29
Brittany
Ich schäme mich nicht, eine behinderte Schwester zu haben. Aber ich habe Angst davor, wie Alex auf sie reagieren wird. Ich könnte es nicht ertragen, wenn er sie auslacht. Ich fahre herum. »Du hältst dich wohl nicht gerne an Anweisungen, was?«
Er grinst, als wollte er sagen: Ich bin in’ner Gang, was hast du erwartet?
»Ich muss nach meiner Schwester sehen. Macht es dir was aus?«
»Kein Stück. So bekomme ich die Chance, sie kennenzulernen. Vertrau mir.«
Ich sollte ihn rauswerfen, mitsamt seiner Tattoos. Ich sollte, aber ich mache es nicht.
Ohne ein weiteres Wort führe ich ihn in unsere düstere, mahagonigetäfelte Bibliothek. Shelley sitzt in ihrem Rollstuhl und guckt Fernsehen. Ihr Kopf ist in eine unbequeme Position auf die Schulter gesunken.
Als sie bemerkt, dass sie nicht länger allein ist, schwenkt ihr Blick vom Fernseher zu mir und Alex.
»Das ist Alex«, erkläre ich ihr und schaltete den Fernseher aus. »Ein Schulfreund.«
Shelley schenkt Alex ein schiefes Lächeln und haut mit ihren Fingerknöcheln auf die für sie angefertigte Spezialtastatur. »Hallo«, sagt eine weibliche, elektronische Stimme. Sie drückt eine zweite Taste. »Ich heiße Shelley«, fährt der Sprachcomputer fort.
Alex kniet sich hin, damit er auf Shelleys Augenhöhe ist. Diese schlichte Art, ihr Respekt zu zollen, berührt mich an einer Stelle, die sich verdächtig nach meinem Herzen anfühlt. Colin ignoriert meine Schwester immer. Er behandelt sie, als sei sie nicht nur körperlich und geistig zurückgeblieben, sondern noch dazu blind und taub.
»Wie geht’s?«, fragt Alex. Er nimmt Shelleys Hand in seine und schüttelt sie. »Cooler Computer.«
»Das ist ein Sprachcomputer«, erkläre ich ihm. »Er hilft ihr zu kommunizieren.«
»Spiel«, sagt die Computerstimme.
Alex hockt sich neben Shelley. Ich halte vor Schreck den Atem an, doch dann sehe ich, dass ihre Hände nicht in die Nähe seines dichten Haarschopfes kommen.
»Du hast Spiele hier drauf?«, fragt er.
»Ja«, erwidere ich an ihrer Stelle. »Sie ist zu einem Dame-Freak geworden. Shelley, zeig ihm, wie es funktioniert.«
Alex sieht aufmerksam zu, während Shelley konzentriert den Bildschirm mit ihren Knöcheln berührt. Es scheint ihn zu faszinieren.
Als das Spielbrett auf dem Bildschirm erscheint, stupst Shelley Alex’ Hand an.
»Du zuerst«, sagt er.
Sie schüttelt ihren Kopf.
»Sie möchte, dass du zuerst ziehst«, sage ich zu ihm.
»Cool.« Er berührt den Bildschirm.
Ich sehe den beiden zu und schmelze dahin wie Vanilleeis in der heißen Julisonne, weil dieser toughe Kerl so geduldig mit meiner Schwester spielt.
»Macht es dir was aus, wenn ich euch kurz allein lasse, um Shelley einen Snack zu holen?«, frage ich. Ich muss unbedingt hier weg.
»Nö, mach ruhig«, sagt er ohne aufzuschauen. Er konzentriert sich voll und ganz auf das Spiel.
»Du brauchst sie nicht gewinnen zu lassen«, sage ich noch, bevor ich aus dem Zimmer gehe. »Sie ist ziemlich gut darin.«
»Oh, danke für die Lorbeeren, aber ich versuche hier gerade zu gewinnen«, erwidert Alex. Das breite Grinsen auf seinem Gesicht wirkt echt, er markierte zur Abwechslung einmal nicht den coolen Großkotz. Was mein Bedürfnis, die Flucht zu ergreifen, nur noch vergrößert.
