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Alex
Am Morgen nach Brittanys Besuch im Lagerhaus sitze
ich gerade beim Frühstück, als ich einen kahl rasierten Schädel
entdecke, der vorsichtig zur Haustür hereinlugt.
»Paco, wenn du es bist, würde ich mich an deiner
Stelle nicht näher wagen«, rufe ich ihm zu.
Mi’amá verpasst mir eine Kopfnuss. »So geht
man nicht mit seinen Freunden um, Alejandro.«
Ich esse weiter, während sie diesen … Verräter
hereinlässt.
»Du bist doch nicht etwa immer noch sauer auf mich,
Alex?«, sagt Paco. »Oder doch?«
»Natürlich ist er nicht sauer auf dich, Paco. Jetzt
setz dich und iss. Ich habe chorizo con huevos
gemacht.«
Paco besitzt die Dreistigkeit, mir auf die Schulter
zu klopfen. »Ich vergebe dir, Mann.«
Da sehe ich doch hoch, erst zu mi’amá, um
sicherzugehen, dass sie nicht zuhört, dann zu Paco. »Du
vergibst mir?«
»Du hast dir da eine ziemlich dicke Lippe geholt,
Paco«, sagt mamá, als sie wieder zum Tisch kommt, und
untersucht den Schaden, den ich angerichtet habe.
Paco berührt vorsichtig seine aufgeplatzte Lippe.
»Ja, ich bin auf eine Faust gefallen. Sie wissen ja, wie das
ist.«
»Nein, das weiß ich nicht. Wenn du auf zu viele
Fäuste fällst, wirst du eines Tages noch im Krankenhaus landen«,
sagt sie
warnend und wackelt mit dem Zeigefinger. »Ich gehe jetzt zur
Arbeit. Und Paco, halte dich heute von Fäusten fern, sí?
Schließ die Tür hinter dir ab, wenn du gehst, Alejandro,
porfis …«
Ich starre Paco wütend an.
»Was ist?«
»Das weißt du genau. Wie konntest du Brittany nur
zum Lagerhaus bringen?«
»Es tut mir leid«, sagt Paco zwischen zwei
Bissen.
»Nein, tut es nicht.«
»Okay, du hast recht. Mir tut es nicht leid.«
Ich sehe angewidert zu, wie er seine Finger
benutzt, um das Essen in seinen Mund zu schaufeln.
»Ich weiß nicht, warum ich mich überhaupt noch mit
dir abgebe«, sage ich.
»Also, was war letzte Nacht noch mit dir und
Brittany?«, fragt Paco, als er mir nach draußen folgt.
Mein Frühstück droht den Weg zurück an die Freiheit
anzutreten und das hat nichts mit Pacos Essmanieren zu tun. Ich
packe ihn am Kragen: »Zwischen mir und Brittany ist es aus. Ich
möchte ihren Namen nie wieder hören.«
»Wenn man vom Teufel spricht …«, sagt er und
fixiert einen Punkt hinter mir. Ich lasse Paco los und drehe mich
um, da ich erwarte, Brittany zu sehen. Aber sie ist nicht da und
das Nächste, was ich registriere, ist Pacos Faust in meinem
Gesicht.
»Jetzt sind wir quitt. Und Junge, dich hat es
schwer erwischt, wenn du mir drohst, ihren Namen auch nur zu
erwähnen. Ich weiß, du könntest mich locker mit diesen zwei Händen
töten, aber ich muss zugeben, ich glaube nicht, dass du es tun
wirst.«
Als ich meinen Unterkiefer bewege, um zu prüfen, ob
alles okay ist, schmecke ich Blut. »An deiner Stelle wäre ich mir
da nicht so sicher. Ich sag dir was. Ich werde dir keine Abreibung
verpassen, wenn du ab sofort aufhörst, dich in mein Leben
einzumischen.
