3
Brittany
»Guck mal, wie bescheuert sich mein Haar kräuselt, Sierra. Jedes Mal, wenn ich das Verdeck von dieser blöden Karre aufmache, verwandelt sich meine Frisur in einen verdammten Wischmopp«, sagte ich zu meiner besten Freundin, während wir die Vine Street in meinem neuen silberfarbenen Cabrio Richtung Fairfield High entlangbrausen.
Das richtige Auftreten ist entscheidend. Meine Eltern haben mir das Motto eingebläut, das mein Leben bestimmt. Nur aus diesem Grund habe ich nicht gegen den protzigen BMW protestiert, als mein Dad ihn mir vor zwei Wochen zum Geburtstag geschenkt hat.
»Wir leben eine halbe Stunde von der Windy City entfernt«, sagt Sierra und hält eine Hand in den Fahrtwind. »Chicago ist nicht gerade für sein gemäßigtes Klima bekannt. Außerdem siehst du mit deinen prachtvollen Locken wie eine blonde griechische Göttin aus, Brit. Du bist nur nervös, weil du gleich Colin wiedersiehst.«
Mein Blick wandert zu dem herzförmigen Foto von Colin und mir, das ich am Armaturenbrett befestigt habe. »Ein Sommer ohne den anderen kann alles verändern.«
»Die Liebe wächst mit der Entfernung«, entgegnet Sierra wie aus der Pistole geschossen. »Du bist die Erste Cheerleaderin und er ist Kapitän des Footballteams. Ihr zwei gehört einfach zusammen, wenn die Welt nicht aus den Fugen geraten soll.«
Colin hat ein paar Mal von der Hütte seiner Eltern aus angerufen, in der er den Sommer mit einer Handvoll Freunden verbracht hat, aber ich habe keinen Schimmer, wie es um unsere Beziehung steht. Er ist erst gestern Abend zurückgekommen.
»Ich liebe deine Jeans«, sagt Sierra und mustert meine verblichene Brazilian Jeans. »Ich werde sie mir ausborgen, bevor du Mississippi sagen kannst.«
»Meine Mom hasst sie«, erzähle ich ihr. An einer roten Ampel fahre ich mir durch die Haare, versuche vergeblich meine blonde Mähne zu bändigen. »Sie meint, sie sähe aus, als hätte ich sie in einem Second-Hand-Laden gekauft.«
»Hast du ihr nicht gesagt, dass Vintage jetzt in ist?«
»Als ob sie so was interessieren würde. Sie hat ja kaum hingehört, als ich sie nach der neuen Pflegerin gefragt habe.«
Niemand versteht, was bei mir zu Hause los ist. Gott sei Dank habe ich Sierra. Sie versteht vielleicht nicht alles, aber sie weiß genug, um mir zuzuhören und mein Privatleben für sich zu behalten. Abgesehen von Colin ist Sierra bis jetzt die Einzige, die meine Schwester kennengelernt hat.
Sierra wirft einen Blick in mein CD-Etui. »Was ist aus der letzten Pflegerin geworden?«
»Shelley hat ihr ein Büschel Haare ausgerissen.«
»Autsch.«
Ich biege auf den Schulparkplatz. In Gedanken bin ich immer noch mehr bei meiner Schwester als auf der Straße. Mit quietschenden Reifen komme ich in letzter Sekunde zum Stehen – fast hätte ich einen Typen und ein Mädchen auf einem Motorrad übersehen und umgenietet. Ich hatte angenommen, die Parktasche sei leer.
»Pass gefälligst auf, Miststück«, zischt Carmen Sanchez, das Mädchen auf dem Sozius des Motorrads, und zeigt mir den Mittelfinger.
Anscheinend hat sie gefehlt, als es in der Fahrschule um faires Verhalten im Straßenverkehr ging.
»Sorry!«, rufe ich lauthals, damit man mich über das Röhren des Motorrads hinweg hören kann. »Ich habe gedacht, hier wäre noch frei.«
Dann wird mir klar, wessen Motorrad ich beinah schrottreif gefahren hätte. Der Fahrer dreht sich um. Wütende dunkle Augen. Ein rot-schwarzes Bandana. Ich lasse mich so tief wie möglich in den Fahrersitz sinken.
»Oh, Scheiße. Es ist Alex Fuentes«, sage ich am ganzen Körper zitternd.
»Verfluchte Hacke, Brit«, flüstert Sierra heiser. »Ich würde meinen Abschluss gern noch erleben. Bring uns hier weg, bevor er beschließt, uns beide zu lynchen.«
Alex starrt mich mit seinem dämonischen Blick an, während er das Motorrad aufbockt. Hat er vor, mich zu Hackfleisch zu verarbeiten?
Ich suche nach dem Rückwärtsgang, bewege hektisch den Knüppel vor und zurück. Mein Dad hat mir natürlich ein Auto mit Schaltung gekauft, ohne sich darum zu scheren, ob ich damit auch zurechtkomme.
