Die Luft war knisternd kalt und so trocken, daß Wetzon spürte, wie sich ihre Gesichtshaut straffte. Sie brauchte die Kälte, um einen klaren Kopf zu bekommen. Susan war so sicher, daß Mort Dilla getötet hatte, doch Susan und Dilla hatten sich offenbar am Freitag furchtbar gestritten, wie ihr Nachbar einen Stock tiefer behauptete.
Auf der Fifth Avenue brauste der Auto- und Busverkehr in stetigem Strom nach Süden, ein Schweif aus Scheinwerfern, die alle in dieselbe Richtung rollten. Taxis spuckten immer noch Fahrgäste aus, aber die Rush-hour war vorbei, und bis auf wenige vereinzelte Bummler auf dem Heimweg waren kaum Fußgänger unterwegs. Nur die Hundebesitzer führten ihre Tiere aus, bei Tag und Nacht, sommers wie winters.
Eine Frau in schwarzem Tuchmantel stieg vor dem Gebäude in ein Taxi. Die Straßenlampen wurden von ihrer Brille reflektiert, als der Portier die Taxitür zuwarf. Über die Schulter rief er Wetzon zu: »Taxi, Miss?«
»Nein, danke.«
Der Central Park auf der anderen Straßenseite bildete eine Oase zwischen East und West Side Manhattans. Quecksilberdampflampen tauchten den Park in den rötlichen Schein eines Zauberreichs inmitten der nächtlichen Stadt.
Das unbeugsame Metropolitan Museum war, obgleich montags geschlossen, beleuchtet wie das Weiße Haus. Wetzon zupfte am Kragen ihres Waschbärmantels und lockerte den grauen Cashmere-Schal am Hals, um ihn über Kinn und Mund zu ziehen. Die Montagabende in New York waren immer ruhig, als müßte sich jeder von dem Schock des ersten Arbeitstages nach dem Wochenende erholen. Gerade als sie die überdachte Haltestelle erreichte, hielt der Bus, der über die 79. Street zur West Side fuhr. Sie warf die Marke in den Schlitz und entschied sich für einen Fensterplatz. Vier Teenager saßen nebeneinander auf der hintersten Bank des Busses und brüllten vor Lachen. Dann verstummten sie kurz, bis eine erneut anfing und die andern einfielen. Die Jahre verstrichen so schnell, dachte Wetzon. In einem Jahr war sie vierzig und...
Als die Ampel umsprang, fuhr der Bus in den Park. Doch Wetzon nahm ihre Umgebung nicht mehr wahr.
Eigentlich gab es eine einfache Erklärung, warum Joel Kidde und der Firmenjet nach Boston flogen. Joel mußte Morts Agent sein. Möglicherweise vertrat er sogar alle Schöpfer der Show. Das kam vor; kleine Agenturen gingen in großen auf, genau wie an der Wall Street. So mußte es sein.
Als Carlos einen Firmenjet erwähnte, hatte sie irgendwie vorausgesetzt, daß es sich um den der Plattenfirma handelte. Setze nichts voraus, Wetzon. Setze nie etwas voraus.
In Ordnung, damit war Joel Kidde abgehakt. Weiter zur nächsten Kuriosität. Warum hatte Susan sich so darüber aufgeregt, daß Wetzon den kleinen Beutel voller Schmuck zu sehen bekam? Und warum hatte sie ihn danach unter der Spüle versteckt? Waren Banksafes aus der Mode gekommen? Und wer war Lenny? Wer war Celia? Der einzige Lenny, den Wetzon im Showbusineß kannte, war Leonard Bernstein, den jedermann Lenny nannte, und obwohl er Dilla wahrscheinlich gekannt hatte, gab es keinen Grund für sie und erst recht nicht für Susan, Schmuck zu haben, der ihm gehörte. Außerdem war er tot. Und Lenny Bernstein war mit Felicia verheiratet gewesen, die ebenfalls tot war.
Ein rauhes Husten in der Nähe riß Wetzon in die reale Welt zurück. Die Grippe grassierte diesen Winter. Neben ihr saß eine vornehme Dame in einem Zuchtnerzmantel mit passendem Hut. Sie hustete in ein Taschentuch. »Du meine Güte«, keuchte sie. »Entschuldigen Sie.« Sie klappte das Buch zu, in dem sie las — Sexuelle Perversionen der Frau—, und stand auf. Der Bus schaukelte auf seinem kurvenreichen Weg durch den Park und kam an der 81. Street und Central Park West heraus, wo die hustende Frau, die vier Mädchen und die meisten anderen Passagiere ausstiegen.
