7
Brittany
Nach Schulschluss krame ich gerade in meinem
Spind, als meine Freundinnen Morgan, Madison und Megan anrauschen.
Sierra nennt sie nur die M&Ms.
Morgan umarmt mich. »Oh my God, alles okay mit
dir?«, fragt sie und betrachtet mich prüfend.
»Ich habe gehört, Colin hat dich beschützt. Er ist
einfach unglaublich. Du hast so ein Glück, Brit«, sagt Madison.
Ihre wunderschönen Locken tanzen bei jedem ihrer Worte auf und
ab.
»Es war keine große Sache«, wiegle ich ab und frage
mich gleichzeitig, welches Gerücht – im Gegensatz zum tatsächlich
Geschehenen – über die Geschichte in Umlauf sein mag.
»Was genau hat Alex gesagt?«, fragt Megan. »Caitlin
hat ein Foto mit ihrem Handy gemacht, aber ich konnte nicht
erkennen, was abging.«
»Kommt nicht zu spät zum Training«, ruft uns
Darlene vom Ende des Ganges aus zu. So schnell, wie sie aufgetaucht
ist, ist sie auch schon wieder verschwunden.
Megan öffnet ihren Spind, der neben meinem liegt,
und zieht ihre Pompons heraus. »Ich hasse es, wie Darlene sich bei
Ms Small einschleimt«, flüstert sie mir zu.
Ich schließe meinen Spind ab und wir gehen nach
draußen auf das Spielfeld. »Ich glaube, sie versucht nur, sich ganz
aufs
Tanzen zu konzentrieren, um nicht Amok zu laufen, weil Tyler
zurück aufs College musste.«
Morgan rollt mit den Augen. »Wie dem auch sei. Sie
hat zumindest einen Freund. Ich habe keinen und deshalb auch null
Mitleid mit ihr.«
»Auch von meiner Seite kein Mitleid. Mal ernsthaft,
die hat den nächsten doch garantiert schon im Visier!«, sagt
Madison.
Als wir das Spielfeld erreichen, sitzt unser
gesamtes Team auf dem Rasen und wartet auf Ms Small. Puh, wir sind
nicht zu spät.
»Ich kann immer noch nicht glauben, dass du Alex
Fuentes abbekommen hast«, sagt Darlene leise, als ich mich neben
sie ins Gras setze.
»Sollen wir Partner tauschen?«, frage ich, obwohl
ich weiß, dass Mrs Peterson das nie erlauben würde. Das hat sie
klar und deutlich gesagt.
Darlene verzieht angewidert das Gesicht und steckt
sich andeutungsweise den Finger in den Hals. »Nie im Leben«,
flüstert sie. »Ich würde mich doch nicht mit einem von der
Southside abgeben. Sich mit denen einzulassen bringt nur Ärger.
Erinnerst du dich an letztes Jahr, als Alyssa McDaniel mit diesem
Typen gegangen ist … wie war noch gleich sein Name?«
»Jason Avila?«, sage ich leise.
Darlene schüttelt sich leicht. »In kürzester Zeit
war Alyssa nicht mehr angesagt, sondern die totale Außenseiterin.
Die Mädchen von der Southside haben sie gehasst, weil sie sich
einen ihrer Jungs geschnappt hat, und sie hat aufgehört, sich mit
uns zu treffen. Gott sei Dank hat Alyssa mit ihm Schluss
gemacht.«
Ms Small kommt mit ihrem CD-Player in der Hand auf
uns zu. Sie beschwert sich darüber, dass jemand ihn nicht an seinen
üblichen Platz zurückgestellt habe und sie deshalb zu spät
sei.
Als Ms Small uns anweist, mit dem Dehnen zu
beginnen, drängt Sierra Darlene beiseite, damit sie mit mir reden
kann.
»Du steckst in großen Schwierigkeiten, Süße«, sagt
Sierra.
»Warum?«
Sierra hat ihre Augen und Ohren überall. An der
Fairfield geschieht nichts, von dem sie nichts weiß.
Und schon legt sie los: »Es geht das Gerücht um,
dass Carmen Sanchez nach dir sucht.«
Oh nein. Carmen ist Alex’ Exfreundin. Ich versuche,
nicht auszuflippen und sofort vom Schlimmsten auszugehen, aber
Carmen ist echt tough, von den rotlackierten Fingernägeln bis
hinunter zu den schwarzen Stilettostiefeln. Ist sie eifersüchtig,
weil ich Alex’ Chemiepartnerin bin oder denkt sie, ich habe ihren
Freund beim Direx angeschwärzt?