Als ich ein paar Minuten später mit Shelleys Essen zurück in die Bibliothek komme, sagt er: »Sie hat mich geschlagen.«
»Ich hab dir ja gleich gesagt, dass sie gut ist. Aber jetzt ist erst mal Schluss mit Spielen«, sage ich zu Shelley und an Alex gewandt: »Ich hoffe, es macht dir nichts aus, dass ich ihr beim Essen helfe.«
»Na, dann mal los.«
Er setzt sich in den ledernen Lieblingssessel meines Vaters, während ich ein Tablett vor Shelley abstelle und beginne, sie mit Apfelmus zu füttern. Wie üblich ist es eine Riesensauerei. Ich drehe den Kopf leicht zur Seite und ertappe Alex dabei, dass er mich beobachtet, wie ich den Mund meiner Schwester mit einem Handtuch abwische.
»Shelley«, sage ich, »du hättest ihn gewinnen lassen sollen. Du weißt schon, aus Höflichkeit.« Shelleys Antwort ist ein Kopfschütteln. Apfelmus tropft auf ihr Kinn. »So ist das also, hm?«, sage ich und bete innerlich, dass Alex den Anblick nicht abstoßend findet. Vielleicht teste ich ihn aber auch nur, um festzustellen, ob Alex einen Blick auf mein wahres Leben verkraftet. Falls es so ist, hat er ihn bestanden. »Warte nur, bis Alex weg ist. Dann zeig ich dir, wer die wahre Großmeisterin des Brettspiels ist.«
Meine Schwester lächelt ihr unwiderstehliches, schiefes Lächeln. Es sagt mehr als tausend Worte. Einen Moment lang vergesse ich, dass Alex mich immer noch beobachtet. Es ist so seltsam, ihn in meinem Leben und meinem Haus zu haben. Er gehört nicht hierhin, aber das scheint ihm nichts auszumachen.
»Warum hattest du in Chemie so miese Laune?«, fragt er mich.
Weil meine Schwester abgeschoben werden soll und ich gestern oben ohne erwischt worden bin, während Colin mit heruntergelassener Hose vor mir stand. »Du hast doch bestimmt die Gerüchte gehört.«
»Keine Ahnung, wovon du redest. Vielleicht bist du bloß paranoid.«
Vielleicht. Shane hat uns zwar gesehen, aber er ist dafür bekannt, dass er viel erzählt, wenn der Tag lang ist. Trotzdem, jedes Mal, wenn mich heute einer angesehen hat, habe ich mir vorgestellt, er wüsste es. Ich schaue Alex an. »Manchmal wünsche ich mir, ich könnte den Tag noch einmal von vorn beginnen.«
»Manchmal wünsche ich mir, ich könnte ganze Jahre noch einmal leben«, erwidert er vollkommen ernst. »Oder ein paar Tage vorspulen.«
»Blöderweise gibt es für das Leben keine Fernbedienung.« Als Shelley mit Essen fertig ist, setze ich sie vor den Fernseher und nehme Alex mit in die Küche. »Mein Leben ist gar nicht so perfekt, wie du gedacht hast, oder?«, frage ich, während ich uns beiden was zu trinken aus dem Kühlschrank hole.
Alex sieht mich verwundert an.
»Was?«
Er zuckt mit den Schultern. »Ich schätze, wir alle haben unsere Probleme. Mich quälen mehr Dämonen als Buffy.«
Dämonen? Alex kann doch nichts was anhaben. Er beschwert sich jedenfalls nie über sein Leben. »Was für Dämonen meinst du?«, frage ich.
»Oye, wenn ich dir von meinen Dämonen erzählte, würdest du vor mir weglaufen, wie die arme Seele vor dem Teufel.«
»Ich glaube, du wärst überrascht, vor welchen Dingen ich davonlaufe, Alex.« Die Schläge unserer großen Standuhr schallen durch das Haus. Eins. Zwei. Drei. Vier. Fünf.
