»Er ist hinüber. Tot!« Aline erschien als erste, dann Kay Lewis, die ausnahmsweise fassungslos aussah. Aline bürstete ihr Cape und wiederholte immerzu: »So viel Blut, so viel Blut.«
»Wie in dem schottischen Stück«, murmelte Wetzon.
Mehr zu sich selbst als zu den anderen sagte Kay: »Ich lebe schon so lange, daß ich dachte, ich hätte alles gesehen.«
Aline starrte sie an. »Ich gehe ins Hotel zurück. Edward, bitte.« Sie winkte einem kreidebleichen Edward und zog das Cape fest um sich. Ihr Gipsverband war blutverschmiert.
»Es wäre besser, die Polizei abzuwarten. Bis jetzt ist sie noch nicht einmal gerufen worden.«
»Doch.«
»Wie denn...? O nein, doch nicht vom Telefon in der Herrentoilette?«
Aline nickte schaudernd.
»So was Dummes.« Wetzon schritt wütend den kleinen Raum ab. »Wer hat angerufen?«
»Fran.«
»Und vermutlich haben sich alle in die Herrentoilette gedrängt?«
Aline nicke wieder. »Komm, Edward.« Sie hielt die Tür auf.
Die kalte Luft war angenehm. Als ob die Natur Vernunft an einen Tatort gebracht hätte. Was für ein absurder Gedanke. Die naßkalte Gasse wurde plötzlich von dem sich drehenden Licht eines Polizeiautos erhellt; Schneeflocken tanzten im Licht der Scheinwerfer. Zwei Polizisten in Uniform stiegen aus dem Streifenwagen und knallten die Türen zu. Sie hielten Aline und Edward an und wechselten ein paar Worte mit ihnen. Aline zuckte die Achseln, und die Polizisten geleiteten sie höflich zum Theater zurück. Nur das Knacken des Funkgeräts störte die Stille in der Gasse.
»Leslie...« Walt stand direkt hinter ihr. »Nimm das.« Er schob etwas in ihre Hand.
»Was...?«
»Steck’s weg. Stell keine Fragen.« Er roch nach Schweiß.
»Aber Walt...« Sie verstaute es in ihrer Handtasche.
»Es war in seiner Hand.« Walt wich zurück und war verschwunden.
Der Schnee fiel wie Puder, und sie dachte wieder an Carlos, der im Remington’s saß und auf sie wartete. Sie sah auf die Uhr. Nicht einmal eins. Der Gegenstand, den Walt ihr zugesteckt hatte, tauchte aus ihrem Unterbewußtsein auf. Sie mußte nicht einmal nachsehen, um zu wissen, was es war. Carlos’ geliebte Panthere-Uhr von Cartier.
Ein weiterer Funkstreifenwagen kam rutschend in der Gasse zum Halt und knallte mit einem dumpf knirschenden Geräusch gegen den rechten Kotflügel des ersten. »Scheiße!« fluchte jemand, während die Tür auf der Fahrerseite aufging.
Konnte Carlos...? Unmöglich! Wetzon entfernte sich weiter von der Tür. Nein. Mort hatte den Tod geradezu angezogen. Er hatte sich jeden — oder fast jeden — zum Feind gemacht.
Twoey stand wartend am Bühneneingang, und er nahm die Sache sofort in die Hand, indem er sich als Produzent vorstellte. Der Produzent? Da Mort aus dem Weg geräumt war, hatte Twoey sich selbst befördert. Hör auf, Wetzon.
Es begann die allzu vertraute Aufgabe, die Anwesenden zusammenzutreiben, um Aussagen aufzunehmen. Twoey war überall, stellte sie der Polizei vor, beruhigte die weinende Witwe, brachte alle zu Plätzen in den vorderen Reihen nahe der Bühne. Aber niemand war fähig, still zu sitzen, ständig sprang jemand auf. Auch Mark war wieder aufgetaucht, mied jedoch Wetzon, wollte nicht einmal ihrem Blick begegnen.