Die Wahrheit ist, ich war es nicht. Ich wurde in
Aguirres Büro gerufen, weil jemand, der den Vorfall auf dem
Parkplatz beobachtet hatte und Zeuge unseres Schlagabtauschs
geworden war, es gemeldet hatte. Was vollkommen lächerlich ist,
weil ja gar nichts passiert war.
Aguirre hat mir nicht geglaubt. Er dachte, ich
hätte Angst, ihm die Wahrheit zu sagen. Dabei hatte ich in dem
Moment nicht die geringste Angst.
Aber ich habe jetzt welche.
Carmen Sanchez kann mich gnadenlos fertigmachen,
wann immer sie will. Sie weiß, wie man einen Kampf gewinnt, ob mit
Fäusten oder Waffen. Die einzige Waffe, mit der ich mich auskenne,
sind, nun ja, meine Pompons. Ihr mögt mich für verrückt halten,
aber irgendwie bezweifle ich, dass meine Poms ein Mädchen wie
Carmen einschüchtern werden.
Bei einem Wortgefecht gäbe ich vielleicht eine gute
Figur ab, aber bei einem Faustkampf, keine Chance. Jungs kämpfen ja
deshalb, weil sie dieses primitive Ur-Gen haben, das sie dazu
bringt, sich körperlich beweisen zu wollen.
Vielleicht will Carmen mir auch etwas beweisen,
aber dafür gibt es nicht den geringsten Grund. Ich bin keine
Bedrohung für sie, doch wie soll ich ihr das klarmachen? Leider ist
es nicht so, als könnte ich zu ihr gehen und sagen: »Hey, Carmen,
ich werd mich nicht an deinen Freund ranschmeißen und ich habe ihn
auch nicht an Aguirre verpfiffen.« Oder vielleicht sollte ich genau
das tun?
Die meisten Leute denken, mir kann nichts etwas
anhaben. Und daran soll sich auch nichts ändern. Dafür habe ich zu
lange und zu hart an meiner Fassade gearbeitet. Ich werde nicht
alles aufs Spiel setzen, weil irgendein Gangmitglied und seine
Freundin mich auf die Probe stellen wollen.
»Ich mach mir deshalb keine Sorgen«, erkläre ich
Sierra.
Meine beste Freundin schüttelt den Kopf. »Ich kenne
dich, Brit. Du bist nervös«, flüstert sie.
Diese Aussage beunruhigt mich mehr als die
Vorstellung, dass Carmen nach mir sucht, weil für mich das
Wichtigste ist, alle auf Abstand zu halten. Keiner soll
mitbekommen, wie es sich wirklich anfühlt, ich zu sein oder in
meinem Haus zu leben. Aber ich habe zugelassen, dass Sierra mehr
über mich weiß als jeder andere. Ich frage mich, ob ich ab und zu
etwas auf Distanz gehen sollte.
Mein Verstand sagt mir, dass ich paranoid bin.
Sierra ist eine wahre Freundin, sie war sogar für mich da, als ich
letztes Jahr wegen des Nervenzusammenbruchs meiner Mutter geheult
habe, ihr aber den Grund nicht verraten wollte. Sie tröstete mich,
obwohl ich mich weigerte, ihr die Einzelheiten zu schildern.
Ich möchte nicht so enden wie meine Mom. Das ist
meine größte Angst.
Ms Small weist uns an, die Formation zu bilden,
dann spielt
sie die für unser Team zusammengestellte Musik ab und ich zähle
an. Es ist eine Mischung aus Hip-Hop und Rapmusik, die extra für
unsere Performance gesamplet wurde. Wir nennen unsere Tanzeinlage
»Bissige Böse Bulldoggen«, weil das Maskottchen unseres
Footballteams die Bulldogge ist. Mein Körper vibriert im Rhythmus
der Musik. Das liebe ich am Cheerleading. Es ist die Musik, die
mich hypnotisiert und mich alle meine Probleme vergessen lässt. Sie
ist meine Droge, die eine Sache, die mich abschalten lässt.
