Mit unglaublicher Erleichterung sah Wetzon die Stadt Boston entschwinden, als das Flugzeug abhob und in den Himmel voller Schneewolken stieg. Entkommen. Wie man es auch nennen wollte, sie fühlte sich wieder frei.
In Wirklichkeit gab es Gemeinheit und Hinterhältigkeit nicht nur am Theater, aber es war etwas besonders Bösartiges an dieser kleinen glitzernden Welt. Wetzon hatte immer eine tiefe Sehnsucht nach ihrem Leben am Theater mit sich herumgetragen, doch nun sah sie mit schrecklicher Klarheit, wie gemein das Showgeschäft war, gemeiner, als Wall Street jemals sein konnte. Das Theater war ihre Vergangenheit. Sie würde nie mehr — konnte nie mehr — zurückkehren.
»Wenn Phil Lenny Käufers Enkel ist, dann muß Edna Terrace...«
»Möchten Sie etwas zu trinken?« Der Steward reichte ihnen kleine Tütchen mit gesalzenen Nüssen.
»Ich habe genug Kaffee gehabt«, sagte Sunny.
Wetzon lehnte ebenfalls ab.
»Edna Terrace?« wiederholte Wetzon das Stichwort. Sie riß mit den Zähnen das Tütchen Nüsse auf. Salz, süßes Salz.
Sunny nickte. »Mhm, Edna ist Lenny Käufers Tochter. Lenny habe ich nie kennengelernt. Er war schon tot, als ich kam. Aber jeder hat von ihm gehört. Er ist eine Art Legende.«
Sunny sah Wetzon erwartungsvoll an, also sagte sie: »Ich kannte ihn nicht. Anscheinend hat er nie für dieselben Produzenten gearbeitet, bei denen ich war, zum Beispiel Papp oder Hai Prince oder Stu Ostrow. Die Frauen mochten ihn, und die Männer mochten ihn. Jede Show, die er managte, lohnte die Investition. Ich glaube, ich war nicht mehr am Theater, als er starb. Edna und Phil müssen gut dastehen.«
»Ich weiß nicht. Edna sieht immer schlampig und altmodisch aus. Sie kleidet und verhält sich nicht wie jemand, der Geld hat. Ich habe gehört, die Kassierergewerkschaft hätte ihr ohne entsprechende Ausbildung eine Mitgliedskarte gegeben, nur wegen Lenny.«
Wetzon dachte an den gewaltigen gelben Edelstein, den Edna getragen hatte, als Phil sie vorstellte. Er paßte nicht zu dem Bild, das alle von ihr zeichneten. »Haben Sie den Ring, den sie trug, zufällig gesehen?«
»Nein. Was ist damit?« Sunny fummelte an Papieren in ihrer Handtasche herum und sah Wetzon nicht an.
Wetzon hatte das bestimmte Gefühl, daß Sunny log. Der Ring war nicht zu übersehen. »Er sah aus wie der, den Sie und Carlos mir beschrieben haben, der Ring, den Dilla trug.«
Sunny lächelte sie an. »Oh, Sie müssen sich irren, Leslie.«
Das Flugzeug stieg in einen anderen Luftkorridor über den Wolken auf, und blendende Sonne strömte durch das kleine Fenster. Der Himmel war frostig blau.
»Was springt für Sie dabei heraus, Sunny?« fragte Wetzon nachdrücklich. Es kam schroffer als beabsichtigt heraus.
