»Halt, Mädchen...«
Sie war direkt mit Fran Burke zusammengestoßen, zum zweitenmal innerhalb von zwei Tagen, diesmal aber so heftig, daß beiden fast die Luft wegblieb. Sein Stock schlug gegen die Wand, und der laute Knall schloß die plötzliche Lücke, die das Schweigen aus dem Orchestergraben verursacht hatte.
»Du lieber Gott, tut mir leid, Fran.« Ihr wurde flau im Magen. Sie hörte nur noch das eigene Herz, das in ihren Ohren hämmerte.
»Überbezahlt!« schrie Mort hinter ihnen. »Ihr seid alle überbezahlt! Wenn ich die Regie niederlege, wird keiner von euch je wieder arbeiten!«
»Was ist denn da los?« Unter den struppigen weißen Augenbrauen blickte Fran ernst. Er achtete nicht auf Morts Ausbruch, und Wetzon war zu sehr von der Entdeckung schockiert, daß Smitty Mark Smith war. In der Gesamtsumme der Dinge, die in ihrem Leben wichtig waren, tauchten Mort und seine Versuche, sich in Positur zu werfen, nicht auf. Sie hob den Stock mit dem kunstvoll geschnitzten Totenkopf auf, überrascht von seinem Gewicht, und reichte ihn Fran.
Sie blickte in die Richtung, aus der sie gerade gekommen war, dann preßte sie die Hand auf den Mund. Sie sah Fran an, schüttelte den Kopf und stürzte zur Toilette, wo sie das Bier und das wenige, was sie sonst im Magen hatte, erbrach, während sie immerzu dachte: Das ist dumm. Dumm! Sie trocknete die Augen mit Toilettenpapier und spülte den Mund mit kaltem Wasser über dem Waschbecken aus.
Jemand hämmerte gegen die Tür. Fran? Falls er seinen Stock dazu benutzte, würde er die Tür einschlagen. Was hatte Bernstein über die Mordwaffe gesagt? Ein stumpfer zylindrischer Gegenstand? Sie packte den Gedanken weg, um später darüber nachzugrübeln.
»Häschen! Alles in Ordnung?«
»Kaum.«
»Was? Ach, vergiß es.« Carlos machte die Tür auf und kam herein, das Gesicht vor Sorge müde.
»Carlos! Du kannst hier nicht herein.« Eine neue Welle von Übelkeit überfiel sie.
»Oh, bitte!«
»Na gut, dann tausch mit mir.« Sie schüttelte ihren Mantel ab und warf ihn nach ihm. »Ich möchte nicht auf meinen Pelz kotzen.«
»Oh, verstehe.« Er grinste sie an. »Aber auf mein Leder kannst du. Mmmm.« Er streichelte den Pelz. »Den gebe ich nicht wieder her.«
Fröstelnd legte sie sich Carlos’ Ledermantel um und lächelte ihn matt an. »Danke. Bin schon wieder in Ordnung. Das kommt davon, wenn man Bier auf leeren Magen trinkt.«
»Wirklich, Schatz? Raus mit der Sprache. Fran hat gesagt, daß du gerannt bist, als wäre der Teufel hinter dir her.«
»Ich? O nein.« Sie beschäftigte sich intensiv mit den Knöpfen seines Mantels. Hauptsache, sie wich seinem scharfen Blick aus. »Es war nur ein Unfall in der Dunkelheit. Ich bin über seinen Stock gestolpert...«
»Häschen, ich weiß, daß du etwas vor mir verheimlichst, und das erlaube ich nicht.« Er hüpfte mit beiden Füßen auf und ab, ein Tänzer, der Rumpelmortchen gibt. Ein gescheiter Tänzer hatte Mort, als der gerade wieder seinen Koller hatte, Rum-pelmortchen getauft, und der Name war hängengeblieben. »Sofort sagst du es Carlos.«
Wetzon mußte lachen und umarmte ihn. »Zuviel mit Mort zusammen ist ansteckend.«
»Mach dich bitte nicht über mich lustig.«
»O Mann, ich liebe dich«, sagte sie, »aber du wirst dich darüber auch nicht mehr freuen als ich. Und aus völlig anderen Gründen.«
»Häschen...«
»Es ist Mark Smith.«
»Mark Smith? Wer ist das? Halt, warte, nichts verraten. Der Kleine des Barrakudas. Was hat Mark Smith mit irgendwas zu tun?«
»Es ist dein Smitty.«
»Smitty. Smitty?« Langsam ging ihm ein Licht auf. »Verdammt, verdammt! Habe ich doch gleich gedacht, daß er jemandem ähnlich sieht, den ich kenne...«
»Carlos, er ist gerade siebzehn und...«
»Das gibt Ärger.« Carlos sah genauso grün aus, wie Wetzon sich fühlte. »Nicht zu glauben, daß der Barrakuda so einen netten Jungen produzieren konnte.«
»Ich habe gerade Poppy gesehen, die versucht hat...«
»Sag nichts, ich weiß Bescheid. Sie ist seit Wochen hinter ihm her und quält damit Mort. Mort ist verrückt nach ihm.«
»Ach komm, Carlos.«
»Doch, Häschen, glaub mir, Smitty ist schwul.«
»O Gott, Carlos, das ist Smith’ Tod.« Wetzon kam plötzlich ein schrecklicher Gedanke. »Ist zwischen euch etwas vorgefallen?«
»Nein. Aber es hätte gut sein können. Scheiße, er hat jedem erzählt, daß er einundzwanzig ist.«
»Alles in Ordnung mit dir?« rief Fran und hämmerte gegen die Tür.
