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Brittany
Ich schäme mich nicht, eine behinderte Schwester
zu haben. Aber ich habe Angst davor, wie Alex auf sie reagieren
wird. Ich könnte es nicht ertragen, wenn er sie auslacht. Ich fahre
herum. »Du hältst dich wohl nicht gerne an Anweisungen, was?«
Er grinst, als wollte er sagen: Ich bin in’ner
Gang, was hast du erwartet?
»Ich muss nach meiner Schwester sehen. Macht es dir
was aus?«
»Kein Stück. So bekomme ich die Chance, sie
kennenzulernen. Vertrau mir.«
Ich sollte ihn rauswerfen, mitsamt seiner Tattoos.
Ich sollte, aber ich mache es nicht.
Ohne ein weiteres Wort führe ich ihn in unsere
düstere, mahagonigetäfelte Bibliothek. Shelley sitzt in ihrem
Rollstuhl und guckt Fernsehen. Ihr Kopf ist in eine unbequeme
Position auf die Schulter gesunken.
Als sie bemerkt, dass sie nicht länger allein ist,
schwenkt ihr Blick vom Fernseher zu mir und Alex.
»Das ist Alex«, erkläre ich ihr und schaltete den
Fernseher aus. »Ein Schulfreund.«
Shelley schenkt Alex ein schiefes Lächeln und haut
mit ihren Fingerknöcheln auf die für sie angefertigte
Spezialtastatur. »Hallo«, sagt eine weibliche, elektronische
Stimme. Sie drückt
eine zweite Taste. »Ich heiße Shelley«, fährt der Sprachcomputer
fort.
Alex kniet sich hin, damit er auf Shelleys
Augenhöhe ist. Diese schlichte Art, ihr Respekt zu zollen, berührt
mich an einer Stelle, die sich verdächtig nach meinem Herzen
anfühlt. Colin ignoriert meine Schwester immer. Er behandelt sie,
als sei sie nicht nur körperlich und geistig zurückgeblieben,
sondern noch dazu blind und taub.
»Wie geht’s?«, fragt Alex. Er nimmt Shelleys Hand
in seine und schüttelt sie. »Cooler Computer.«
»Das ist ein Sprachcomputer«, erkläre ich ihm. »Er
hilft ihr zu kommunizieren.«
»Spiel«, sagt die Computerstimme.
Alex hockt sich neben Shelley. Ich halte vor
Schreck den Atem an, doch dann sehe ich, dass ihre Hände nicht in
die Nähe seines dichten Haarschopfes kommen.
»Du hast Spiele hier drauf?«, fragt er.
»Ja«, erwidere ich an ihrer Stelle. »Sie ist zu
einem Dame-Freak geworden. Shelley, zeig ihm, wie es
funktioniert.«
Alex sieht aufmerksam zu, während Shelley
konzentriert den Bildschirm mit ihren Knöcheln berührt. Es scheint
ihn zu faszinieren.
Als das Spielbrett auf dem Bildschirm erscheint,
stupst Shelley Alex’ Hand an.
»Du zuerst«, sagt er.
Sie schüttelt ihren Kopf.
»Sie möchte, dass du zuerst ziehst«, sage ich zu
ihm.
»Cool.« Er berührt den Bildschirm.
Ich sehe den beiden zu und schmelze dahin wie
Vanilleeis in der heißen Julisonne, weil dieser toughe Kerl so
geduldig mit meiner Schwester spielt.
»Macht es dir was aus, wenn ich euch kurz allein
lasse, um
Shelley einen Snack zu holen?«, frage ich. Ich muss unbedingt hier
weg.
»Nö, mach ruhig«, sagt er ohne aufzuschauen. Er
konzentriert sich voll und ganz auf das Spiel.
»Du brauchst sie nicht gewinnen zu lassen«, sage
ich noch, bevor ich aus dem Zimmer gehe. »Sie ist ziemlich gut
darin.«
»Oh, danke für die Lorbeeren, aber ich versuche
hier gerade zu gewinnen«, erwidert Alex. Das breite Grinsen auf
seinem Gesicht wirkt echt, er markierte zur Abwechslung einmal
nicht den coolen Großkotz. Was mein Bedürfnis, die Flucht zu
ergreifen, nur noch vergrößert.
