Wetzon rubbelte sich das Haar mit einem Handtuch trocken und fuhr mit dem Kamm durch. Dampf von der Dusche hatte den Spiegel getrübt. Sie machte sich Sorgen um Mark. Mit einem Handtuchzipfel wischte sie den Dampf vom Spiegel.
Die Frau im Spiegel war ausgemergelt, die grauen Augen riesig. Als der Dampf ihr Bild erneut trübte, holte sie es nicht wieder mit dem Handtuch vor.
Statt dessen ging sie ins Schlafzimmer und zog die schwarzen Wolleggings an, die sie mit anderen Kleidungsstücken in einer Kommodenschublade bei Alton aufbewahrte, und ein weißes T-Shirt von ihm. Darüber zog sie seinen hellblauen Cashmere-Pullover mit V-Ausschnitt, der bei ihr bis zum halben Oberschenkel reichte. Im Bad öffnete sie das Fenster, damit der Dampf abziehen konnte, hängte die Handtücher auf und stellte sich zum Schluß auf die Waage. Zweiundvierzig Kilo — und das in Kleidern. Kein Wunder, daß sie sich so schwach fühlte. Sie hatte über ein Kilo abgenommen. Sorgen und Streß hatten bei ihr immer diese Folge.
Entschlossen, sich das Verlorene wieder anzuessen — ein köstlicher Gedanke — , begann sie, nach Eßbarem zu stöbern. Altons Haushälterin hatte den Kühlschrank aufgefüllt, so daß frischer Orangensaft da war. Sie goß sich ein großes Glas ein. Während sie es trank, blickte sie vom Küchenfenster auf die 81. Street hinunter.
Die Straßenlampen waren von kleinen nebligen Kreisen umgeben, und das Hayden-Planetarium auf der anderen Straßenseite glich einer verzauberten Festung, die aus dem Nebel aufragte. Niemand unten hatte den Schirm aufgespannt, doch die Bürgersteige sahen naß aus. Alton hatte Izz ausgeführt, um in der Tierhandlung drüben auf der Amsterdam eine Leine und Hundefutter zu besorgen. Zum Abendessen würde er etwas vom Chinesen mitbringen.
Im Schlafzimmer machte sie es sich mit dem Telefon, das sie am Nachttisch herausgezogen hatte, und ihrem Ringbuch auf dem Teppich bequem. Sie hielt den Stift in Bereitschaft und rief ihren Anrufbeantworter ab. Die Traube aus Edelsteinen an ihrem Ringfinger erinnerte sie daran, daß ihr Leben eine unerwartete Wende genommen hatte. Sie verschloß die Augen davor.
Die erste aufgenommene Nachricht war, daß jemand ins Telefon schnaufte, dann auflegte. Verdammt. Müßte sie sich Gedanken machen, ob er sich verwählt hatte oder ob sie gemeint war? Sie wartete auf den zweiten Piepton. Wieder Schnaufen.
Das Schnaufen hörte auf, und eine dritte Nachricht kam. »Wetzon, es tut mir leid. Ich habe es nicht gewollt. O Gott, es tut mir so leid.« Mark legte mitten in einem hysterischen Schluchzer auf.
Wie betäubt hörte sie den Rest der Nachrichten durch einen Wirrwarr widerstreitender Gefühle. Dreimal aufgelegt. Wahrscheinlich Silvestri, der sie suchte, bis er sich zusammenreimte, wo sie war.
Piep. »Tag, Wetzon. B. B. hier. Es ist vier Uhr, und wir sind fertig. Er ist ein irrer Typ. Bis Montag... hm, und vergiß nicht, daß ich dich privat sprechen möchte.«
Piep. »Es ist zwei Uhr Samstag nachmittag. Ich kann dich am Sonntag um vier empfangen, Leslie. Du brauchst nicht zurückzurufen, wenn es paßt.« Sonyas herzliches Mitgefühl kam vom Band rüber.
Piep. »Häschen!« Carlos klang aufgeregt. »Mort hat mich über Susan informiert. Wo zum Teufel steckst du? Geht es dir gut? Ich habe eine wirklich sonderbare Nachricht von Smitty. Hör zu, ich möchte das nicht auf Band sprechen. Hinterlaß eine Nummer, wo ich dich heute nacht anrufen kann, wenn die Kritiken hereinkommen... Wer hat nur gesagt, das sei lustig?«
Sonst waren keine Nachrichten darauf. Wetzon rief das Ritz an und hinterließ ihren Namen und Altons Telefonnummer für Carlos.