»Ja.« Wetzon kramte in ihrer Handtasche nach dem Lippenstift und zog die Lippen rosa nach.
»Mach schon, Häschen.« Carlos schubste sie zärtlich mit der Schulter. »Wir haben beschlossen, eine Pause zum Abendessen zu machen. Du brauchst einen Tee. Ich persönlich habe etwas sehr viel Stärkeres nötig.«
Sie verließen die Damentoilette und fanden die Bühne trübe beleuchtet vor. Das Theater war fast verlassen, nur um den Orchestergraben herum machten sich noch Leute zu schaffen. Wetzon konnte Jojos Profil erkennen, weil er so ein Fettkloß war.
Kay Lewis’ Assistentin Nomi hatte die Füße auf den Techniktisch gelegt. Sie starrte auf den einen Computer und aß dabei aus einer Pappschachtel. Der Duft nach chinesischer Küche umschwebte sie.
Wetzons Magen gluckerte. Wie konnte sie jetzt hungrig sein? Aber das war sie.
Sie gingen durch den Hauptausgang hinaus, weil das einfacher war. Sunny Browning stand mit Twoey im Foyer und betrachtete eingehend die Schaukästen mit Fotos der Schauspieler. Später würden sie durch Szenenfotos ersetzt werden, die der Fotograf während der Kostümprobe aufnahm.
»Wir gehen um die Ecke zu Remington‘s«, verkündete Sunny. Sie sah Twoey besitzergreifend an.
»Häschen?«
»Gehen wir mit. Du kannst dir einen Drink genehmigen, und ich bestelle ein Ginger-Ale und Salzstangen.« Sie dachte: Smith braucht einen Menschen, der sie sehr liebt, wenn sie das mit Mark erfährt. Einen Menschen wie Twoey. Schade, daß Smith so dickköpfig war. Wetzon hatte das ungute Gefühl, daß Smith Twoey an Sunny verlieren würde.
»Du siehst ein bißchen blaß aus.« Twoey gab Wetzon einen Kuß auf die Wange. Er wirkte angeregt. Wenigstens amüsierte sich Twoey gut.
»Und dir sieht man an, daß du deine Zeit hier genießt.«
Twoey lachte. »Stimmt. Sunny hat meine Wissenslücken gefüllt. Ich werde noch zum Experten für Voraufführungstourneen. Würdest du glauben, daß es hundertfünfzigtausend Dollar kostet, das Bühnenbild ins Theater zu bringen?«
»Aus der Stadt rauszugehen mag ein Vermögen kosten«, sagte Sunny, »aber es ist besser, als in New York zu bleiben und eine Show auf die Beine stellen zu wollen, wenn einem die ganzen Theaterexperten ständig gute Ratschläge erteilen. Das ist scheußlich. Und mit ein bißchen Glück werden zumindest die Gagen durch die Kasseneinnahmen gedeckt.«
Boylston Street bei Nacht. Dieser Teil Bostons hatte sich seit Wetzons Gastspielerfahrung wenig verändert. Obdachlose und Bettler taxierten sie auf Spendenwilligkeit. Twoey leerte das Kleingeld in seiner Tasche in einen Pappbecher, den eine heruntergekommene Frau ihnen hinhielt.
»Jetzt hat jeder Stadtstreicher im Umkreis von drei Meilen deine Nummer«, warnte Sunny.
»Hör mal, Sunnyschatz.« Carlos packte Sunnys Arm und ging mir ihr voraus. »Ich mache mir ein wenig Sorgen wegen Phil. Er ist mit den Stichwörtern nicht auf Draht. Die Wechsel kommen ständig zu spät. Ich sage es nicht gern, aber Dilla würde...«
Wetzon und Twoey gingen hinter Carlos und Sunny her.