»Ms Small, können wir versuchen, uns zu Beginn als
Broken T aufzustellen anstatt als T, wie wir es bisher geprobt
haben?«, frage ich. »Dann in die Low V und High V Kombis, während
Morgan, Isabel und Caitlin nach vorn gehen. Ich glaube, das würde
sauberer aussehen.«
Ms Small lächelt, mein Vorschlag gefällt ihr
offensichtlich. »Gute Idee, Brittany. Lass es uns versuchen. Wir
beginnen in der Broken-T-Position mit gebeugten Ellbogen. Während
der Neuformierung kommen Morgan, Isabel und Caitlin nach vorn in
die erste Reihe. Denkt daran, die Schultern nicht hochzuziehen.
Sierra, deine Handgelenke sollten eine Verlängerung deiner Arme
sein, knicke sie nicht ab.«
»Ja, Ma’am«, antwortet Sierra hinter mir.
Ms Small stellt die Musik ein zweites Mal an. Der
Rhythmus, die Lyrics, die Melodie … All das dringt mir ins Blut und
hebt meine Stimmung, egal wie mies ich mich fühle. Während ich
synchron mit den anderen Mädchen tanze, vergesse ich Carmen und
Alex und meine Mom und alles andere.
Der Song ist viel zu schnell vorbei. Ich möchte
mich weiter im Rhythmus der Musik bewegen, als Ms Small den
CD-Player ausschaltet. Der zweite Durchgang war besser, aber unser
Team muss noch viel üben und einige der neuen Mädchen tun sich
schwer mit den Schritten.
»Brittany, du bringst den neuen Mädchen die
Grundschritte bei, bevor wir es wieder als Gruppe versuchen.
Darlene, du leitest den Rest des Teams beim Wiederholen der
Abläufe«, instruiert uns Ms Small und gibt mir den CD-Player.
Isabel ist in meiner Gruppe. Sie kniet sich hin, um
einen Schluck aus ihrer Wasserflasche zu nehmen. »Mach dir keine
Sorgen wegen Carmen«, sagt sie. »Die meiste Zeit bellt sie mehr als
sie beißt.«
»Danke«, erwidere ich. Isabel sieht tough aus, mit
ihrem roten Latino-Blood-Bandana, drei Augenbrauenpiercings und
Armen, die sie stets über der Brust verschränkt, wenn sie nicht
gerade tanzt. Aber ihre Augen blicken freundlich. Und sie lächelt
viel. Ihr Lächeln nimmt ihrem finsteren Auftreten etwas die
Schärfe. Ich wette, wenn sie anstatt des roten Bandana eine
pinkfarbene Schleife im Haar tragen würde, sähe sie richtig
mädchenhaft aus. »Du bist in meinem Chemiekurs, oder?«, frage
ich.
Sie nickt.
»Und du kennst Alex Fuentes?«
Sie nickt erneut.
»Sind die Gerüchte über ihn wahr?«, frage ich
vorsichtig, da ich nicht weiß, wie sie auf meine Neugierde
reagieren wird. Wenn ich nicht aufpasse, wird die Liste der Leute,
die hinter mir her sind, unangenehm lang werden.
Isabels langes braunes Haar umspielt ihr Gesicht,
während sie redet. »Kommt drauf an, welche du meinst.«
Als ich ansetze, die Liste der Gerüchte
herunterzubeten, die Alex’ Drogenkonsum und Verhaftungen durch die
Polizei betreffen, steht Isabel auf. »Hör zu, Brittany«, sagt sie.
»Du und ich – wir werden nie Freundinnen sein. Aber ich kann dir
sagen, egal wie unmöglich Alex sich heute dir gegenüber verhalten
hat, er ist nicht so übel wie sein Ruf. Er ist noch nicht mal so
übel, wie er selbst gern von sich glauben würde.«
Bevor ich eine weitere Frage stellen kann, hat
Isabel ihre Position wieder eingenommen.
Anderthalb Stunden später, als wir alle erschöpft
und gereizt sind und sogar ich genug habe, entlässt uns Ms Small
aus dem Training. Ich nehme mir die Zeit, zu Isabel hinüberzugehen,
die gut ins Schwitzen gekommen ist, um ihr zu sagen, dass sie ihre
Sache heute sehr gut gemacht hat.
»Wirklich?«, fragt sie und sieht mich überrascht
an.
»Du lernst schnell«, sage ich zu ihr. Es stimmt.