Sunny war wie in Trance, blasser als sonst. Edward tätschelte unaufhörlich Alines gesunde Hand, tätschelte und tätschelte. Sie riß sie weg. »Hör auf damit. Das macht mich verrückt.«
Die Lampen wurden angeschaltet; eine nackte Birne als Arbeitslampe wurde aus den Soffitten herabgelassen. Walt Greenow trat zur Bühne vor und flüsterte Twoey etwas zu.
Ein sehr großer Mann in schwarzem Regenmantel beschrieb einen Bogen um die schräge Fläche und trat an den Rand der Bühne vor. Er blickte nach oben zu den Gittern, die fast tausend Dimmer und nahezu ebenso viele Lampen enthielten, dann hinunter auf die kleine nervöse Gruppe im Zuschauerraum. »Ich bin Detective Willis Madigan, Polizeidienststelle Boston.«
Poppy heulte laut auf.
Wetzon trat an den Bühnenrand vor. »Detective Madigan, lassen Sie bitte einen Arzt für Mrs. Hornberg kommen?«
»Versuchen Sie alle, Ruhe zu bewahren. Wir nehmen Ihre Aussagen so schnell wie möglich auf, dann lassen wir Sie gehen. Ich komme zurück, um mit jedem einzelnen zu sprechen, sobald ich kann.« Madigan sagte nichts von einem Arzt.
Aline stand abrupt auf, trat auf den Gang und fiel in Ohnmacht. Edward stöhnte auf und hielt sich die Hände vors Gesicht. Er rührte sich nicht, um Aline zu helfen.
»Mark, hol Wasser«, sagte Wetzon. Mark sah wie der wandelnde Tod aus, gehorchte jedoch. Im Mittelgang kniend versucht Wetzon, Aline durch gutes Zureden in eine sitzende Stellung zu bewegen. »Kann mir jemand helfen?« Keiner rührte sich. Was für ein Haufen, dachte sie ärgerlich. Narzißten. Alle nur mit sich selbst beschäftigt.
Walt stand über ihr; Twoey kniete neben ihr.
Jemand lachte, hell und hysterisch. Sunny?
Sie stützten die bewußtlose Frau. »Aline, hören Sie mich? Stecken Sie den Kopf zwischen die Knie.« Zwischen deine fetten Grübchenknie, dachte Wetzon. Herrgott, Wetzon, warum macht dein Hirn in einem solchen Augenblick so häßliche Witze?
Mark kam mit einem Pappbecher Wasser zurück, und Alines Augenlider zuckten. Von ihrem Aussichtspunkt auf dem Boden sah Wetzon, daß die Knie von Marks Jeans mit der seltsamen dunklen Rostfarbe getrockneten Blutes beschmiert waren.
Ein Polizist in Uniform mit schmutzigbraunem Haar stellte sich als Officer Bryant vor. Er forderte Nomi, die Beleuchtungsassistentin, auf, mit ihm zum hinteren Ende des Zuschauerraums zu gehen; ein anderer Officer ging mit Walt Greenow in eine der unteren Garderoben. JoJo und Mark sollten als nächste drankommen. Durch Abwesenheit glänzten Peg Button, Carlos, die Hälfte des Ensembles und Sam Meidner. Wahrscheinlich waren alle im Remington’s, möglicherweise auch Sam, falls er tatsächlich aus seinem Hotelzimmer gelockt worden war.
Phil rutschte zwei Plätze weiter, um neben Wetzon zu sitzen. Hatte er das Telefonkabel aus der Wand gerissen? »Was meinen Sie, was nun passieren wird?« fragte er.
»Ich weiß nicht, Phil.«
Fran saß schwer atmend hinter ihnen. »Wir bekommen einen neuen Regisseur. Carlos oder vielleicht Gideon Winkler.« Er hörte sich nicht unglücklich an.
»Verdammt noch mal, was ist denn hier los?«
Plötzlich war es totenstill. Alle Blicke richteten sich auf die Bühne. Phil sprang auf; Fran legte eine Hand auf seinen Arm und zog ihn zurück.
Die Arbeitslampe fing sich in den Augen der Gestalt, machte sie für das Publikum blind, zeichnete sie aber unverkennbar vor dem Hintergrund ab.
Poppy Hornberg stieß einen markerschütternden, lähmenden Schrei aus.