»Twoey, Mark ist hier.«
»Ich weiß, Xenie hat es mir gesagt. Er nimmt an ein paar Kursen an der Harvard teil. Vielleicht bekommen wir ihn zu sehen.« Twoey hielt ihr die Tür auf, und sie betraten nach ihren Freunden das Remington’s, das früher mal, wie Wetzon sich erinnerte, eine Bank gewesen war. Sie mußten auf einen Tisch warten.
»Ich meine nicht in Boston. Ich meine, Mark ist bei der Show dabei. Als Laufbursche oder so. Und er nennt sich Smitty.«
»Schön für ihn!« sagte Twoey herzlich. Dann runzelte er die Stirn. »Xenie wird davon nicht erbaut sein.« Er zuckte die Achseln. »Ach was, ich weiß nicht, ob das stimmt. Xenie überrascht uns vielleicht. Bei ihr kann man nie wissen.«
»Da hast du recht.«
»Du sagst, er arbeitet jetzt bei dieser Show?«
»Mhm.«
»Ich bin seit Dienstag hier. Wie hat er es fertiggebracht, mir nicht über den Weg zu laufen?«
»Twoey, er hat sich die ganze Zeit bei den Proben in New York herumgetrieben und jedem erzählt, daß er zweiundzwanzig und auf dem College ist. Mark hat eine lebhafte Phantasie, und er ist erfinderisch, aber es muß ein Schock für ihn gewesen sein, daß er dich gesehen hat und dann mich.«
Twoey faßte ihr zärtlich unters Kinn. »Mach dir seinetwegen keine Gedanken, Wetzon. Er ist in Ordnung.«
»Ich bin aber seinetwegen beunruhigt, und ich bin auch wegen Smith beunruhigt. Sie ist ganz besonders empfindlich, wenn es um Mark geht. Das weißt du doch, Twoey.«
An der Bar drängten sich Leute, die nur zum Trinken da waren. Hinter Wetzon und Twoey standen noch mehr an. Trotzdem dauerte es nur zehn Minuten, bis sie einen freien Tisch im überfüllten Speisesaal bekamen.
Abscheuliche Dinge wurden bestellt, wenigstens für Wetzons Geschmack, Knackwurst mit Bohnen in Tomatensoße, Fish and Chips, dicke Muschelsuppe à la Neuengland — »nur freitags« — und Bier. Wetzon blieb bei Ginger-Ale und einem Steinguttöpfchen mit französischer Zwiebelsuppe.
»...jedem das Seine«, sagte Carlos, der anscheinend über ein Thema weiterredete, das er und Sunny auf dem Weg hierher diskutiert hatten.
»Sie konnte die ganze Mannschaft beschwatzen, alles für sie zu tun. Ich weiß nicht, wie sie das angestellt hat«, stimmte Sunny zu. Sie rührte geistesabwesend ihre Bloody Mary um.
»Dilla?« Wetzon, die Carlos gegenübersaß, war müde und ein bißchen benommen. Ihre Augenlider wurden schwer.
»Ja.« Sunny sah sie gespannt an. »Leslie, Sie kennen doch diese Detectives. Haben die einen Anhaltspunkt, wer sie getötet hat?«
»Ich bin nicht eingeschaltet, Sunny, wenn Sie das meinen und sie würden es mir nicht sagen, wenn sie es wüßten.«
»Ich bin davon überzeugt, daß es ein Raubüberfall war. Ihre Handtasche war verschwunden — und — hat das jemand gemerkt? Ich gehe jede Wette ein, daß sie den Ring nicht trug, als sie gefunden wurde.«
»Was für einen Ring?« Wetzon war sofort hellwach.
Sunny runzelte die Stirn. »Ein Geschenk, nehme ich an. Er sah nicht danach aus, als hätte sie ihn sich selbst geschenkt. Wahrscheinlich dieser mysteriöse Investor, den sie aufgetan hatte. Der Ring war kaum zu übersehen. Sie hat ihn die ganze Woche getragen.«
»Hast du ihn gesehen, Carlos?«
»Was ist das, Häschen, ein hochnotpeinliches Verhör?« Er mampfte mit solcher Hingabe seine Bratkartoffeln, daß Wetzon neidisch wurde.
Sie trat ihm unterm Tisch auf den Fuß. »Na los, sag schon.«
»Ja, ich habe ihn gesehen. Wer hätte das nicht? Er hatte einen Stein, so groß wie... das Ritz.«
Sunny schloß die Augen einen kurzen Moment und schlug sie auf. »Es war ein breiter Goldreif, richtig, Carlos?«
Er nickte. »Mit einem flach eingesetzten gigantischen Diamanten.«