Doch Sunny war nicht gekränkt. »Sie meinen, wie lange ich mich zufriedengebe, in Morts Schatten zu stehen?«
»Ja.«
»Ich plane das seit Jahren, Leslie. Ich werde mit und ohne Mort Musicals produzieren. Ich habe eine Option auf zwei Vorlagen. Hotshot ist die letzte Show, an der ich als Morts Assistentin arbeite.«
»Wann haben Sie das Mort mitgeteilt?«
»Leslie, Sie wissen ganz genau, daß ich ihm nichts gesagt habe. Ich brauche keinen Ärger.« Sie grinste Wetzon an. »Ich habe bereits mit Carlos darüber gesprochen, daß er bei der einen Show die Regie und Choreographie übernimmt.«
»Wirklich? Dieser Teufel hat kein Sterbenswörtchen verlauten lassen.«
»Ich habe ihm das Buch überlassen. Es handelt von Beziehungen zwischen den Geschlechtern.« Sie schlug ein Bein über das andere, und das Leder knirschte. »Ich schicke Ihnen eine Kopie. Sie könnten dazu beitragen, ihn zu überzeugen...«
»Ich freue mich für Sie beide, wenn etwas daraus wird, aber Carlos hört nicht auf mich.«
»Falsche Bescheidenheit.«
»Kann sein. Was ist mit Mort? Er hat immer noch viel zu sagen.«
»Mort ist kalter Kaffee. Wenn Carlos nicht wäre, gäbe es kein Hotshot. Frank Rich wird kein Blatt vor den Mund nehmen. Mort kann von Glück sagen, wenn er da lebend herauskommt, ganz zu schweigen von den Kritiken in seiner Tasche. Und so wie er und Poppy leben, landen beide im Schauspielerheim in Englewood. Wissen Sie, daß sie sich gestern nach der Voraufführung von einem Wagen nach New York hat fahren lassen, damit sie vor der Premiere zum Frisör gehen kann?«
Wetzon kicherte. Sie konnte sich kein schlimmeres Schicksal ausmalen, als im Schauspielerheim zu landen und Schauspielern zuhören zu müssen, die von ihren ach so tollen Karrieren erzählen. Für das Wall-Street-Volk gab es keine Altenheime. Zu dumm. Wertpapierhändler waren unendlich amüsanter als Schauspieler.
»Der Kapitän bittet Sie, Ihre Plätze einzunehmen und die Sicherheitsgurte anzulegen. Wir befinden uns im Landeanflug auf La Guardia.« Das Flugzeug sank und beschrieb eine Kurve, und sofort flogen Wetzons Ohren zu. Sie sperrte den Mund auf und ließ den Unterkiefer kreisen, und dann waren sie auf der Erde.
Es hatte keine fünfundvierzig Minuten gedauert. Eine Schlange von Fluggästen wartete auf den nächsten Pendler nach Boston. Aus dem Augenwinkel fiel ihr eine Gestalt auf, die in die Herrentoilette ging. Hängende Schultern, hinkend, irgend etwas erinnerte sie an Fran Burke. »Ist Fran in New York?«
»Nicht daß ich wüßte.«
Die Person war so schnell aus ihrer Sicht verschwunden, daß Wetzon nicht sicher war, ob sie überhaupt etwas gesehen hatte.
»Wo wollen Sie hin?« fragte Wetzon. Sie folgten den Wegweisern zu den Transportmitteln.
»Times Square. Ich habe eine Verabredung bei TDF, um zu besprechen, wie man unverkaufte Voraufführungskarten für Hotshot an den TKTS-Stand bringt. Wir haben ihnen einige zu verkaufen gegeben, aber sie hätten gern mehr, als wir ihnen geben wollen. Sie wissen, wie das ist. Alles eine Sache des Verhandelns.«
»Wie das Leben.« Wetzon wechselte die Tasche in die andere Hand. »Ich dachte immer, der TKTS-Stand wäre Beschiß.«
»Warum?«
»Ich bin davon überzeugt, daß die Produzenten die Karten viel zu teuer ansetzen, damit sie den Preis halbieren und am Stand verkaufen können. Ich wette, wenn es keinen Stand für ermäßigte Karten an der 47. Street gäbe, würden die Kartenpreise mindestens um ein Drittel fällen.«
»Sie sind nicht die erste, die das sagt, aber ich bin mir durchaus nicht sicher, ob es stimmt.«
»Es ist unanständig, fünfundsechzig Dollar für irgendeinen Platz im Parkett oder vorne im Rang zu verlangen. Ich wünschte, Sie würden, wenn Sie in die Produktion einsteigen, eine neue Preispolitik prüfen.«
»Ich werde es mir merken«, erwiderte Sunny fröhlich. »Kann ich Sie irgendwo absetzen?«
»Nein, danke. Ich will nach Hause.«
»Welchen Flug nehmen Sie zurück?«
Wetzon hegte nicht die Absicht zurückzukehren. »Ich bin noch nicht festgelegt. Erst möchte ich mit Susan reden.«
Die Taxis standen Stoßstange an Stoßstange aufgereiht. Wetzon und Sunny trennten sich winkend.
