Wetzon zog die Lippen mit dem Konturenstift nach, dann trug sie Farbe auf. Ihre Hand zitterte. Premieren machten sie immer nervös.
Fast zwei Wochen waren vergangen. Hotshot: The Musical war aus Boston gekommen und hatte eine Woche lang vor restlos ausverkauftem Haus Voraufführungen gespielt. Kartenschwarzhändler standen jeden Morgen bereits vor Kassenöffnung Schlange. Die Leute führten sich auf, als handelte es sich um die Wiederkunft Christi.
Alex Witchels wunderbares Interview mit Carlos war letzten Sonntag in der Times erschienen, und Mort würde nächste Woche auf dem Titelblatt der Times zu sehen sein.
Smitty war von einer Anklagejury wegen Mordes — Susans — angeklagt worden und befand sich gegen Kaution auf freiem Fuß, doch Arthur meinte noch immer, es würde nicht zum Prozeß kommen. Kein handfester Beweis war ans Licht gekommen, nur Susans Notiz in ihrem Terminkalender und Smittys Daumenabdruck an der Hintertür. Und immer noch keine Mordwaffe.
Alton rief jeden Tag an. Wetzon schwankte jedesmal, wenn sie die Stimme hörte. Sie mußte jedoch zugeben, daß ihr das Abenteuer, wieder allein zu leben, und die aufregende Vorfreude auf das Neue und Unerwartete gefielen.
Der Vorhang zur Premiere ging um Viertel nach sechs hoch. Früh, damit die Kritiker ihre Berichte schreiben und in den Elf-Uhr-Nachrichten senden sowie den Redaktionsschluß der wenigen noch verbliebenen Tageszeitungen einhalten konnten.
Wetzon lackierte sich die Fingernägel, legte sich aufs Bett und wedelte mit den Fingern. Izz nutzte die Gelegenheit, auf Wetzons Bauch zu krabbeln.
Das Telefon läutete. Wetzon schubste Izz weg und nahm ab, wobei sie sorgfältig auf den Nagellack achtete.
»Leslie? Hier ist Sonya.«
Wetzon hatte ihre Donnerstagssitzung bei Sonya wegen der Premiere verlegt. »Tag, Sonya. Du hast hoffentlich nicht vergessen, daß heute die Premiere ist.«
»Nein. Ich wollte dir nur sagen, warum du den ersten April für mich freihalten sollst. Es ist... also Eddie und ich heiraten.«
Sonya und Eddie... »Du meinst O’Melvany?« Wetzon empfand eine plötzliche Anwandlung von... ja, was? Neid?
»Ja. Bist du überrascht?«
»Ich sollte es nicht sein. Ich wußte, daß ihr zwei zusammen seid, aber heiraten...«
»Wir wollten es beide amtiich machen, und wir möchten, daß du unsere Trauzeugin bist, weil du uns miteinander bekannt gemacht hast.«
»Ich? Mann, Sonya, ich fühle mich geehrt.«
»Wir treffen uns auf dem Standesamt Centre Street Nummer eins. Ein Uhr am ersten April. Kannst du es machen?«
»Ja, selbstverständlich, Sonya, herzlichen Glückwunsch und alles.«
»Danke, Leslie. Du kannst dir vorstellen, wie glücklich ich bin.«
Quäl mich, dachte Wetzon. Quäl mich nur.
Als die Haustürklingel läutete, warf sie den schwarzen Cashmere-Schal um und ging, sehr zu Izz’ Kummer.
In der Halle schritt ein nervöser Panther namens Carlos auf und ab. »Los, komm schon. Häschen, wir sind spät dran.«
»Wo ist Arthur?«
»Im Taxi. Gehen wir.« Er hetzte sie ins Taxi, neben Arthur.
»Was hat dein Freund denn?« fragte sie, und beide mußten lachen. Carlos ignorierte sie.