Für ein Mädchen, das sich in den ersten drei Highschool-Jahren nie
um einen Platz im Team beworben hat, hat sie unsere Performance
wirklich schnell gelernt. »Deshalb haben wir dich in die erste
Reihe gestellt.«
Während Isabels Mund vor Schock immer noch offen
steht, frage ich mich, ob sie den Gerüchten Glauben schenkt, die
sie über mich gehört hat. Nein, wir werden wohl nie Freundinnen
sein. Aber ich kann sehen, dass wir auch nie Feindinnen sein
werden.
Nach dem Training gehe ich mit Sierra zu meinem
Auto. Sie ist vollauf damit beschäftigt, ihrem Freund Doug eine SMS
zu schreiben.
Ein Stück Papier klemmt hinter einem meiner
Scheibenwischer. Als ich danach greife, erkenne ich Alex’ blauen
Nachsitzzettel. Ich knülle ihn zusammen und pfeffere ihn in meine
Tasche.
»Was war das denn?«, fragt Sierra.
»Nichts«, erwidere ich und hoffe, sie hat
verstanden, dass ich nicht darüber reden will.
»Hey, Leute, wartet doch mal!«, ruft Darlene und
kommt auf uns zugerannt. »Ich habe gerade Colin auf dem
Footballfeld getroffen. Er hat gemeint, wir sollen auf ihn
warten.«
Ich gucke auf meine Uhr. Es ist beinah sechs und
ich möchte
nach Hause, um Baghda zu helfen, das Abendessen für Shelley
zuzubereiten. »Ich kann nicht.«
»Doug hat mir zurückgeschrieben«, sagt Sierra. »Er
hat uns auf eine Pizza zu sich eingeladen.«
»Ich komme mit«, sagt Darlene. »Jetzt, da Tyler
zurück nach Purdue gegangen ist und ich ihn wahrscheinlich
wochenlang nicht sehen werde, langweile ich mich zu Tode.«
Sierras Finger fliegen wieder über die Tasten. »Ich
dachte, du würdest ihn nächstes Wochenende besuchen?«
Darlene steht mit in die Hüften gestemmten Händen
da. »Das dachte ich auch – bis er angerufen und gesagt hat, alle
Mitglieder der Verbindung müssten im Verbindungshaus schlafen wegen
irgend so eines dämlichen Aufnahmerituals. Solange er danach noch
in der Lage ist, mich ordentlich durchzuvögeln, werde ich das eine
Wochenende ohne ihn verschmerzen.«
Bei der Erwähnung des Wortes »vögeln« beginne ich
in meiner Handtasche nach den Autoschlüsseln zu kramen. Wenn
Darlene erst einmal angefangen hat, über Sex zu reden, sollte man
auf Abstand gehen, denn sie findet einfach kein Ende. Und da ich
nicht vorhabe, meine sexuellen Erfahrungen (oder den Mangel
derselben) jemandem anzuvertrauen, haue ich jetzt ab. Der perfekte
Zeitpunkt, sich aus dem Staub zu machen.
Ich klimpere mit den Schlüsseln, woraufhin Sierra
mir eröffnet, dass Doug sie mitnehmen wird. Also werde ich allein
nach Hause fahren. Ich bin gerne allein. Dann muss ich niemandem
etwas vorspielen. Ich kann sogar die Musik aufdrehen, so laut ich
will.
Die Freude über meine neue CD währt jedoch nicht
lange, denn ich fühle, wie mein Handy in der Hosentasche vibriert
und ziehe es heraus. Zwei Nachrichten auf der Mailbox und eine SMS.
Alle von Colin.
Ich rufe ihn auf seinem Handy an. »Brit, wo bist
du?«, fragt er.
»Auf dem Weg nach Hause.«
»Komm rüber zu Doug.«
»Meine Schwester hat eine neue Pflegerin«, erkläre
ich. »Ich muss ihr ein bisschen helfen.«
»Bist du immer noch angepisst, weil ich deinem
Gangsterchemiepartner gedroht habe?«
»Ich bin nicht angepisst, ich bin genervt. Ich habe
dir gesagt, ich kläre das allein, doch du hast mich komplett
ignoriert. Und du hast mitten im Gang eine Riesenszene gemacht. Du
weißt, dass ich es mir nicht ausgesucht habe, neben ihm zu sitzen«,
erkläre ich Colin.
