Wetzons Hände waren eiskalt. Ein winziger Puls klopfte in ihrem Hals.
»Du siehst wunderschön aus, Leslie.« Alton nahm ihre Hand und küßte die klamme Handfläche. »Hör auf, dich zu quälen. Alle hier lieben dich.« Sie traten aus dem Aufzug und gingen über den Flur zur letzten Wohnung, wo Alton klingelte.
Sie wollte ihm sagen, daß es ihr gleichgültig war, ob sie sie liebten oder nicht, doch sie sprach es nicht aus. Sie fürchtete diesen Abend. Nach diesem Abend würde ihre Bindung an Alton offiziell sein.
Sandra Semple machte die Tür auf und warf sich Alton in die Arme. »Papa!« Sie trug mandelfarbene Hosen aus Seidenbrokat, ein enganliegendes schwarzes Oberteil und eine mandelfarbene und schwarze Brokatweste. Es war ihr eigener Entwurf; Wetzon hatte ihn an einem Model in Mirabella gesehen. »Kommt herein. Kommt herein.« Sie küßte die Luft neben Wetzons Wange. »Tag, Leslie.«
Ein Mädchen in einer blauen Uniform mit weißem Besatz nahm Wetzons Regenmantel, und sie stand plötzlich allein da; Sandra hatte Alton in das Wohnzimmer geführt. Wetzon konnte die begeisterte Begrüßung bis in die Diele hören.
Wetzon war nun zum drittenmal hier, und sie hatte sich nie wohl gefühlt. Sandra sah ihr nie richtig in die Augen. Altons Tochter war offensichtlich nicht mit ihr einverstanden. Vielleicht sollte sie einfach ihren Mantel wieder anziehen und hinausschleichen.
»Ich dachte, ich hätte dich verloren.« Alton stand groß vor ihr. »Komm, ich möchte dir gern ein paar Leute vorstellen, die mir lieb sind.« Seine Hand legte sich besitzergreifend auf ihren Nacken. Wie ein Joch, dachte sie.
Im Wohnzimmer sah Wetzon nur verschwommene Gesichter. Sie erkannte Janet Barnes, Twoeys Mutter, und, was für ein Glück, Laura Lee Day, die mit einem attraktiven Mann in marineblauem Blazer plauderte.
»Das ist Adam, mein älterer Sohn, und Jill, seine Frau.« Adam war so groß wie sein Vater, aber zwölf bis fünfzehn Pfund schwerer. Er war, wie sie wußte, Reporter der Washington Post, und Jill, eine kleine Frau mit krausem rotblondem Haar, war freie Journalistin. Sie entdeckte Wetzons Ring und stieß ihren Mann an.
»Und das ist Lawrence.« Alton führte Wetzon zu seinem jüngsten Kind, einer fünfundzwanzigjährigen zweiten Auflage des Vaters. Lawrence studierte kreatives Schreiben an der Universität von Iowa. Er gab ihr die Hand, und Alton stellte sie den anderen vor, Verwandten, alten Freunden der Familie.
»Ist Sex nicht herrlich«, flüsterte Laura Lee, als ihre Wangen sich berührten.
»Was du für Sachen sagst!« Wetzon wurde rot. Wie konnte Laura Lee wissen, daß Wetzon und Alton sich geliebt hatten, bevor sie hergefahren waren?
»Schatz, du hast so einen verschwommenen Ausdruck an dir, der nur nach gutem Sex kommt.«
Wetzon lachte. »O Laura Lee, du bist mir eine.«
»Ich möchte dir Paul D’Amico vorstellen. Paul, das ist meine Freundin Leslie Wetzon.«
»Leslie.« Paul D’Amico schüttelte ihr die Hand und lächelte sie mit unglaublich grünen Augen an.
»Alton, meine Freundin Laura Lee Day und Paul D’Amico.«
Während Alton und Paul sich die Hand gaben, murmelte Wetzon Laura Lee zu: »Wer ist das?«
»Alle bitte zum Abendessen«, verkündete Sandra, die im Durchgang zum Eßzimmer stand.