Nachdem sie einen großen, stärkenden Schluck Orangensaft getrunken hatte — ein Schuß Alkohol fehlte — , wählte sie Smith’ Privatnummer. Das Telefon läutete und läutete. Keine Antwort. War Mark ans College zurückgefahren? Oder könnte er nach Boston geflogen sein? Sie legte auf, erhob sich, stellte das Glas auf die Kommode neben das Foto von Alton en famille in Skikleidung auf den Hängen von Aspen. Sie hielt sich an der Schlafzimmertür fest und machte ein paar Streckübungen und Kniebeugen.
Danach goß sie einen Schuß Wodka in das halbleere Glas Orangensaft und füllte großzügig mit Saft auf. Sie kehrte auf ihren Platz auf dem Schlafzimmerboden zurück und richtete die Fernbedienung auf den Fernseher. Die Sechs-Uhr-Nachrichten kamen. Die Fernsehreporterin, eine blonde Frau namens Mimi Tucker, gab Susans Tod bekannt. Tucker, mit glänzend rotem Regenmantel und passend rotem Kußmund, stand vor Susans Haus. Die Kamera schwenkte über die Menge, griff die Streikposten heraus, die wie auf ein Stichwort mit ihren Schildern wackelten. Hinter der Reporterin bewegten sich Polizisten, darunter ein Mann, der das Wort Spurensicherung hinten auf seiner dunkelblauen Jacke stehen hatte.
»Die unbekleidete Leiche der Dichterin Susan Orkin wurde auf der Hintertreppe ihrer Eigentumswohnung an der Upper East Side kurz nach Mittag von Hausmeister Tony Novakovich und einer Freundin von Ms. Orkin gefunden, die sich Sorgen machte, als die Dichterin eine Verabredung zum Mittagessen nicht einhielt. Wir werden später ein Exklusivinterview mit Mr. Novakovich senden.«
Die Kamera machte einen schnellen Schwenk auf die Straße und die Absperrung der Polizei, dann kam sie zu Mimi zurück.
»Ms. Orkins Wohnung war durchwühlt worden, und die Polizei hat ihren Tod als verdächtig bezeichnet. Ms. Orkin war früher mit dem New Yorker Kongreßabgeordneten Gary Orkin verheiratet gewesen. Die Ehe wurde vor fünfjahren geschieden. Die Polizei bittet jeden, der sachdienliche Hinweise bezüglich Ms. Orkins Tod geben kann, sich unter folgender Nummer mit ihr in Verbindung zu setzen...«
Als Alton mit einer überglücklichen Izz zurückkam, die auf Wetzon zuflog, als wären sie Wochen getrennt gewesen, schaltete Wetzon den Fernseher aus. »Ich bin blau«, informierte sie die beiden. Izz trug jetzt ein rotes Halsband mit kleinen Rheinkieseln. Wetzon blickte zu Alton hoch. »Alton, Rheinkiesel? Ich kann nicht glauben, daß du ihr ein Halsband mit Rheinkieseln gekauft hast. Du doch nicht.«
»Sie heißt Isabella, nicht? Diamanten hatten sie nicht.« Er half ihr auf. »Komm mit. Das Essen wird kalt.« Er führte sie in die Küche, wo er ein festliches Mahl aufgetischt hatte. Sie war plötzlich am Verhungern.
Ein dickes, rotkariertes Hundekissen lag unter dem Fenster. Auf dem Boden in der Nähe des Spülbeckens stand eine weißblaue Schale, auf der Hund stand, und sie war mit trockenem Hundefutter gefüllt. Izz schnupperte geringschätzig daran.
»Woher weißt du, wieviel man ihr geben muß?«
»Hältst du mich für einen Anfänger?«
»Bist du das nicht?« Sie füllte Orangensaft nach und genehmigte sich noch einen Schuß Wodka.
»Wir hatten immer Hunde. Tessa hat sogar eine Zeitlang Dackel gezüchtet.«
Wetzon spürte immer noch ein komisches Beben, wenn Alton Tessa erwähnte. Er und Tessa waren schon auf der High-School ein Pärchen gewesen, und ihr Tod vor fünf Jahren hatte ihn sehr mitgenommen. Er hatte sich vorzeitig aus dem Beruf zurückgezogen, um etwas Neues zu suchen, was seine Phantasie fesseln könnte. Der Bericht, den er über seine Jahre als Gewerkschaftsfunktionär und überregionaler Gewerkschaftsführer geschrieben hatte, war unglaublich gewesen und wurde immer noch aufgelegt. Wetzon hatte ihn vor zwei Jahren kennengelernt, als er im Aufsichtsrat bei Linvisher Brothers saß. Alton und Twoeys Vater waren befreundet gewesen.