»Ich weiß, Brit. Ich kann den Kerl einfach nicht
ausstehen. Sei nicht sauer.«
»Bin ich nicht«, sage ich. »Ich hasse es nur, mit
anzusehen, wie du völlig grundlos dermaßen aus der Haut
fährst.«
»Und ich hasse es, mit anzusehen, wie der Typ dir
was ins Ohr flüstert.«
Eine mörderische Migräne wird meinen Kopf jeden
Moment in tausend Stücke zerspringen lassen. Dass Colin mir eine
Szene macht, nur weil ein Kerl mit mir geredet hat, kann ich so was
von überhaupt nicht gebrauchen. Das hat er bisher noch nie getan
und es wird dazu führen, dass ich noch mehr im Mittelpunkt der
Aufmerksamkeit und Gerüchte stehe, als es eh schon der Fall ist.
Und das passt mir ganz und gar nicht. »Lass uns einfach vergessen,
dass es je passiert ist.«
»Einverstanden. Ruf mich heute Abend an«, sagt er.
»Falls du dich doch noch loseisen und zu Doug kommen kannst, werde
ich da sein.«
Als ich nach Hause komme, ist Baghda in Shelleys
Zimmer im Erdgeschoss. Sie müht sich gerade ab, Shellys spezielle
undurchlässige Unterhosen zu wechseln, aber Shelley liegt in der
falschen Position. Normalerweise ist ihr Kopf dort, wo nun
ihre Füße sind, und ein Bein hängt aus dem Bett. Es ist die
reinste Katastrophe und Baghda stöhnt und ächzt, als wäre es die
schwierigste Sache, die sie je getan hat.
Ich frage mich, ob meine Mom ihre Referenzen
überprüft hat.
»Ich mach das schon«, sage ich zu Baghda, schiebe
sie beiseite und übernehme. Ich wechsle die Unterwäsche meiner
Schwester seit wir Kinder sind. Es macht keinen Spaß, eine Person
zu wickeln, die mehr wiegt als man selbst, aber wenn man es richtig
macht, dauert es nicht lange und es ist keine große, kräftezehrende
Sache.
Meine Schwester lächelt breit, als sie mich sieht.
»Biwiee!«
Shelley kann keine Wörter artikulieren, aber sie
benutzt verbale Laute, die ihnen nahekommen. »Biwiee« heißt
»Brittany« und ich lächle zurück, als ich sie mir auf dem Bett
zurechtlege. »Hallo Süße, freust du dich schon aufs Abendessen?«,
frage ich, während ich feuchte Tücher aus der Box ziehe und
versuche, nicht über das nachzudenken, was ich gerade tue.
Baghda beobachtet von der Seite, wie ich Shelley
eine neue Unterhose anziehe und ihre Beine in eine frisch
gewaschene Jogginghose stecke. Ich versuche, ihr zu erklären, was
ich gerade tue, aber ein Blick in ihre Richtung verrät mir, dass
sie mir nicht zuhört.
»Deine Mutter hat gesagt, ich könnte gehen, wenn du
nach Hause kommst«, sagt Baghda gelangweilt.
Ich wasche gerade meine Hände. »In Ordnung«,
erwidere ich und bevor ich »bis morgen« sagen kann, hat sie sich
schon aus dem Staub gemacht.
Ich schiebe Shelley in ihrem Rollstuhl in die
Küche. Unsere für gewöhnlich blitzsaubere Küche gleicht einem
Schweinestall. Baghda hat die Teller nicht abgewaschen, die sich
nun in der Spüle stapeln, und sie hat sich auch keine besondere
Mühe gegeben,
die Sauerei aufzuwischen, die Shelley im Laufe des Tages
veranstaltet hat.
Ich bereite Shelleys Abendbrot zu und wische die
Reste des Mittagessens vom Boden.
Shelley presst langsam das Wort »Schule« hervor, es
klingt in Wahrheit mehr wie »ule«, aber ich weiß, was sie
meint.
»Ja, heute war mein erster Schultag«, erzähle ich
ihr, während ich ihr Essen püriere und auf den Tisch stelle. Ich
löffle die breiähnliche Substanz in ihren Mund und erzähle weiter.