Die Anzeigetafel des Theaters glich einem Regenbogen in glitzernden Tönen. Absperrungen waren aufgestellt, um Schaulustige und Fotografen zurückzudrängen. Prominente baten immer um Karten für die Premiere von Shows, die versprachen, ein Hit zu werden, damit ihre Fotos in die nächsten Morgenzeitungen kamen. An diesem Abend würden viele Stars unterwegs sein. Ein berittener Polizist saß hoch auf seinem Beobachtungsposten und sprach mit einem Mann in schlechtsitzendem Smoking und Jarmulke. Bernstein. Ganz in Schale für die Premiere. Warum war er hier? Wetzon versuchte, ihn auf sich aufmerksam zu machen, doch das Gedränge wurde dichter.
»Gehen wir etwas trinken«, schlug Arthur vor, und sie steuerten Sardi’s gegenüber an.
Vor drei Tagen war der Frühling angebrochen. Ihren beängstigenden Traum hatte sie seit der Nacht, in der sie Alton verlassen hatte, nicht mehr gehabt. Suche nicht nach Lösungen, hatte Sonya gemeint, und sie versuchte, sich daran zu halten.
Sie tranken schnell etwas an der Bar, dann gingen sie zum Theater zurück und nahmen ihre Plätze ein. In ihrer Nähe saßen Cher mit einem dunkelhaarigen jungen Mann, Mary Tyler Moore, Mike Nichols und Diane Sawyer. Julie Andrews saß zwei Reihen weiter. Sunny Browning hatte Wetzon im Foyer zugeflüstert, daß sie sie und Arthur neben die MacBeths, sonst als Frank Rich und seine Frau Alex Witchel bekannt, gesetzt hatte. Wetzon wußte aus Erfahrung, daß man vorsichtig sein mußte, was man bei einer Premiere sagte, weil man nie wissen konnte, wer neben oder vor einem saß.
Es war ein Abend der großen Roben. Smith trug ein langes schwarzes Futteral, das eine Schulter frei ließ und einen Schlitz bis zur Hüfte hatte, dazu einen gewaltigen zitronengelben Taftschal. Sie schmiegte sich elegant an Joel Kiddes Arm. Hinter ihr saß Smitty, ganz der gutaussehende Jüngling mit schwarzer Fliege. Gerade als das Licht zu erlöschen begann, sah Wetzon Bernstein noch einmal flüchtig. Dann wurde das Haus dunkel, und JoJo erschien mit schwarzer Fliege und Frack. Er wartete, bis sich der Applaus legte, dann hob er den Taktstock. Die Ouvertüre begann.
Die Show rauschte von Nummer zu Nummer, mindestens dreimal im ersten Akt von anhaltendem Szenenapplaus unterbrochen. Das todschicke Publikum, zu dem auch Investoren und Familienangehörige des Ensembles zwischen den Prominenten gehörten, schien sich großartig zu amüsieren.
In der Pause traf Wetzon in der Damentoilette zufällig eine strahlende Poppy Hornberg, das Gesicht rosig und blühend, wahrscheinlich durch ihren jüngsten Aufenthalt in Florida. »Ist es nicht wunderbar?« schwärmte Poppy. Sie wirkte weniger verbittert, beinahe weich, und es schmeichelte ihr.
»Sie sehen reizend aus, Poppy. Ein Erfolgsmusical in der Familie bekommt Ihnen gut.«
»Ach, das ist es nicht, oder höchstens zum Teil, aber ich bin...« Poppy senkte die Stimme, doch durch die Aufregung wurde sie wieder lauter. »Ich bin schwanger.«
Menschenskind, dachte Wetzon. Sonya heiratete. Poppy Hornberg war schwanger. Was war nur los? »Ich freue mich so für Sie und Mort. Wann?«
»Wir haben es seit Jahren versucht, Leslie. Können Sie sich das vorstellen? Ende November.«
Wieder auf ihrem Platz, als der Vorhang zum zweiten Akt sich hob, war Wetzon abgelenkt. Sie sah wie von einem fernen Planeten zu, bis das Finale das gesamte Publikum, bis auf die Kritiker, auf die Beine brachte. Die MacBeths verließen das Theater, und der tosende Applaus hielt an, während das Ensemble sich immer wieder verbeugte.