Das Museum für Naturgeschichte und das Planetarium, ebenfalls montags geschlossen, ragten wie dunkle Wachposten auf, die den Eingang zur West Side hüteten.
Wetzon blieb bis zur 79. und Broadway im Bus. Dann stieg sie aus und ging zu Fuß zur 73. Street, wo Sonya in einem schäbigen Sandsteinhaus nahe der West End Avenue ihre Praxis hatte.
Im Unterschied zur Fifth Avenue herrschte Leben auf dem Broadway. Es war die Hauptdurchgangsstraße der rund um die Uhr betriebsamen Upper West Side.
Wetzon betrat den Fairway Market, wich einer weißhaarigen Frau mit einem Einkaufswagen aus und schaffte es, sich von einer uralten Frau, die ihre Gehhilfe wie einen Sturmbock handhabte, auf den Fuß treten und anschubsen zu lassen. Der Stapel der Granny-Smith-Apfel war an die zwei Meter hoch. Obwohl die Versuchung groß war, einen in Augenhöhe herauszuangeln, schreckte die Vision einer Apfellawine in diesem überfüllten Markt sie ab. Statt dessen reckte sie sich auf Zehenspitzen — schließlich war sie Tänzerin — und nahm einen von oben. Dann holte sie sich noch einen Joghurt mit Kaffeegeschmack. Die winzige Menge Koffein im Joghurt würde ihr den kleinen Extraschub geben, um die Sitzung bei Sonya durchzustehen. Als sie sich mit dem Joghurt in der Hand aufrichtete, wurde sie von einem Stock in einer knotigen Hand heftig in die Wade gestoßen. Hinter ihr stand ein winziger alter Mann mit fleckigem weißem Backenbart, der versuchte, Wetzons Platz an der Kühltheke einzunehmen.
»Entschuldigen Sie bitte«, sagte Wetzon. »Kann ich Ihnen etwas herausholen?«
»Geh mir einfach aus dem Weg, Mädchen«, fauchte der Mann.
Schockiert trat Wetzon beiseite. Sie hatte vergessen, wie aggressiv die alten Leute bei Fairway waren. Sie ging auf die Kassen zu und wollte sich gerade in eine Schlange einreihen, als sie von einem Einkaufswagen, den eine kleine alte Frau in Sturmmantel und schmutzigen weißen Reeboks schob, brutal beiseite gestoßen wurde.
»Ich habe es gesehen«, schrie die alte Frau. »Sie haben versucht, mich aus der Schlange zu drängen! Haben es alle gesehen? Miss Piß Elegant hier hat versucht, sich vorzudrängeln!«
»Ich habe nichts dergleichen getan«, sagte Wetzon empört. »Sie haben mich gestoßen.«
»Wen interessiert das? Sie halten uns auf«, riefjemand. Hinter Wetzon hatte sich schon eine lange Schlange ungeduldiger Käufer gebildet.
»Sie waren es nicht.« Eine Frau in einem grellen rosa Mantel, die einen Plastikkorb voller Lebensmittel trug, stand hinter Wetzon. »Ich kaufe immer hier ein, und jedesmal werde ich von einem dieser verrückten Senioren über den Haufen gerannt oder beschimpft.«
»Danke.« Wetzon flüsterte ein inbrünstiges Gebet, daß sie nie so ein alter Brummbär werden möge. Sie bezahlte Apfel und Joghurt und ging das kurze Stück zu Sonyas Haus weiter, wo sie die abgestoßenen und gesprungenen Steinstufen zur Haustür hinaufstieg. In dem winzigen Vorraum läutete sie an der mit >4< bezeichneten Klingel und schaute, während sie wartete, durch die Glasscheibe auf die 73. Street hinaus. Zwei aus verschiedenen Richtungen kommende Frauen blieben vor dem Haus stehen und plauderten miteinander, während sich ihre Hunde, ein angeleinter Dackel und ein Weimaraner ohne Leine, beschnüffelten.
Wetzon drückte noch einmal auf die >4<. Endlich knackte die Sprechanlage. »Ja?«
»Leslie.« Wetzon legte die Hand an die Tür und wartete auf den Summer, dann drückte sie die Tür auf.