»Meine neue Chemielehrerin, Mrs Peterson, sollte in einem Camp für
schwer erziehbare Jugendliche arbeiten. Ich habe den Lehrplan
durchgesehen. Diese Frau hält es keine Woche ohne einen Test oder
eine Arbeit aus. Das Schuljahr wird echt nicht einfach
werden.«
Meine Schwester sieht mich aufmerksam an. Sie
verarbeitet, was ich gerade erzählt habe. Ihr konzentrierter
Ausdruck verrät mir, dass sie für mich da ist und mich versteht,
ohne dass sie es in Worte kleiden müsste. Denn jedes Wort, das aus
ihrem Mund kommt, ist hart erkämpft. Manchmal möchte ich die Worte
für sie sprechen, weil ich ihre Frustration spüre, als wäre es
meine eigene.
»Du magst Baghda nicht?«, frage ich leise.
Meine Schwester schüttelt den Kopf. Aber sie will
nicht darüber reden, das verrät mir die Art, wie sie den Mund
verzieht.
»Hab ein bisschen Geduld mit ihr«, bitte ich sie.
»Es ist nicht einfach, in einen fremden Haushalt zu kommen und
nicht zu wissen, was man tun soll.«
Als Shelley mit Essen fertig ist, bringe ich ihr
ein paar Zeitschriften, damit sie sie durchblättern kann. Meine
Schwester liebt Zeitschriften. Während sie damit beschäftigt ist,
die Seiten umzublättern, mache ich mir ein Käsesandwich und setze
mich an den Tisch, um meine Hausaufgaben zu erledigen, während ich
esse.
Ich höre, wie sich die Garagentür öffnet, als ich
gerade das Blatt hervorhole, das Mrs Peterson mir für meinen Essay
zum Thema Respekt gegeben hat.
»Brit, wo bist du?«, ruft meine Mutter aus dem
Flur.
»In der Küche«, rufe ich zurück.
Meine Mom schlendert mit einer Neiman-Marcus-Tüte
über dem Arm in die Küche. »Hier, das ist für dich.«
Ich greife in die Tüte und ziehe ein hellblaues
Designertop daraus hervor. »Danke«, sage ich. In Shelleys Gegenwart
will ich kein großes Aufheben darum machen, da Mom ihr nichts
mitgebracht hat. Nicht, dass es meiner Schwester etwas ausmachen
würde. Sie ist zu sehr in die Betrachtung der schlecht- und
bestangezogensten Stars mitsamt ihrer glitzernden Klunker
versunken.
»Es passt gut zu der dunklen Jeans, die ich dir
letzte Woche gekauft habe«, sagt Mom, während sie tiefgefrorene
Steaks aus dem Eisschrank holt und sie zum Auftauen in die
Mikrowelle legt. »Also, wie war es mit Baghda, als du nach Hause
gekommen bist?«
»Nicht so toll«, erzähle ich ihr. »Du musst sie
wirklich anlernen.« Es überrascht mich nicht, dass sie darauf
nichts erwidert.
Mein Dad kommt wenig später über die Arbeit murrend
zur Tür herein. Er besitzt eine Computerchipfirma und hat schon
mehrfach angedeutet, dass es finanziell kein gutes Jahr werden
wird, aber meine Mom geht immer noch shoppen und schleppt alles
mögliche an Zeug an und mein Dad hat mir trotzdem einen BMW zum
Geburtstag gekauft.
»Was gibt es zum Abendessen?«, fragt er und lockert
seine Krawatte. Er sieht müde und abgekämpft aus wie immer.
Meine Mutter deutet auf die Mikrowelle.
»Steak.«
»Ich bin nicht in der Stimmung für so ein schweres
Essen«, sagt er. »Ich möchte nur etwas Leichtes.«
Meine Mutter schaltet sofort die Mikrowelle aus.
»Eier? Spaghetti?«, fragt sie, doch ihre Vorschläge verhallen
ungehört.
Mein Dad verlässt die Küche, um sich etwas anderes
anzuziehen Er mag körperlich anwesend sein, doch in Gedanken ist er
noch immer bei der Arbeit. »Egal. Irgendetwas Leichtes«, ruft er
über die Schulter.
In solchen Momenten tut mir meine Mutter leid. Mein
Dad schenkt ihr nicht viel Aufmerksamkeit. Er arbeitet entweder
oder ist auf Geschäftsreise oder will sich einfach nicht mit uns
abgeben. »Ich mache einen Salat«, sage ich und hole einen Salatkopf
aus dem Kühlschrank.