Und das bezieht sich sowohl auf die Sache mit Hector, als auch auf
die mit Miss Ellis.«
»Ich muss dir sagen, mich in dein Leben
einzumischen, verleiht meinem erst die richtige Würze. Verflucht,
selbst die Prügel, die ich letzte Nacht von meinem alten Herrn
bezogen habe, als er sternhagelvoll war, sind nicht halb so
unterhaltsam wie dein Leben.«
Ich senke beschämt den Kopf. »Es tut mir leid,
Paco. Ich hätte dich nicht schlagen sollen. Du musst schon genug
von deinem alten Herrn einstecken.«
Paco murmelt: »Jetzt mach dir mal nicht ins
Hemd.«
Gestern Abend habe ich zum ersten Mal bereut,
jemanden geschlagen zu haben. Paco ist so oft von seinem Vater
verprügelt worden, dass er wahrscheinlich Narben auf dem ganzen
Körper zurückbehalten hat. Ich bin ein beschissenes Arschloch, dass
ich ihn geschlagen habe. Zum Teil bin ich froh, dass es aus ist
zwischen mir und Brittany. Denn offensichtlich bin ich nicht in der
Lage, meine Gefühle zu kontrollieren, wenn sie in der Nähe
ist.
Deswegen hoffe ich, dass ich ihr außerhalb des
Chemiekurses aus dem Weg gehen kann. Schon klar. Als ob das etwas
ändern würde. Sogar, wenn sie nicht an meiner Seite ist, denke ich
ständig an sie.
Eine gute Sache ist dann doch an der Trennung von
Brittany: Ich hatte die letzten zwei Wochen Zeit, über den Mord an
meinem Vater nachzudenken. Ich erinnere mich leider nur
bruchstückhaft an die Mordnacht. Irgendetwas passt nicht, aber ich
weiß nicht, warum. Papá hat gelächelt, geredet und war dann
schockiert und nervös, als plötzlich die Waffe auf ihn gerichtet
wurde. Hätte er nicht die ganze Zeit über auf der Hut sein
müssen?
Heute ist Halloween, die Nacht, die Hector für den
Drogendeal ausgewählt hat. Ich bin schon den ganzen Tag ruhelos.
Insgesamt habe ich heute sieben Autos generalüberholt, vom
Ölwechsel bis zum Austausch abgenutzter und defekter
Dichtungen.
Hectors Waffe habe ich in meiner
Schlafzimmerkommode gelassen, weil ich nicht mit einer Knarre
rumlaufen will, wenn es nicht unbedingt sein muss. Das ist
eigentlich vollkommen dämlich, denn es wird nur der erste von
vielen Drogendeals sein, die ich in meinem Leben abwickeln
werde.
Du bist wie dein alter Herr. Ich schüttle die
Stimme in meinem Kopf ab, die mich schon den ganzen Tag verfolgt.
Como el Viejo.
Ich kann nichts daran ändern. Ich erinnere mich an
all die Male, die mein papá gesagt hat: Somos cuates,
Alejandro. Du und ich, wir sind aus demselben Holz geschnitzt.
Er hat immer Spanisch mit mir gesprochen, als sei er noch in
Mexiko. Wirst du eines Tages so stark sein wie dein padre?,
fragte er mich stets. Und ich sah zu meinem Vater hoch, als sei er
ein Gott. Claro, papá. Ich will so werden wie du.
Mein Vater hat nie zu mir gesagt, ich könnte eines
Tages besser sein oder besser handeln als er. Und heute Nacht werde
ich eine exakte Kopie meines alten Herrn abgeben, auch wenn ich
versucht habe, anders zu sein, indem ich Carlos und Luis erklärt
habe, sie könnten einen anderen Weg einschlagen als ich. Es war
idiotisch von mir zu glauben, ich wäre ihnen ein gutes
Vorbild.
Meine Gedanken wandern zu Brittany. Ich habe
versucht zu verdrängen, dass sie mit jemand anderem zum
Halloweenball gehen wird. Die Gerüchte besagen, sie gehe mit ihrem
Ex hin. Vergeblich versuche ich den Gedanken daran aus dem Kopf zu
bekommen, dass ein anderer sie berühren wird.
Ihr Halloween-Begleiter wird sie sicher küssen. Wer
würde diese süßen, weichen rosa Lippen nicht küssen wollen?
Ich werde heute arbeiten, bis es Zeit für den Deal
ist. Denn wenn ich stattdessen allein zu Hause hockte, würde ich
vor lauter Grübeln noch den Verstand verlieren.
Mir rutscht der Niethammer aus der Hand und landet
mitten auf meiner Stirn. Ich bin deswegen nicht sauer auf mich, ich
gebe Brittany die Schuld. Und um acht Uhr bin ich stinkwütend auf
meine kleine Chemiepartnerin, sei es nun gerechtfertigt oder
nicht.