»Ich muss los«, sagt Alex. »Wie sieht’s aus? Lass uns morgen nach der Schule lernen. Bei mir.«
»Bei dir zu Hause?« Auf der Southside?
»Ich zeige dir ein bisschen was von meinem Leben. Bist du dabei?«, fragt er.
Ich schlucke. »Klar.« Ich spiele mit.
Als ich ihn zur Tür bringe, höre ich ein Auto vorfahren. Falls es meine Mom ist, stecke ich in großen Schwierigkeiten. Egal wie harmlos unser Treffen gewesen sein mag, sie würde ausflippen.
Ich spähe durch das Fenster neben der Haustür und erkenne Darlenes roten Sportwagen. »Oh nein. Meine Freundinnen sind hier.«
»Dreh jetzt bloß nicht durch«, weist er mich an. »Öffne die Tür. Es hat keinen Zweck, so zu tun, als sei ich nicht hier. Mein Motorrad parkt schließlich in der Auffahrt.«
Er hat recht. Die Tatsache, dass er hier ist, lässt sich nicht leugnen.
Ich öffne die Tür und trete nach draußen. Alex ist direkt hinter mir, als ich Darlene, Morgan und Sierra entgegengehe, die auf unser Haus zukommen. »Hey, Leute!«, sage ich. Wenn ich die Unschuldige überzeugend genug spiele, finden sie es vielleicht nur halb so wild, dass Alex bei mir ist. Ich berühre Alex’ Ellbogen. »Wir haben gerade über unser Chemieprojekt gesprochen. Stimmt’s, Alex?«
»Stimmt.«
Sierra mustert mich mit hochgezogenen Augenbrauen. Morgan ist im Begriff, ihr Handy zu zücken. Bestimmt, um den anderen M&Ms zu simsen, dass sie Alex Fuentes aus meinem Haus hat kommen sehen.
»Sollen wir euch zwei besser allein lassen?«, fragte Darlene.
»Blödsinn«, erwidere ich viel zu schnell.
Alex geht zu seinem Motorrad hinüber. Sein T-Shirt betont seinen perfekt geformten, muskulösen Rücken und seine Jeans seinen perfekt geformten, festen …
Er zieht sich den Helm über und zeigt mit dem ausgestreckten Finger auf mich. »Ich seh dich dann morgen.«
Morgen. Bei ihm zu Hause.
Ich nicke.
Als Alex verschwunden ist, sagt Sierra. »Was war denn das?«
»Chemie«, murmle ich.
Morgans Mund steht vor Verblüffung weit offen.
»Habt ihr es getan?«, fragt Darlene. »Denn ich bin seit zehn Jahren mit dir befreundet und kann an einer Hand abzählen, wie oft du mich zu dir eingeladen hast.«
»Er ist mein Chemieprojektpartner.«
»Er ist ein Gangmitglied, Brit. Vergiss das bloß nicht«, sagt Darlene.
Sierra schüttelt ihren Kopf und fragt: »Stehst du etwa noch auf jemand anderen als deinen Freund? Colin hat Doug erzählt, dass du dich in letzter Zeit sehr seltsam verhältst. Als deine Freundinnen sind wir vorbeigekommen, um dir ein bisschen Vernunft beizubringen.«
Ich sitze auf unserer Veranda vor dem Haus und lausche eine halbe Stunde lang ihren Tiraden über meinen guten Ruf, Jungs im Allgemeinen und Treue im Besonderen. Sie haben ja so recht.
»Versprich mir, dass da zwischen dir und Alex nichts läuft«, sagt Sierra noch zu mir, während Morgan und Darlene schon im Auto auf sie warten.
»Zwischen Alex und mir läuft nichts«, versichere ich ihr. »Ehrenwort.«
Du oder das ganze Leben
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