Sie scheint dankbar für die Hilfe, wenn man ihr
dünnes Lächeln als Beleg dafür gelten lassen will. Wir arbeiten
schweigend Seite an Seite. Ich hole Teller und Besteck aus dem
Schrank, während meine Mutter den Salat, Rührei und Toast auf den
Tisch stellt. Sie murmelt etwas vor sich hin, dass sie nicht
genügend geschätzt würde, aber ich habe den Eindruck, sie erwartet
keine Antwort von mir. Shelley ist immer noch in ihre Zeitschriften
vertieft, die Spannung zwischen meinen Eltern registriert sie gar
nicht.
»Ich fliege am Freitag für zwei Wochen nach China«,
verkündet mein Dad, als er in Jogginghose und T-Shirt in die Küche
zurückkommt. Er lässt sich auf seinen Stammplatz am Kopfende des
Tisches fallen und schaufelt Rührei auf seinen Teller. »Unser
Zulieferer dort verschifft defekte Teile und ich muss herausfinden,
was da vor sich geht.«
»Was ist mit der DeMaio-Hochzeit? Sie ist dieses
Wochenende und wir haben bereits zugesagt.«
Mein Dad lässt die Gabel fallen und sieht meine Mom
an.
»Genau, ich bin sicher, zur Hochzeit der kleinen
DeMaio zu gehen ist wichtiger, als dafür zu sorgen, dass meine
Geschäfte ordentlich laufen.«
»Bill, ich habe nicht unterstellt, dass deine
Geschäfte weniger wichtig sind«, sagt sie. Auch ihre Gabel fällt
scheppernd auf den Teller. Es ist ein Wunder, dass unser Geschirr
nicht lauter Sprünge hat. »Aber es ist unhöflich, diese Dinge in
letzter Minute abzusagen.«
»Du kannst ja hingehen.«
»Und den Gerüchten Nahrung bieten, weil du mich
nicht begleitest? Nein danke.«
So verläuft eine typische Unterhaltung am
Abendbrottisch der Ellis-Familie. Mein Dad erzählt, wie hart er
arbeitet, meine Mom versucht, die Fassade von der glücklichen
Familie aufrechtzuerhalten, und ich und Shelley sitzen schweigend
daneben.
»Wie war es in der Schule?«, fragt mich Mom
schließlich.
»Ganz okay«, sage ich und lasse die Tatsache, dass
Alex mir als Partner zugeteilt wurde, lieber unter den Tisch
fallen. »In Chemie habe ich eine richtig strenge Lehrerin.«
»Du hättest Chemie wahrscheinlich besser gar nicht
erst gewählt«, schaltet sich mein Vater ein. »Wenn du kein A
bekommst, verschlechtert das deinen Durchschnitt. Von der
Northwestern akzeptiert zu werden, ist kein Kinderspiel, und sie
werden dich nicht bevorzugen, nur weil ich dort studiert
habe.«
»Schon verstanden, Dad«, erwidere ich vollkommen
niedergeschmettert. Wenn Alex unsere Facharbeit nicht ernst nimmt,
wie soll ich dann ein A in Chemie bekommen?
»Shelleys neue Pflegerin hatte heute ihren ersten
Tag«, informiert meine Mutter ihn. »Erinnerst du dich?«
Er zuckt mit den Schultern, denn als die letzte
Pflegerin alles hingeschmissen hat, wollte er durchsetzen, Shelley
in ein Pflegeheim zu geben. Ich erinnere mich nicht, jemals so
geschrien zu haben wie damals, weil ich niemals zulassen würde,
dass sie
Shelley irgendwo hinschicken, wo man sie vernachlässigt und nicht
versteht. Ich muss auf sie aufpassen! Deshalb ist es mir so
wichtig, von der Northwestern angenommen zu werden. Wenn ich in der
Nähe bleibe, kann ich weiter zu Hause wohnen und sicherstellen,
dass meine Eltern Shelley nicht wegschicken.
Um neun ruft Megan an, um sich über Darlene zu
beschweren. Sie findet, Darlene habe sich den Sommer über verändert
und sei total überheblich geworden, weil sie jetzt mit einem Typen
vom College zusammen ist. Um neun Uhr dreißig ruft Darlene an, um
mir zu erzählen, dass sie vermutet, Megan sei eifersüchtig auf sie,
weil sie einen Freund hat, der aufs College geht. Um Viertel vor
zehn ruft mich Sierra an und erzählt mir, dass sie heute Abend
sowohl mit Megan als auch mit Darlene gesprochen hat und nicht
zwischen die Fronten geraten will. Ich stimme ihr zu, auch wenn ich
befürchte, dass wir da längst sind.