»Dackel haben mir schon immer gefallen, besonders Rauhhaardackel.« Wetzon betrachtete Izz, die das Futter umkreiste. »Was soll ich mit einem Hund anfangen?«
»Wir kriegen das schon hin.« Er schöpfte chinesische Suppe dick von Bohnengallerte und Bambussprossen, in Schalen. Sie hielt die linke Hand hoch und betrachtete den Ring. »Er ist wunderschön. Glaubst du wirklich, es wird mit uns gutgehen?«
»Ich weiß es ganz sicher. Iß auf. Du kommst mir furchtbar dünn vor.«
»Du auch.« Er antwortete nicht, doch er schien sich zu freuen. Er hatte versucht abzunehmen.
Als sie die Suppe gegessen hatten, stellte er die Schalen in die Spüle und begann, gebratenen Reis mit Shrimps, Moo-shu-Fleisch, gekochte Klöße und Auberginen mit Knoblauchsoße zu verteilen. »Was ist mit deinen Kindern?« fragte sie.
Er lachte und sah dabei jungenhaft aus. »Sie sind kaum mehr Kinder. Sie haben ihr eigenes Leben. Das hier ist mein Leben.« Er legte einen Pfannkuchen auf seinen Teller, löffelte Hoisinsoße und die Moo-shu-Mischung darauf, rollte ihn zusammen und reichte ihn ihr.
»Und mein Leben.«
»Unseres.«
»Du sorgst so gut für mich.« Sie vertilgte die Rolle schnell, während sie zusah, wie er eine für sich bereitete.
»Wir werden es gut haben. Du wirst sehen. Wir werden reisen...«
»Und mein Geschäft?«
»Ich möchte nicht, daß du etwas anders machst, Leslie.«
Sie berührte sein Knie unterm Tisch mit dem nackten Fuß, und er erwischte ihn und hielt ihn fest. »Du bist ein großartiger Mann, Alton.«
»Sandra gibt nächsten Monat eine Einladung. Alle werden dort sein. Wir teilen es dann mit, einverstanden?«
»In Ordnung.« Sie fühlte sich wie in einem Zug, der bergab raste, nach...
»Du siehst nicht aus, als wäre alles in Ordnung.«
»Es geht nicht um uns. Ich mache mir Sorgen wegen Mark, Smith’ Jungen. Das heißt, er ist wohl kein Junge mehr. Er hatte sein Coming-out — sagte, daß er schwul ist — und hat sich in Smitty umgetauft. Und das ist noch der gute Teil. Er könnte in diese Morde verwickelt sein...«
»Woher weißt du, daß er schwul ist?«
»Er hat es mir gesagt. Er versteckt es nicht.«
»Weiß Xenia Bescheid?«
Sie nickte.
»Der arme Junge.«
»Smith hält es für ein Virus. Sie will ihn zu einer Therapie schicken.«
Alton lächelte und schüttelte den Kopf. »Eine seltsame Frau, deine Partnerin. Was bringt dich auf den Gedanken, er könnte... in diese Morde verwickelt sein?«
Sie seufzte. »Laß mein Wort genug sein. Übrigens amüsiert sich Twoey prächtig.«
»Twoey?«
»Ach, du meine Güte, Alton. Du weißt es ja gar nicht. Du warst schon weg, als alles passiert ist. Twoey ist jetzt einer der Produzenten von Hotshot, Mort brauchte Geld, und Twoey wollte sich aufs Eis wagen, also habe ich die beiden zusammengebracht. Es ist eine Feuerprobe, aber er genießt es.«
»Er wollte schon immer ans Theater, um Stücke zu produzieren. Er ist nur wegen seines Vaters an die Wall Street gegangen. Ich hätte ihn Vorjahren bei ATPAM unterbringen können, aber sein Vater wäre davon nicht erbaut gewesen.«
»ATPAM? Die Gewerkschaft der Presseagenten und Manager?«
»Ja. Ich kannte einen der Topleute dort. Wir hatten in einigen Vermittlungsgremien mit Ted Kheel zusammengearbeitet.«
Wetzon legte die Gabel hin. Sie fühlte sich ein wenig schwindlig. Hatte Alton gerade gesagt, er kannte jemanden bei ATPAM? »Wen hast du dort gekannt?«
»Er lebt nicht mehr. Er ist ein paar Jahre vor Tessa gestorben.« Altons Blick wurde vage.
Wetzon wartete. Geduld gehörte nicht zu ihren starken Seiten. Aber sie kannte sowieso die Antwort auf ihre Frage. Altons Kontaktmann bei ATPAM war Lenny Kaufer gewesen.