Laura Lee flüsterte: »Sag ich dir später.«
Sandra setzte Alton an das Ende der Tafel und sich an seine rechte Seite, Jill auf die linke. Wetzon wurde zwischen Adam und Lawrence gesetzt. Sie war ein Fisch auf dem Trockenen.
Die einzige Person, der sie nicht vorgestellt worden war, soweit sie sich erinnerte, war eine schwarzhaarige Frau, die ihr gegenübersaß. Mehrere Male sah Wetzon von ihrem Teller auf und bemerkte, daß die Frau sie musterte. Mit nervösen Fingern fand sie ihr Weinglas und nippte daran.
Der erste Gang war ein Pilzrisotto. Sie schaffte es, eine kleine Menge von der erstarrenden Masse auf ihrem Teller zu schlucken, bis das Hauptgericht serviert wurde, eine Hähnchensülze mit winzigen gedünsteten Gemüsen, gefolgt von einem Salat und drei kleinen Kugeln Fruchtsorbet und knusprigen Mandelplätzchen. Das Gespräch schweifte von der Lokalpolitik über Kunst zu Wirtschaft und Finanzen. Bis der Kaffee kam, wußte Wetzon, daß sie zuviel Wein getrunken hatte.
Die dunkelhaarige Frau starrte sie immer noch an.
»Hmhm.« Sandra erhob sich strahlend und glücklich. »Wir haben ein spannendes Familienereignis anzukündigen.«
Mein Gott, dachte Wetzon. Spannend? Was war daran so spannend? Ein unwiderstehlicher Drang, unter den Tisch zu kriechen, überkam sie. Doch Sandra schien sich darüber zu freuen. Wetzon schloß die Augen .Jetzt kommt es.
Neben ihr stand Adam plötzlich auf. Wetzon machte die Augen auf. »Jill und ich erwarten ein Baby«, sagte er. »Herzlichen Glückwunsch, Papa, du wirst Großvater.«
Alton schien sprachlos. Wetzon spürte seinen Blick. Schweiß lief ihr den Rücken hinunter. Alton schien um ihren Beifall zu bitten. Aber was hatte Adams Baby eigentlich mit ihr zu schaffen? Sie mußte irgend etwas tun, also lächelte sie ihm zu, und Alton strahlte.
Jeder am Tisch stellte nun Fragen nach dem Baby, und Wetzon dachte: Vielleicht wird er nichts über uns sagen. Dann betete sie, er würde es unterlassen.
Sandra begann, den Champagner einzuschenken, den das Mädchen in zwei Eiskübeln gebracht hatte. Während Wetzon zusah, wie ihr Glas gefüllt wurde, wußte sie, daß sie es nicht nehmen würde. Champagner bekam ihr nicht, und ihr war ohnehin nicht nach Feiern zumute. Sie sah auf die Uhr. Zehn. Dies war der längste Abend, den sie jemals erlebt hatte.
Alton stand auf. »Ich habe auch eine Neuigkeit«, sagte er. »Komm an meine Seite, Leslie.« Die anderen Gäste murmelten, als Leslie sich erhob und zu ihm gesellte. »Ihr alle kennt meine Freundin Leslie Wetzon.« Wieder war da seine Hand auf ihrem Nacken. »Leslie hat mich sehr glücklich gemacht, indem sie eingewilligt hat, meine Frau zu werden.«
Die entgeisterte Stille, die eintrat, wurde endlich von Laura Lee gebrochen. »Also dann, herzlichen Glückwunsch und alles Gute euch beiden«, rief sie.
Die anderen stimmten ein, doch Wetzon wußte, daß es halbherzig war. Alton schien es nicht zu merken. Er faßte sie unters Kinn und küßte sie, und über seine Schulter fing sie Sandras unverhohlen mißbilligenden Blick auf.