Es ist Viertel vor elf, als ich endlich meinen
Essay zum Thema Respekt fertig habe und meiner Mom helfe, Shelley
ins Bett zu bringen. Ich bin inzwischen so erschöpft, dass ich im
Stehen einzuschlafen drohe.
Nachdem ich meinen Schlafanzug angezogen habe,
hüpfe ich ins Bett und wähle Colins Nummer.
»Hallo, Baby«, sagt er. »Was machst du
gerade?«
»Nicht viel. Ich liege im Bett. Wie war’s bei Doug?
Hattet ihr Spaß?«
»Nicht so viel, wie ich gehabt hätte, wenn du dabei
gewesen wärst.«
»Wann bist du nach Hause gekommen?«
»Vor etwa einer Stunde. Ich freue mich so, dass du
noch angerufen hast.«
Ich ziehe meine große pinkfarbene Decke bis zum
Kinn hoch und lasse den Kopf in mein flauschiges Kissen sinken.
»Ach, tatsächlich?«, erwidere ich kokett. Nach Komplimenten
fischend hake ich nach: »Und warum?«
Er hat mir schon lange nicht mehr gesagt, dass er
mich liebt. Ich weiß, er gehört nicht zur gefühlsbetonten Sorte.
Genau wie mein Dad. Aber ich brauche das jetzt. Ich möchte von ihm
hören, dass er mich liebt. Ich möchte hören, dass er mich vermisst
hat. Und ich will, dass er mir sagt, ich sei die Frau seiner
Träume.
Colin räuspert sich. »Wir hatten noch nie
Telefonsex.«
Okay, das sind nicht die Worte, die ich mir erhofft
hatte. Ich sollte weder enttäuscht noch überrascht sein. Er ist nun
mal ein Kerl und Kerle denken ständig ans Rumknutschen und an Sex.
Heute Nachmittag habe ich die Regung in meiner Bauchgegend
unterdrückt, als ich Alex’ Gekritzel über heißen Sex las. Wenn der
wüsste, dass ich noch Jungfrau bin!
Colin und ich hatten noch nie Sex. Punkt. Aus.
Weder Telefonsex noch realen Sex. Letzten April sind wir der Sache
am Strand hinter Sierras Haus ziemlich nahegekommen, aber ich habe
die Notbremse gezogen. Ich war noch nicht bereit dazu.
»Telefonsex?«
»Genau. Streichle dich, Brit. Und sag mir, was du
gerade tust. Das würde mich total anmachen.«
»Und was machst du, während ich mich streichle?«,
frage ich ihn.
»Die Keule polieren. Was glaubst denn du, was ich
mache? Meine Hausaufgaben?«
Ich lache. Es ist ein nervöses Lachen, weil wir uns
ein paar Monate nicht gesehen und nur wenig miteinander gesprochen
haben. Und jetzt will er an einem Tag von »Hey, schön dich nach dem
langen Sommer endlich wiederzuhaben« zu »streichle dich, während
ich die Keule poliere« übergehen. Ich habe das Gefühl, als sei ich
mitten in einem Pat-McCurdy-Song gelandet.
»Komm schon, Brit«, sagt Colin. »Sieh es als Übung
für die echte Sache an. Zieh dein Oberteil aus und berühr
dich.«
»Colin …«, sage ich.
»Was?«
»Tut mir leid, aber das will ich nicht. Zumindest
jetzt noch nicht.«
»Bist du sicher?«
»Ja. Bist du sauer deswegen?«
»Nein«, beteuert er. »Ich dachte einfach, es würde
Spaß machen, unsere Beziehung etwas aufzupeppen.«
»Ich hatte keine Ahnung, dass sie so langweilig
ist.«
»Schule, Footballtraining, zusammen abhängen. Ich
schätze, nachdem ich einen Sommer lang weg war, kotzt mich die alte
Routine an. Den ganzen Sommer lang war ich auf Wasserski und
Wakeboard unterwegs und bin offroad durch die Gegend geheizt. So
was bringt dein Herz zum Rasen und dein Blut zum Kochen, weißt du?
Der pure Adrenalinrausch.«
»Klingt fantastisch.«
»Das war es auch. Brit?«
»Ja?«
»Ich bin bereit für den Adrenalinrausch … mit
dir.«