Es war ein graues und bewölktes New York, in das Wetzon heimkam, aber es schneite oder regnete nicht.
Sie hatte Angst um Smitty. Smitty. Der Name, den er sich zugelegt hatte, klang männlicher als Mark. Er strengte sich so an, erwachsen zu sein. Irgendwie hatte er herausbekommen, daß Dilla ihn für ihre eigenen Zwecke benutzte. Aber genügte dieses Motiv, um sie zu töten? Verdammt, Sunny Browning hatte ein stärkeres Motiv.
Der Taxifahrer war Inder oder Pakistani und wußte, was er tat. Er raste durch Queens und kam nur einmal auf den rutschigen Stahlplatten der Triborough Bridge ins Schleudern. Abgesehen von dem üblichen Rückstau an den Mautstellen der Brücke war die Straße frei. Selbst auf dem FDR Drive, wo wegen ständiger Reparaturen abwechselnd Spuren gesperrt waren, floß der Verkehr. Die Türme auf Roosevelt Island links von ihr sahen wie Attrappen aus Pappkarton aus, die mitten im East River trieben.
Ein riesiger Möbelwagen parkte vor Wetzons Haus, und es war ein lautstarker Streit im Gange zwischen einem bulligen Lastwagenfahrer, einer in Tränen aufgelöstenjungen Frau mit einem Baby, das in einem Tragetuch über ihrer Brust hing, und Roger Levine, dem Vorsitzenden ,der Eigentümergemeinschaft. Anscheinend wollte ein neuer Mieter einziehen, doch wegen des Streiks sollte es nicht erlaubt werden. W7etzon hatte den Streik ganz vergessen.
Jorge, der Wochenendportier, stand in Jeans und Pullover vor dem Haus und hielt ein Plakat mit der Aufschrift 32B 32 J streik des Gebäudepersonals. Er schien sich mehr für den Streit als für seine Aufgabe als Streikposten zu interessieren. Die Enden seines Schnauzbartes hatte er gewachst, so daß sie sich steif wie Rattenschwänze nach oben bogen.
Mit dem Haustürschlüssel schloß sich Wetzon selbst auf. Grace Elman, eine pensionierte Lehrerin, deren Interesse an dem Gebäude beinahe krankhaft war, saß an einem Tischchen in der Halle. Eine große weiße Blumenschachtel lag auf dem Boden vor ihren Füßen. »Hallo, Leslie.« Sie schaute auf den Koffer. »Mir ist klar, daß Sie sehr beschäftigt sind, aber ich hoffe dennoch, wir können auf Sie zählen, als Wache einzuspringen, solange der Streik dauert. Die freien Zeiten sind im Aufzug angeschlagen, Sie brauchen sich nur einzutragen.«
»Ich versuche es, aber mein Zeitplan ist unregelmäßig. Wie laufen die Verhandlungen?«
»Es finden keine statt. Das Verhandlungsgremium der Gewerkschaft ist über das Wochenende nach Florida geflogen.« Graces Blick fiel auf die Schachtel vor ihren Füßen. »Ach, das ist gerade für Sie gekommen.«
Blumen. In einer langen, schmalen Schachtel. Rosen.
Wetzon nahm die Post der letzten beiden Tage an sich, darunter eine fotokopierte Liste mit Instruktionen zu Dienstleistungen der Hausbewohner. Eine weitere Liste war an die Wand neben dem Aufzug geklebt, und im Aufzug selbst hing eine Liste, in die sich Freiwillige für den Portiersdienst und das Wegschaffen des Mülls eintragen konnten. Da jeder berufstätig war oder kleine Kinder zu hüten hatte, dachte Wetzon, würden sie am Ende jemanden für die Tür anstellen müssen, wenigstens tagsüber. Es erschien ihr unwirtschaftlich, von den Hausbewohnern Wachdienste verrichten zu lassen.