Alex macht einen Schritt auf das Auto zu. Mein Instinkt rät mir, sofort aus dem Wagen zu flüchten, so als stünde ich mitten auf einem Bahnübergang und ein Zug rase auf mich zu. Ich werfe Sierra einen kurzen Blick zu, die in ihrer Handtasche herumkramt, als würde sie verzweifelt nach etwas suchen. Was zum Teufel soll das?
»Ich krieg den verdammten Rückwärtsgang nicht rein. Ich brauche deine Hilfe. Wonach suchst du?«, frage ich sie entgeistert.
»Nach … nichts eigentlich. Ich versuche nur, jeden Blickkontakt mit den Latino-Blood-Geschwistern da drüben zu vermeiden. Bring uns endlich hier weg, okay?«, erwidert Sierra mit gepresster Stimme. »Außerdem kenne ich mich nur mit Automatikwagen aus.«
Endlich schaffe ich es, den Rückwärtsgang einzulegen, und setze mit quietschenden Reifen nach hinten. Die Suche nach einem freien Parkplatz beginnt aufs Neue.
Nachdem wir auf der Westseite geparkt haben, weit weg von einem gewissen Gangmitglied, dessen Ruf sogar gestandene Footballspieler der Fairfield vor Angst erzittern lässt, gehe ich die Stufen zum Hauptportal hoch. Pech für uns – Alex Fuentes und der Rest seiner Latinofreunde hängen neben der Eingangstür rum.
»Geh einfach an ihnen vorbei«, raunt mir Sierra zu. »Was immer du tust, sieh ihnen nicht in die Augen.«
Diesen Rat zu befolgen wird schlichtweg unmöglich, als Alex Fuentes sich mir in den Weg stellt. Wie geht noch mal das Gebet, das man unmittelbar vor seinem Tod sprechen soll?
»Dein Fahrstil ist’ne absolute Katastrophe«, sagte Alex mit seinem leichten Latinoakzent und in voller Alphamännchen-Pose.
Der Kerl sieht mit seinem irren Körper und den makellosen Gesichtszügen vielleicht aus wie ein Calvin-Klein-Model, aber viel wahrscheinlicher ist, dass sein Konterfei schon bald für ein Fahndungsfoto benötigt wird.
Die Kids von der Northside geben sich normalerweise nicht mit denen von der Southside ab. Das liegt nicht daran, dass wir uns für etwas Besseres halten, wir sind einfach anders. Wir wachsen alle in derselben Stadt auf, aber wir führen vollkommen verschiedene Leben. Wir Northside-Kids wohnen in großen Häusern direkt am Michigansee, die Southside-Kids dagegen an den Bahngleisen. Wir sehen anders aus, reden anders und kleiden uns anders. Ich sage damit nicht, dass das eine gut und das andere schlecht ist – so ist es eben einfach auf der Fairfield. Und, um ehrlich zu sein, von den meisten Southside-Mädchen werde ich behandelt wie von Carmen Sanchez. Sie hassen mich für das, was ich bin.
Oder, genauer gesagt, für das, wofür sie mich halten.
Alex sieht mich herausfordernd an. Sein Blick wandert langsam über meinen Körper, nimmt jedes Detail genüsslich in Augenschein. Es ist nicht das erste Mal, dass ein Typ mich mit Blicken auszieht, es ist nur, dass es bisher keiner so offensichtlich getan hat wie Alex. Und mir dabei körperlich so nah war. Ich spüre, wie mir die Hitze ins Gesicht steigt.
»Pass das nächste Mal auf, wo du hinfährst«, sagt er. Seine Stimme klingt kühl und beherrscht.
Er versucht mir zu zeigen, wer hier der Boss ist. Darin ist er Profi. Aber ich werde nicht zulassen, dass er mir unter die Haut kriecht und sein kleines Einschüchterungsspielchen gewinnt. Selbst wenn mein Magen sich anfühlt, als hätte ich hundert Flickflacks hintereinander geschlagen. Ich drücke die Schulterblätter durch und lächle ihn spöttisch an. Mit diesem Lächeln halte ich mir die Leute vom Hals. »Danke für den Tipp.«
»Falls du je’nen richtigen Mann brauchst, der dir das Fahren beibringt, gebe ich dir gern’ne Stunde.«
Die Rufe und Pfiffe seiner Kumpels bringen mein Blut zum Kochen.
»Wenn du ein richtiger Mann wärst, würdest du mir die Tür aufhalten, statt mir im Weg zu stehen«, sage ich und gratuliere mir insgeheim zu meiner Schlagfertigkeit, auch wenn meine Knie nachzugeben drohen.
Alex tritt zurück, öffnet die Tür und verbeugt sich tief vor mir, als wäre er mein Butler. Er zieht mich so was von auf, er weiß es und ich weiß es auch. Alle wissen es. Ich erhasche einen Blick auf Sierra, die immer noch verzweifelt nach nichts in ihrer Tasche sucht. Sie ist vollkommen fertig.
»Träum weiter, Junge«, sage ich provozierend.
