50
Alex
Am Morgen nach Brittanys Besuch im Lagerhaus sitze ich gerade beim Frühstück, als ich einen kahl rasierten Schädel entdecke, der vorsichtig zur Haustür hereinlugt.
»Paco, wenn du es bist, würde ich mich an deiner Stelle nicht näher wagen«, rufe ich ihm zu.
Mi’amá verpasst mir eine Kopfnuss. »So geht man nicht mit seinen Freunden um, Alejandro.«
Ich esse weiter, während sie diesen … Verräter hereinlässt.
»Du bist doch nicht etwa immer noch sauer auf mich, Alex?«, sagt Paco. »Oder doch?«
»Natürlich ist er nicht sauer auf dich, Paco. Jetzt setz dich und iss. Ich habe chorizo con huevos gemacht.«
Paco besitzt die Dreistigkeit, mir auf die Schulter zu klopfen. »Ich vergebe dir, Mann.«
Da sehe ich doch hoch, erst zu mi’amá, um sicherzugehen, dass sie nicht zuhört, dann zu Paco. »Du vergibst mir
»Du hast dir da eine ziemlich dicke Lippe geholt, Paco«, sagt mamá, als sie wieder zum Tisch kommt, und untersucht den Schaden, den ich angerichtet habe.
Paco berührt vorsichtig seine aufgeplatzte Lippe. »Ja, ich bin auf eine Faust gefallen. Sie wissen ja, wie das ist.«
»Nein, das weiß ich nicht. Wenn du auf zu viele Fäuste fällst, wirst du eines Tages noch im Krankenhaus landen«, sagt sie warnend und wackelt mit dem Zeigefinger. »Ich gehe jetzt zur Arbeit. Und Paco, halte dich heute von Fäusten fern, ? Schließ die Tür hinter dir ab, wenn du gehst, Alejandro, porfis …«
Ich starre Paco wütend an.
»Was ist?«
»Das weißt du genau. Wie konntest du Brittany nur zum Lagerhaus bringen?«
»Es tut mir leid«, sagt Paco zwischen zwei Bissen.
»Nein, tut es nicht.«
»Okay, du hast recht. Mir tut es nicht leid.«
Ich sehe angewidert zu, wie er seine Finger benutzt, um das Essen in seinen Mund zu schaufeln.
»Ich weiß nicht, warum ich mich überhaupt noch mit dir abgebe«, sage ich.
»Also, was war letzte Nacht noch mit dir und Brittany?«, fragt Paco, als er mir nach draußen folgt.
Mein Frühstück droht den Weg zurück an die Freiheit anzutreten und das hat nichts mit Pacos Essmanieren zu tun. Ich packe ihn am Kragen: »Zwischen mir und Brittany ist es aus. Ich möchte ihren Namen nie wieder hören.«
»Wenn man vom Teufel spricht …«, sagt er und fixiert einen Punkt hinter mir. Ich lasse Paco los und drehe mich um, da ich erwarte, Brittany zu sehen. Aber sie ist nicht da und das Nächste, was ich registriere, ist Pacos Faust in meinem Gesicht.
»Jetzt sind wir quitt. Und Junge, dich hat es schwer erwischt, wenn du mir drohst, ihren Namen auch nur zu erwähnen. Ich weiß, du könntest mich locker mit diesen zwei Händen töten, aber ich muss zugeben, ich glaube nicht, dass du es tun wirst.«
Als ich meinen Unterkiefer bewege, um zu prüfen, ob alles okay ist, schmecke ich Blut. »An deiner Stelle wäre ich mir da nicht so sicher. Ich sag dir was. Ich werde dir keine Abreibung verpassen, wenn du ab sofort aufhörst, dich in mein Leben einzumischen. Und das bezieht sich sowohl auf die Sache mit Hector, als auch auf die mit Miss Ellis.«
»Ich muss dir sagen, mich in dein Leben einzumischen, verleiht meinem erst die richtige Würze. Verflucht, selbst die Prügel, die ich letzte Nacht von meinem alten Herrn bezogen habe, als er sternhagelvoll war, sind nicht halb so unterhaltsam wie dein Leben.«
Ich senke beschämt den Kopf. »Es tut mir leid, Paco. Ich hätte dich nicht schlagen sollen. Du musst schon genug von deinem alten Herrn einstecken.«
Paco murmelt: »Jetzt mach dir mal nicht ins Hemd.«
Gestern Abend habe ich zum ersten Mal bereut, jemanden geschlagen zu haben. Paco ist so oft von seinem Vater verprügelt worden, dass er wahrscheinlich Narben auf dem ganzen Körper zurückbehalten hat. Ich bin ein beschissenes Arschloch, dass ich ihn geschlagen habe. Zum Teil bin ich froh, dass es aus ist zwischen mir und Brittany. Denn offensichtlich bin ich nicht in der Lage, meine Gefühle zu kontrollieren, wenn sie in der Nähe ist.