»So«, sagte Arthur und strahlte über das ganze Gesicht, »gehen wir hinter die Bühne?«
»Natürlich.«
Sie warteten, bis das Publikum draußen war, dann gingen sie durch den seitlichen Durchgang auf die Bühne. Gratulanten umdrängten die Schöpfer.
»Meine Glückwünsche, Mort«, sagte Wetzon. Er strahlte in seinem Rüschenhemd und Armani-Smoking.
»Verehrteste, danke.« Er küßte sie und schüttelte Arthur die Hand. »Es war wundervoll, nicht? Bestimmt mein bestes Werk.«
»Ich habe das Baby gemeint«, sagte Wetzon absichtlich boshaft.
Er wurde tatsächlich rot. »Ja, das ist prima.«
Sie ging weiter, und ihr Platz wurde von Carol Burnett eingenommen, die genau das gleiche Kleid wie Smith trug, nur mit einem korallenroten Schal. Arthur hatte sich weggeschlichen. Wo war er? Twoey und Sunny unterhielten sich mit Smith und Janet Barnes, Twoeys Mutter. Alton war am Morgen nach Kalifornien geflogen, sonst wäre er ziemlich sicher dabeigewesen. Die Menge schwoll an, und Wetzon fand sich plötzlich in den Seitenkulissen, gegen das Inspizientenpult gedrängt. Sie bekam Phil kurz zu sehen — die Baseballmütze verkehrt herum auf dem Kopf, das Gesicht glühend — und winkte ihm. Dann machte sie einen Schritt rückwärts und stieß gegen etwas, das unter dem Pult lehnte. Der Gegenstand war in eine Fechttasche aus blauem Segeltuch eingewickelt. Sie fiel um. Sie bückte sich, um sie aufzuheben. Dabei fühlte sie durch das Segeltuch, daß es kein Florett war; es war ein Baseballschläger.
Sie richtete sich auf und strich ihr Kleid glatt. Stimmt, Phil war im Broadway-Show-Team. Sie erinnerte sich an das Gespräch im Polish Tea Room an dem Tag, als Hotshot die Stadt verlassen hatte. Es war nichts daran auszusetzen, daß er in der Baseballmannschaft war. Andererseits war der Schläger ein zylinderförmiger Gegenstand. Und Phil war, wie Smith ausgeführt hatte, ein junger Mann, ohne starken väterlichen Einfluß und, vielleicht, mit einer gewissen Verwirrung hinsichtlich der geschlechtlichen Orientierung.
Bernstein mußte irgendwo in der Nähe sein. Sie könnte ihn darauf aufmerksam machen.
Jemand sagte: »Gibt es ein Problem, Mädchen?«
Wetzon fuhr zusammen. »Du meine Güte, Fran, hast du mich erschreckt. Ich habe überlegt, wo... Carlos steckt. Ich habe noch nicht zu ihm durchkommen können.«
»Dann komm mit.« Fran packte sie mit festem Griff am Ellenbogen. Sein Stock, einer aus Metall, hing locker an seinem Arm.
»Was ist aus deinem wunderschönen alten Stock geworden?«
»Der Wurm war drin, und er begann zu zerfallen, deshalb habe ich ihn weggelegt.« Seine blauen Augen waren kalt. »Ich habe dir geraten, die Finger davon zu lassen, Mädchen. Du hättest auf mich hören sollen.«
Auf der anderen Seite der überfüllten Bühne entdeckte sie Arthur und winkte verzweifelt. Aber er sah sie nicht. Der Lärm der Stimmen war ohrenbetäubend. Sie versuchte, ihren Ellenbogen aus Frans Griff zu reißen. Er hatte viel Kraft für einen alten Mann, der angeblich an Krebs erkrankt war. »Laß mich bitte los, Fran.« Doch er trieb sie unerbittlich von Carlos weg.