habe mich gestern Alex anvertraut und der
Himmel ist nicht herabgestürzt. Ich habe mich sogar besser gefühlt,
nachdem ich ihm von Shelley erzählt hatte. Da sollte es mir erst
recht helfen, mit Sierra und Darlene darüber zu sprechen.
Während ich vor Sierras Haus in meinem Wagen sitze,
denke ich darüber nach, wie mein Leben gerade aussieht.
Nichts läuft rund. Das Abschlussjahr sollte
eigentlich Spaß machen. So eine Art Krönung sein. Bis jetzt war es
alles, nur das nicht. Colin macht mir Druck, ein Typ aus’ner Gang
ist mehr als nur mein Chemiepartner und meine Eltern wollen meine
Schwester weit weg von Chicago schicken. Was könnte sonst noch
schiefgehen?
Ich bemerke Bewegungen an Sierras Fenster im ersten
Stock. Erst kommen Beine, dann ein Hintern. Oh Gott, es ist Doug
Thompson, der versucht, das Spalier herunterzuklettern.
Doug muss mich entdeckt haben, denn Sierra steckt
den Kopf aus dem Fenster. Sie winkt und bedeutet mir zu
warten.
Dougs Fuß hat das Spalier immer noch nicht
erreicht. Sierra hält seine Hand, um ihm Halt zu geben. Endlich hat
er es geschafft, aber die Blumen irritieren ihn und er fällt hinab,
mit Armen und Beinen durch die Luft rudernd. Dass es ihm gut geht,
erkenne ich erst, als er Sierra den hochgereckten Daumen zeigt und
davonjoggt.
Ich frage mich, ob Colin für mich Spaliere
hochklettern würde.
Sierras Haustür öffnet sich kurz darauf und sie
tritt in Unterwäsche und Spaghettiträgertop vor die Tür. »Brit, was
machst du hier? Es ist sieben Uhr morgens. Du weißt doch, dass die
Schule heute wegen der Lehrerkonferenz ausfällt, oder?«
»Ich weiß, aber mein Leben gerät gerade völlig aus
den Fugen.«
»Komm rein, dann reden wir«, sagt sie und öffnet
meine Autotür. »Ich friere mir hier gerade den Arsch ab. Warum
dauern die Sommer in Chicago eigentlich nicht länger?«
Als wir drinnen sind, ziehe ich meine Schuhe aus,
damit ich ihre Eltern nicht wecke.
»Keine Sorge, die sind schon vor einer Stunde ins
Fitnesscenter verschwunden.«
»Warum ist Doug dann aus dem Fenster
geklettert?«
Sierra zwinkert mir zu. »Damit unsere Beziehung
nicht langweilig wird. Kerle stehen auf Abenteuer.«
Ich folge Sierra in ihr geräumiges Zimmer. Es ist
in Fuchsie und Apfelgrün dekoriert, den Farben, die der
Innenarchitekt ihrer Mutter für sie ausgesucht hat. Ich lasse mich
auf das Gästebett fallen, während Sierra Darlene anruft. »Dar, komm
rüber. Brit hat die Krise.«
Darlene, die ihren Pyjama und Hausschuhe trägt, ist
wenige Minuten später da. Sie wohnt nur zwei Häuser weiter.
»Okay, was ist los?«, fragt Sierra.
Jetzt, da alle Augen erwartungsvoll auf mich
gerichtet sind, bin ich mir plötzlich nicht mehr sicher, ob diese
Sache mit dem Anvertrauen so eine gute Idee war. »Eigentlich ist
gar nichts.«
Darlene richtet sich entrüstet auf. »Hör zu, Brit.
Du hast mich um sieben Uhr morgens aus dem Bett geholt. Spuck’s
aus.«
»Ja«, sagt Sierra. »Wir sind deine Freundinnen.
Wenn du es uns nicht sagen kannst, wem dann?«
Alex Fuentes. Aber das würde ich ihnen nie
verraten.
»Warum gucken wir nicht ein paar alte Filme«,
schlägt Sierra vor. »Wenn Audrey Hepburn dich nicht dazu bewegt,
uns dein Herz auszuschütten, weiß ich auch nicht.«
Darlene stöhnt. »Ich glaube einfach nicht, dass ihr
mich für eine Nichtkrise und alte Filme aus dem Bett geholt habt.
Ihr zwei solltet euch wirklich ein paar neue Hobbys zulegen. Das
Mindeste, was ihr tun könnt, ist, mich mit Klatsch zu versorgen.