Deswegen hoffe ich, dass ich ihr außerhalb des Chemiekurses aus dem Weg gehen kann. Schon klar. Als ob das etwas ändern würde. Sogar, wenn sie nicht an meiner Seite ist, denke ich ständig an sie.
 
Eine gute Sache ist dann doch an der Trennung von Brittany: Ich hatte die letzten zwei Wochen Zeit, über den Mord an meinem Vater nachzudenken. Ich erinnere mich leider nur bruchstückhaft an die Mordnacht. Irgendetwas passt nicht, aber ich weiß nicht, warum. Papá hat gelächelt, geredet und war dann schockiert und nervös, als plötzlich die Waffe auf ihn gerichtet wurde. Hätte er nicht die ganze Zeit über auf der Hut sein müssen?
Heute ist Halloween, die Nacht, die Hector für den Drogendeal ausgewählt hat. Ich bin schon den ganzen Tag ruhelos. Insgesamt habe ich heute sieben Autos generalüberholt, vom Ölwechsel bis zum Austausch abgenutzter und defekter Dichtungen.
Hectors Waffe habe ich in meiner Schlafzimmerkommode gelassen, weil ich nicht mit einer Knarre rumlaufen will, wenn es nicht unbedingt sein muss. Das ist eigentlich vollkommen dämlich, denn es wird nur der erste von vielen Drogendeals sein, die ich in meinem Leben abwickeln werde.
Du bist wie dein alter Herr. Ich schüttle die Stimme in meinem Kopf ab, die mich schon den ganzen Tag verfolgt. Como el Viejo.
Ich kann nichts daran ändern. Ich erinnere mich an all die Male, die mein papá gesagt hat: Somos cuates, Alejandro. Du und ich, wir sind aus demselben Holz geschnitzt. Er hat immer Spanisch mit mir gesprochen, als sei er noch in Mexiko. Wirst du eines Tages so stark sein wie dein padre?, fragte er mich stets. Und ich sah zu meinem Vater hoch, als sei er ein Gott. Claro, papá. Ich will so werden wie du.
Mein Vater hat nie zu mir gesagt, ich könnte eines Tages besser sein oder besser handeln als er. Und heute Nacht werde ich eine exakte Kopie meines alten Herrn abgeben, auch wenn ich versucht habe, anders zu sein, indem ich Carlos und Luis erklärt habe, sie könnten einen anderen Weg einschlagen als ich. Es war idiotisch von mir zu glauben, ich wäre ihnen ein gutes Vorbild.
Meine Gedanken wandern zu Brittany. Ich habe versucht zu verdrängen, dass sie mit jemand anderem zum Halloweenball gehen wird. Die Gerüchte besagen, sie gehe mit ihrem Ex hin. Vergeblich versuche ich den Gedanken daran aus dem Kopf zu bekommen, dass ein anderer sie berühren wird.
Ihr Halloween-Begleiter wird sie sicher küssen. Wer würde diese süßen, weichen rosa Lippen nicht küssen wollen?
Ich werde heute arbeiten, bis es Zeit für den Deal ist. Denn wenn ich stattdessen allein zu Hause hockte, würde ich vor lauter Grübeln noch den Verstand verlieren.
Mir rutscht der Niethammer aus der Hand und landet mitten auf meiner Stirn. Ich bin deswegen nicht sauer auf mich, ich gebe Brittany die Schuld. Und um acht Uhr bin ich stinkwütend auf meine kleine Chemiepartnerin, sei es nun gerechtfertigt oder nicht.
Du oder das ganze Leben
cover.html
elke_9783641039455_oeb_cover_r1.html
elke_9783641039455_oeb_toc_r1.html
elke_9783641039455_oeb_ata_r1.html
elke_9783641039455_oeb_ded_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c01_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c02_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c03_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c04_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c05_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c06_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c07_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c08_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c09_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c10_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c11_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c12_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c13_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c14_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c15_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c16_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c17_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c18_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c19_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c20_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c21_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c22_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c23_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c24_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c25_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c26_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c27_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c28_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c29_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c30_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c31_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c32_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c33_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c34_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c35_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c36_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c37_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c38_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c39_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c40_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c41_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c42_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c43_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c44_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c45_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c46_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c47_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c48_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c49_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c50_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c51_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c52_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c53_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c54_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c55_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c56_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c57_r1.html
elke_9783641039455_oeb_c58_r1.html
elke_9783641039455_oeb_elg_r1.html
elke_9783641039455_oeb_ack_r1.html
elke_9783641039455_oeb_cop_r1.html