Ihre Wohnung war ein Heiligtum. Es hatte ihre Abwesenheit empfunden. Sie spürte es. Sie war ein ganzes Leben fort gewesen. Es war so gut, zu Hause zu sein.
Doch es war nach zehn, und sie mußte sich beeilen, wenn sie um elf B. B. und Artyre Agron treffen wollte. Sie leerte den Koffer aufs Bett und hängte ihre Kleider auf. Die schmutzige Wäsche wanderte in die Waschmaschine. Sie starrte angestrengt auf die Blumenschachtel und hoffte fast, sie würde verschwinden. Hol’s der Teufel. Sie öffnete die Schachtel. Viele, viele Rosen, langstielig und dunkelrot. Auf der Karte stand: Ich freue mich, nach Hause zu Dir zu kommen.
Wetzons Magen schlug einen Purzelbaum. Alton tat immer genau das Richtige, Dinge, für die eine Frau alles geben würde. Es war so angenehm mit ihm. Er sah gut aus, hatte viel Geld, traf schnell Entscheidungen. Er liebte sie. Und er war gut im Bett. Nicht nach Wichtigkeit geordnet, dachte sie. Sie stellte die Rosen in eine Vase, nahm den Telefonhörer ab und rief ihn an, im Wissen, daß sein Anrufbeantworter sich melden würde. Sie hinterließ die Nachricht, die Blumen seien wunderschön und sie würde ihn später anrufen, sie sei möglicherweise nur den einen Tag in der Stadt. Sie war sich nicht sicher, ob sie ihn an diesem Abend treffen wollte.
Eines mußte sie vor dem Weggehen noch erledigen: Smitty anrufen. Sie tippte Smith’ Nummer ein und hörte das Rufzeichen. Smith weigerte sich, einen Anrufbeantworter anzuschaffen. Wahrscheinlich war sie die letzte in Manhattan, die durchhielt.
Es klickte, dann eine wütende Stimme: »Mom, hör auf, ständig anzurufen!«
»Mark, ich bin’s, Wetzon.«
»Um Gottes willen, Wetzon. Ich habe es nicht so gemeint.« Mark hörte sich verzweifelt an. »Mom hat mich heute morgen schon achtmal angerufen.«
»Sie macht sich Sorgen um dich.«
»Wahrscheinlich.« Mürrisch und verwöhnt, wie er war. »Nur hat sie Mort dazu gebracht, mich fortzuschicken.«
»Nein, Mark, ich war es.«
»Du? Wetzon, ich dachte, du wärest eine Freundin.«
»Das bin ich auch.« Sie mußte sich anstrengen, ihn nicht mit Schatz oder Baby anzureden. »Mark, du warst ein süßes Paket, von Dilla für gewisse Gefälligkeiten an Mort verkauft.«
»Dilla hat es mir gesagt. Sie hat mich ausgelacht, als ich ihr erzählt habe, daß ich Mort liebe und er mich und daß er soviel für mich tun würde.«
»Lieber, Mort hat jahrelang jungen Männern solche Versprechungen gemacht und sie gebrochen.«
Er schniefte ins Telefon. »Ich habe ihn gefragt, nachdem du mir das Donnerstag abend gesagt hattest, und er hat gelacht und gesagt, ich wäre eine Nervensäge und würde ihm ständig im Weg herumlaufen.«
»Mark, essen wir doch zusammen zu Abend, was meinst du?« Um Himmels willen, Mark hat ein Motiv für beide Morde.
»Wie konnte er mir das antun? Ich habe ihn geliebt. Ich würde alles für ihn tun.«
»Mark, mein Lieber, das gehört leider alles zum Erwachsenwerden. Was hältst du davon, wenn ich dich so um sechs abhole und wir irgendwohin gehen und uns amüsieren? Ich möchte nicht, daß du allein bist.«
»Nein, bitte, Wetzon. Verstehst du nicht? Die haben mich reingelegt.« Seine gespannte Stimme kam tot und ausdruckslos über die Leitung zu ihr. »Und sie werden nicht einfach so davonkommen.«