Wetzon sah sich verzweifelt nach Laura Lee um. Doch Laura Lee hatte ihren Platz gewechselt, um sich mit Janet Barnes zu unterhalten. Das Mädchen begann, den Tisch abzuräumen. Sandra schlug vor, sich in das Wohnzimmer zu begeben, wo Kaffee serviert würde.
Es war der geeignete Moment für Wetzon zu entwischen, und sie nutzte ihn.
Ein wenig benommen ging sie nach oben, benutzte die Toilette, kämmte sich, trödelte bewußt herum. Sie schlenderte in die Bibliothek, ein Zimmer mit weichem grünem Teppichboden, hoher Decke, Holztäfelung. Es gab sogar eine Leiter auf Rollen, um die obersten Bretter der Bücherschränke zu erreichen.
Auf einem Tisch standen allerlei Familienfotos in schlichten Silberrahmen. Tessa, Alton und die Kinder zu verschiedenen Zeiten. Tessa und eine jüngere Version der dunkelhaarigen Frau, die Wetzon den ganzen Abend angestarrt hatte. Wetzon nahm das Foto in die Hand.
»Tessa und ihre kleine Schwester«, sagte eine Stimme direkt neben Wetzon. »Lydia Davidoff.«
Erschrocken ließ Wetzon das Bild fallen. Lydia hob es auf und betrachtete es lange, dann stellte sie es wieder auf den Tisch.
»Es tut mir leid«, stotterte Wetzon schuldbewußt, ohne zu wissen warum.
»Was kann denn ein Mädchen wie Sie von Alton wollen?« fragte Lydia. »Er muß mindestens dreißig Jahre älter sein als Sie.«
»Ich bin neununddreißig.«
»Trotzdem.« Lydia wanderte durch das Zimmer.
»Er ist ein wunderbarer Mann.« Warum verteidigte sie sich?
Lydia blieb stehen und sah sie an. »Sie können Männer in Ihrem Alter haben.«
»Wie bitte?«
»Sie passen nicht zu uns. Wir haben viel Familiensinn.«
Ganz plötzlich ging ihr ein Licht auf. »Sie lieben ihn.«
Lydias dunkle Augen füllten sich mit Tränen.
Um Gottes willen, dachte Wetzon.
»Wetzon, Schatz, ich habe dich gesucht.« Laura Lee fegte herein wie ein frischer Märzwind.
Lydia wandte sich ab und verließ das Zimmer.
»Mein Gott«, sagte Wetzon diesmal laut, während sie sich auf einen Stuhl fallen ließ und den Kopf in den Händen verbarg. »Das war die Schwester von Sandras Mutter. Ich meine, Altons Schwägerin. Sie ist in Alton verliebt. Ich fühle mich scheußlich.«
»Ach, Schatz, in dem Spiel um Liebe und Ehe gibt es immer einen, der verliert, und einen, der gewinnt. Und es ist der Gewinner, der manchmal der Verlierer ist, wenn du mich richtig verstehst.«
»Allerdings.«
»Also dann, komm mit zurück in den Kampf.«
»Erst wenn du mir verraten hast, wer dieser phantastische Mann ist.«
»Du meinst Paul?«
»Genau den.«
»Versprich, daß du es für dich behältst.«
»Wem sollte ich etwas sagen?«
»Also, Schatz.« Laura Lee bugsierte sie aus der Bibliothek. »Er ist Jesuit.«
»Laura Lee! Ein Priester?«
»Ist das nicht köstlich? Du kannst dir nicht vorstellen, wie sich das auf Sex auswirkt.«
Es war nach Mitternacht, als Alton und Wetzon in seine Wohnung zurückkamen. Alton war überglücklich, Wetzon bedrückt. Izz begrüßte sie, rannte durch das Wohnzimmer, sprang aufs Sofa und machte es sich dort bequem.