Als ich ein paar Minuten später mit Shelleys Essen
zurück in die Bibliothek komme, sagt er: »Sie hat mich
geschlagen.«
»Ich hab dir ja gleich gesagt, dass sie gut ist.
Aber jetzt ist erst mal Schluss mit Spielen«, sage ich zu Shelley
und an Alex gewandt: »Ich hoffe, es macht dir nichts aus, dass ich
ihr beim Essen helfe.«
»Na, dann mal los.«
Er setzt sich in den ledernen Lieblingssessel
meines Vaters, während ich ein Tablett vor Shelley abstelle und
beginne, sie mit Apfelmus zu füttern. Wie üblich ist es eine
Riesensauerei. Ich drehe den Kopf leicht zur Seite und ertappe Alex
dabei, dass er mich beobachtet, wie ich den Mund meiner Schwester
mit einem Handtuch abwische.
»Shelley«, sage ich, »du hättest ihn gewinnen
lassen sollen. Du weißt schon, aus Höflichkeit.« Shelleys Antwort
ist ein Kopfschütteln. Apfelmus tropft auf ihr Kinn. »So ist das
also, hm?«, sage ich und bete innerlich, dass Alex den Anblick
nicht abstoßend findet. Vielleicht teste ich ihn aber auch nur, um
festzustellen, ob Alex einen Blick auf mein wahres Leben
verkraftet. Falls es so ist, hat er ihn bestanden. »Warte nur, bis
Alex weg ist. Dann zeig ich dir, wer die wahre Großmeisterin des
Brettspiels ist.«
Meine Schwester lächelt ihr unwiderstehliches,
schiefes Lächeln. Es sagt mehr als tausend Worte. Einen Moment lang
vergesse ich, dass Alex mich immer noch beobachtet. Es ist so
seltsam, ihn in meinem Leben und meinem Haus zu haben. Er gehört
nicht hierhin, aber das scheint ihm nichts auszumachen.
»Warum hattest du in Chemie so miese Laune?«, fragt
er mich.
Weil meine Schwester abgeschoben werden soll und
ich gestern oben ohne erwischt worden bin, während Colin mit
heruntergelassener Hose vor mir stand. »Du hast doch bestimmt die
Gerüchte gehört.«
»Keine Ahnung, wovon du redest. Vielleicht bist du
bloß paranoid.«
Vielleicht. Shane hat uns zwar gesehen, aber er ist
dafür bekannt, dass er viel erzählt, wenn der Tag lang ist.
Trotzdem, jedes Mal, wenn mich heute einer angesehen hat, habe ich
mir vorgestellt, er wüsste es. Ich schaue Alex an. »Manchmal
wünsche ich mir, ich könnte den Tag noch einmal von vorn
beginnen.«
»Manchmal wünsche ich mir, ich könnte ganze Jahre
noch einmal leben«, erwidert er vollkommen ernst. »Oder ein paar
Tage vorspulen.«
»Blöderweise gibt es für das Leben keine
Fernbedienung.« Als Shelley mit Essen fertig ist, setze ich sie vor
den Fernseher und nehme Alex mit in die Küche. »Mein Leben ist gar
nicht so perfekt, wie du gedacht hast, oder?«, frage ich, während
ich uns beiden was zu trinken aus dem Kühlschrank hole.
Alex sieht mich verwundert an.
»Was?«
Er zuckt mit den Schultern. »Ich schätze, wir alle
haben unsere Probleme. Mich quälen mehr Dämonen als Buffy.«
Dämonen? Alex kann doch nichts was anhaben.
Er beschwert
sich jedenfalls nie über sein Leben. »Was für Dämonen meinst du?«,
frage ich.