»Cabróna, ich erzähl dir mal was«, erwidert Alex grob. »Du bist die Träumerin – dein Leben hat doch nichts mit der Realität zu tun, es ist total gefaket. Genau wie du.«
»Das ist auf jeden Fall besser, als sein Leben lang ein Loser zu sein«, fauche ich ihn an und hoffe, ihn damit ebenso zu treffen wie er mich gerade getroffen hat. »Ein Loser, so wie du.«
Ich schnappe mir Sierras Arm und zerre sie mit mir durch die offene Tür. Von Pfiffen und Buhrufen begleitet, betreten wir die Schule.
Als wir drinnen sind, atme ich erleichtert aus. Ich schätze, ich habe die ganze Zeit über den Atem angehalten, denn es klingt verdächtig nach einem Stoßseufzer. Dann wende ich mich Sierra zu.
Meine beste Freundin starrt mich entgeistert an. »Scheiße noch mal, Brit! Hast du Todessehnsucht, oder was?«
»Was gibt Alex Fuentes das Recht, jeden fertigzumachen, der ihm über den Weg läuft?«
»Och, ich weiß nicht. Vielleicht die Waffe, die er in seiner Hose versteckt, oder das Bandana, das er trägt«, sagt Sierra. Jedes ihrer Worte trieft vor Sarkasmus.
»Er ist nicht so blöd, eine Waffe mit in die Schule zu bringen«, argumentiere ich. »Und ich lasse mich nicht herumschubsen, weder von ihm, noch von sonst irgendwem.« Zumindest nicht hier. Die Schule ist der einzige Ort, an dem meine perfekte Fassade keine Risse zeigt. Jeder in der Schule kauft sie mir ab. Plötzlich bin ich ganz aufgekratzt bei dem Gedanken, mein letztes Jahr an der Fairfield zu beginnen. Ich packe Sierra an den Schultern und schüttle sie. »Wir gehören endlich zu den Seniors«, sage ich mit derselben übertriebenen Begeisterung, die ich mir für die Cheerleadingauftritte antrainiert habe.
»Und?«
»Und deshalb wird von jetzt an alles p-e-r-f-e-k-t laufen.«
Es läutet, auch wenn es eigentlich kein Läuten ist, weil die Schüler letztes Jahr entschieden haben, das Läuten zwischen den Unterrichtsstunden durch das Einspielen von Musik zu ersetzen. Gerade spielen sie Summer Lovin’ aus Grease. Sierra setzt sich wieder in Bewegung. Sie geht den Gang entlang. »Ich werde dafür sorgen, dass deine Beerdigung p-e-r-f-e-k-t wird. Mit Blumen und allem Drum und Dran.«
»Wer ist gestorben?«, fragt eine Stimme hinter mir.
Ich drehe mich um. Es ist Colin, das blonde Haar von der Sommersonne gebleicht und mit einem Grinsen, so breit, dass es beinah sein gesamtes Gesicht einnimmt. Ich wünschte, ich hätte einen Spiegel, um zu prüfen, ob mein Make-up verschmiert ist. Aber Colin wäre selbst dann noch mein Freund, oder? Ich renne zu ihm und werfe mich in seine Arme.
Er drückt mich fest, küsst mich sanft auf die Lippen und hält mich auf Armeslänge Abstand. »Wer ist gestorben?«, fragt er ein zweites Mal.
»Niemand«, erwidere ich. »Vergiss es. Vergiss alles, außer, dass du mit mir zusammen bist.«
»Das ist leicht, wenn du so verdammt heiß aussiehst.« Colin küsst mich erneut. »Tut mir leid, dass ich dich nicht angerufen habe. Ich war voll mit Auspacken beschäftigt und so.«
Ich lächle zu ihm auf, froh, dass die lange Trennung nichts an unseren Gefühlen füreinander geändert hat. Die Welt ist in den Fugen, für den Moment zumindest.
Colin legt gerade den Arm um meine Schulter, als die Eingangstüren aufschlagen. Alex und seine Freunde stürmen herein, als planten sie eine Geiselnahme.
»Warum kommen die überhaupt noch zur Schule?«, murmelt Colin so leise, dass nur ich ihn hören kann. »Die Hälfte von ihnen wird das Schuljahr doch sowieso abbrechen.«
Mein Blick kreuzt sich kurz mit Alex’ und ein Schauer rinnt meinen Rücken hinunter.
»Ich habe heute Morgen beinah Alex Fuentes’ Motorrad plattgemacht«, erzähle ich Colin, sobald Alex außer Hörweite ist.
»Das hättest du mal tun sollen.«
»Colin!«, protestiere ich.
»Zumindest hätte es ausreichend Gesprächsstoff für den ersten Tag geliefert. Die Schule ist einfach scheißlangweilig.«
Scheißlangweilig? Ich hätte beinah einen Autounfall gebaut, habe eine Kriegserklärung von einem Southside-Mädel erhalten und bin von einem gefährlichen Gangmitglied direkt vor der Schule bedroht worden. Wenn das ein Vorgeschmack auf den Rest des Schuljahres gewesen sein soll, wird es alles Mögliche werden, aber auf keinen Fall scheißlangweilig.
Du oder das ganze Leben
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