»Du bist müde«, sagte Alton. »Es war anstrengend, ich weiß.«
»Ja und ja.« Sie lächelte ihn an. »Ich gratuliere, Großpapa.«
»Macht es dir etwas aus?«
»Nein.«
Er legte einen Arm um sie. »Ich liebe dich sehr. Was hältst du von Juni?«
Sie vergrub ihr Gesicht in seinem Hemd. »Was?«
Er lachte. »Unsere Hochzeit.«
»Juni ist mir recht.«
»Du könntest etwas begeisterter sein.«
»Ich habe mit Lydia gesprochen.«
»Um Himmels willen, was hat sie gesagt? Leslie, Lydia ist ein Fall für den Psychiater.«
»Sie liebt dich, Alton.«
»Ich liebe sie nicht.«
»Hattest du einmal etwas mit ihr?«
»Leslie, es war nichts. Es hat nichts bedeutet. Es war etwas, das nach Tessas Tod passiert ist. Ich habe mich einsam gefühlt, und sie war da.« Er war ziemlich verstimmt.
Sie streichelte seinen Rücken und sagte: »Ist in Ordnung, Alton. Wirklich. Es spielt keine Rolle.«
»Was hat sie zu dir gesagt?«
»Es ist nicht wichtig.« Sie machte sich von ihm los, ging ins Schlafzimmer und setzte sich aufs Bett.
»Doch. Sie hat dich offenbar aus der Fassung gebracht.«
Sie legte sich hin und starrte die Decke an: »Sie hat gesagt, ich würde nicht zu deiner Familie passen.«
Alton legte sich neben sie und hielt sie fest. »Zum Teufel mit dieser Frau«, flüsterte er in ihr Haar. Sie wandte sich ihm zu. »O Kleines«, sagte er.
Etwas später, als sie ihr Make-up vom Gesicht wusch, kam Alton und schaute ihr zu. »Hallo«, sagte sie, als sie ihn im Spiegel entdeckte.
»Hallo, du. Ist alles in Ordnung?«
Sie trocknete ihr Gesicht mit dem Handtuch und klopfte Feuchtigkeitscreme ein. »Sicher.«
Als sie wieder zu Bett gingen, erzählte sie ihm von Susans Testament. »Ich werden das meiste davon verschenken«, sagte sie.
»Was immer du damit anfangen willst, mir ist es recht. Ich kann für dich sorgen.«
Sie konnte diesen Ausdruck nicht ausstehen. »Ich kann mich selbst um mich kümmern. Ich habe eine gutgehende Firma.«
»Gewiß hast du das.« Er sagte es zu schnell.
»Die Polizei hält das mit der Schmucktasche zurück, kein Wort zur Presse oder sonst jemand.«
»Was für eine Schmucktasche?«
»Die Tasche, von der ich dir erzählt habe, die ich in Susans Wohnung gesehen habe. Auf die Innenseite war Lenny/Celia gestickt. Du weißt doch.« Er schien sie nicht gehört zu haben. »Alton?«
»Entschuldige. Mir ist gerade etwas von Lenny Käufers Beerdigung eingefallen. Es war wirklich verrückt, wenn ich jetzt darüber nachdenke. Celia Kaufer ist aufgestanden und hat eine dringende Bitte um Geld an uns gerichtet.«
»Eine Sammlung? Bei einer Beerdigung? Ich dachte, Lenny Kaufer wäre ein wohlhabender Mann gewesen.«
»Das nehme ich auch an.«
»Und seine Frau bettelte bei seiner Beerdigung um Geld? Das paßt nicht zusammen.« Doch während sie es aussprach, ging ihr langsam der Sinn auf. Lenny Kaufer mußte in Bargeld schwimmen, und wo bewahrte man das normalerweise auf?
Das fehlende Stück im Puzzle war, was Poppy Hornberg ihr gesagt hatte. Lenny Kaufer hatte sein Vermögen in seinem Banksafe verstaut.