Hat irgendwer was zu berichten?«
Sierra führt uns ins Wohnzimmer und wir lassen uns
auf dem Sofa ihrer Eltern in die Kissen sinken. »Ich habe gehört,
Samantha Jacoby ist am Dienstag dabei erwischt worden, wie sie mit
jemandem im Hausmeisterkabuff rumgeknutscht hat.«
»Hört, hört«, sagt Darlene total
unbeeindruckt.
»Habe ich erwähnt, dass es Chuck war, einer der
Hausmeister?«
»Das ist wirklich Eins-a-Klatsch, Sierra.«
Wird es genauso sein, wenn ich ihnen etwas
anvertraue? Wird mein Kummer sich in Klatsch verwandeln, über den
alle lachen?
Vier Stunden, zwei Filme, Popcorn und einen Becher
Ben & Jerrys Eiskrem später fühle ich mich sehr viel besser.
Vielleicht war es Audrey Hepburn als Sabrina, irgendwie glaube ich
jetzt, alles sei möglich. Und schon denke ich an …
»Was haltet ihr zwei von Alex Fuentes?«, frage
ich.
Sierra wirft sich einen Popcornkrümel in den Mund.
»Was meinst du damit, was wir von ihm halten?«
»Ich weiß nicht«, sage ich, ohne damit aufhören zu
können, über die intensive, nicht zu leugnende Anziehungskraft
zwischen uns nachzudenken. »Er ist mein Chemiepartner.«
»Und …?«, drängt mich Sierra fortzufahren. Sie
wedelt ungeduldig
mit der Hand in der Luft, als wolle sie sagen: Worauf willst du
hinaus?
Ich schnappe mir die Fernbedienung und halte den
Film an. »Er ist heiß. Das müsst ihr zugeben.«
»Iiih, Brit«, sagt Darlene und tut, als müsse sie
sich übergeben.
Sierra sagt: »Okay, ich gebe zu, er ist süß. Aber
er ist niemand, mit dem ich ausgehen würde. Du weißt schon, er ist
in einer Gang.«
»Die Hälfte der Zeit kommt er high zur Schule«,
schaltet sich Darlene ein.
»Ich sitze direkt neben ihm, Darlene, und mir ist
noch nie aufgefallen, dass er high gewesen wäre.«
»Machst du Witze, Brit? Alex nimmt Drogen, bevor er
zur Schule geht und auf der Jungstoilette, wenn er die Studierzeit
schwänzt. Und ich rede hier nicht über harmloses Gras. Er nimmt die
harten Sachen«, stellt Darlene fest, als handle es sich dabei um
Tatsachen.
»Hast du gesehen, wie er Drogen nimmt?«, fordere
ich sie heraus.
»Jetzt hör mal, Brit. Ich muss nicht mit ihm in
einem Raum sein, um zu wissen, dass er schnupft oder sich einen
Schuss setzt. Alex ist gefährlich. Außerdem geben sich Mädchen wie
wir nicht mit Latino-Blood-Gangstern ab.«
Ich lasse mich tief in die plüschigen Kissen der
Couch sinken. »Ja, ich weiß.«
»Colin liebt dich«, sagt Sierra und wechselt so das
Thema.
Das, was Colin am Strand für mich empfunden hat,
ist weit von Liebe entfernt, das spüre ich. Aber ich will nicht
davon anfangen.
Meine Mom versucht dreimal, mich anzurufen. Zuerst
auf dem Handy, das ich daraufhin ausschalte. Doch davon
lässt sie sich nicht beirren und ruft zweimal bei Sierra zu Hause
an.
»Deine Mom kommt rüber, wenn du nicht mit ihr
redest«, sagt Sierra, das Telefon in der Hand.
»Wenn sie das tut, bin ich sofort weg.«
Sierra reicht mir das Telefon. »Ich und Darlene
gehen raus, damit du etwas Privatsphäre hast. Ich weiß nicht, worum
es hier geht, aber rede mit ihr.«
Ich halte den Hörer an mein Ohr. »Hallo,
Mutter.«
»Hör zu, Brittany. Ich weiß, du bist aufgebracht.
Wir haben uns letzte Nacht entschieden, wie es mit Shelley
weitergehen soll. Ich weiß, das ist hart für dich, aber sie ist in
letzter Zeit immer unzufriedener geworden.«
»Mom, sie ist zwanzig Jahre alt und regt sich auf,
wenn die Leute sie nicht verstehen. Meinst du nicht, das ist
normal?«
»Du gehst nächstes Jahr aufs College. Es ist ihr
gegenüber nicht fair, sie weiter zu Hause zu behalten. Sei nicht so
egoistisch.«
Wenn Shelley weggeschickt wird, weil ich aufs
College gehen werde, ist es meine Schuld. »Ihr werdet das tun, egal
wie es mir damit geht, oder?«, frage ich.
»Ja. Die Entscheidung ist gefallen.«