»Oye, wenn ich dir von meinen Dämonen
erzählte, würdest du vor mir weglaufen, wie die arme Seele vor dem
Teufel.«
»Ich glaube, du wärst überrascht, vor welchen
Dingen ich davonlaufe, Alex.« Die Schläge unserer großen Standuhr
schallen durch das Haus. Eins. Zwei. Drei. Vier. Fünf.
»Ich muss los«, sagt Alex. »Wie sieht’s aus? Lass
uns morgen nach der Schule lernen. Bei mir.«
»Bei dir zu Hause?« Auf der Southside?
»Ich zeige dir ein bisschen was von meinem Leben.
Bist du dabei?«, fragt er.
Ich schlucke. »Klar.« Ich spiele mit.
Als ich ihn zur Tür bringe, höre ich ein Auto
vorfahren. Falls es meine Mom ist, stecke ich in großen
Schwierigkeiten. Egal wie harmlos unser Treffen gewesen sein mag,
sie würde ausflippen.
Ich spähe durch das Fenster neben der Haustür und
erkenne Darlenes roten Sportwagen. »Oh nein. Meine Freundinnen sind
hier.«
»Dreh jetzt bloß nicht durch«, weist er mich an.
»Öffne die Tür. Es hat keinen Zweck, so zu tun, als sei ich nicht
hier. Mein Motorrad parkt schließlich in der Auffahrt.«
Er hat recht. Die Tatsache, dass er hier ist, lässt
sich nicht leugnen.
Ich öffne die Tür und trete nach draußen. Alex ist
direkt hinter mir, als ich Darlene, Morgan und Sierra entgegengehe,
die auf unser Haus zukommen. »Hey, Leute!«, sage ich. Wenn ich die
Unschuldige überzeugend genug spiele, finden sie es vielleicht nur
halb so wild, dass Alex bei mir ist. Ich berühre Alex’ Ellbogen.
»Wir haben gerade über unser Chemieprojekt gesprochen. Stimmt’s,
Alex?«
»Stimmt.«
Sierra mustert mich mit hochgezogenen Augenbrauen.
Morgan ist im Begriff, ihr Handy zu zücken. Bestimmt, um den
anderen M&Ms zu simsen, dass sie Alex Fuentes aus meinem Haus
hat kommen sehen.
»Sollen wir euch zwei besser allein lassen?«,
fragte Darlene.
»Blödsinn«, erwidere ich viel zu schnell.
Alex geht zu seinem Motorrad hinüber. Sein T-Shirt
betont seinen perfekt geformten, muskulösen Rücken und seine Jeans
seinen perfekt geformten, festen …
Er zieht sich den Helm über und zeigt mit dem
ausgestreckten Finger auf mich. »Ich seh dich dann morgen.«
Morgen. Bei ihm zu Hause.
Ich nicke.
Als Alex verschwunden ist, sagt Sierra. »Was war
denn das?«
»Chemie«, murmle ich.
Morgans Mund steht vor Verblüffung weit
offen.
»Habt ihr es getan?«, fragt Darlene. »Denn ich bin
seit zehn Jahren mit dir befreundet und kann an einer Hand
abzählen, wie oft du mich zu dir eingeladen hast.«
»Er ist mein Chemieprojektpartner.«
»Er ist ein Gangmitglied, Brit. Vergiss das bloß
nicht«, sagt Darlene.
Sierra schüttelt ihren Kopf und fragt: »Stehst du
etwa noch auf jemand anderen als deinen Freund? Colin hat Doug
erzählt, dass du dich in letzter Zeit sehr seltsam verhältst. Als
deine Freundinnen sind wir vorbeigekommen, um dir ein bisschen
Vernunft beizubringen.«
Ich sitze auf unserer Veranda vor dem Haus und
lausche eine halbe Stunde lang ihren Tiraden über meinen guten Ruf,
Jungs im Allgemeinen und Treue im Besonderen. Sie haben ja so
recht.
»Versprich mir, dass da zwischen dir und Alex
nichts läuft«, sagt Sierra noch zu mir, während Morgan und Darlene
schon im Auto auf sie warten.
»Zwischen Alex und mir läuft nichts«, versichere
ich ihr. »Ehrenwort.«