Wetzon bemerkte sofort, daß das alte Sandsteingebäude einen neuen Besitzer hatte. Das Gebäude war so heruntergekommen gewesen, als sie zum letztenmal hier war, und Sonya war nur wegen der niedrigen Miete hiergeblieben. Jetzt sah der Flur beinahe elegant aus mit dem neuen Moosröschen-teppich und einem gepolsterten viktorianischen Sofa. In der Ecke an der Treppe stand ein alter Ahornschaukelstuhl. Alte Kostümdrucke in schönen Rahmen hingen an den Wänden. Der Moosröschenläufer lief, unter Gummileisten auf jeder Stufe, die ganze Treppe hoch.
Sonyas aus zwei Räumen bestehende Praxis befand sich im ersten Stock an der Rückseite. Das Haus war immer noch schäbig, doch im Vergleich zu früher von qualitätvoller Schäbigkeit.
Sonya war großgewachsen und breitschultrig. Sie trug ein schwarzes Trikot, schmalgeschnittene schwarze Hosen, einen langen, lose fallenden roten Blazer und niedrige Boots aus Schlangenleder. Ihr kurzes schwarzes Haar hatte sie mit einer Welle zur Seite gekämmt, die dunklen Augen waren mit Mascara und grauem Lidschatten betont. Große Ohrringe rahmten ihr Gesicht.
»Menschenskind, Sonya«, rief Wetzon, »du siehst jedesmal, wenn ich dich sehe, jünger aus. Jetzt besitzt du auch noch die Frechheit, mädchenhaft auszusehen.«
»Mädchenhaft? Ich?« Sonya lachte. Sie hatte ein kehliges Lachen, wie man es selten hörte und das ansteckend wirkte.
Das Zimmer hatte eine an die sieben Meter hohe Decke, einen Deckenventilator und wunderbare alte Stukkaturen. Kleine Gymnastikgeräte — Bälle und Gewichte — lagen in jeder Ecke und auf dem Sims eines Kamins, der so hoch wie Wetzon war. Zwei Übungsmatten standen zusammengerollt hochkant in einer Ecke.
Wetzon hängte Mantel und Hut auf den frei stehenden Garderobenständer neben Sonyas schwarzen Persianer und setzte sich auf das niedrige gestreifte Sofa. Sie holte den Apfel und den Joghurt aus der Papiertüte, legte den Apfel auf den Bambustisch neben sich und riß den Joghurtbecher auf. »Ach, ich habe keinen Löffel mitgenommen.«
Sonya ging nach nebenan und kam mit einem Plastiklöffel zurück, reichte ihn Wetzon und setzte sich ihr gegenüber auf einen der zwei Bauhausstühle aus Metall und Leder. Sie betrachtete Wetzon eine Weile. »Du hast die Haare abgeschnitten.«
Wetzons Finger flogen unwillkürlich zu der winzigen Linie in der Kopfhaut. Sie zwang sich, die Finger dort wegzunehmen, und tauchte den Löffel in den Joghurt.
»So...« begann Sonya nach einer Weile lächelnd. »Möchtest du mir erzählen?«
»Es ist zu dumm.« Ihre Hände preßten den leeren Joghurtbecher zusammen.
»Warum sagst du das?«
»Na ja, ist es nicht dumm, zu wissen, warum man Angst hat, aber zugleich zu wissen, daß alles in Ordnung ist, jetzt, wo die Gefahr vorbei ist? Man muß sein Leben weiter leben, nicht wahr?«
»Leslie.« Sonyas Stimme war weich, beinahe hypnotisierend. Wetzon mußte sich anstrengen, um sie zu hören. Oder war es möglich, daß sie sie nicht hören wollte? »Erzähle mir von der Gefahr«, drängte sie. »Warum hast du Angst?«
Wetzon seufzte. Sie legte den zerdrückten Becher auf den Tisch. »Letztes Jahr. Es ist letztes Jahr passiert.« Ihre Finger berührten die winzige Narbe. Sie wollte weitersprechen und konnte nicht, weil sie den Kloß im Hals spürte.
Sonya wartete. Wetzon starrte auf den Bambustisch und die gelbe Schachtel mit Papiertüchern für Patienten, die weinten. Sie würde bestimmt keine von denen sein. »Ich wurde angeschossen. Hier.« Sie neigte den Kopf, um es Sonya zu zeigen. »Es war nichts weiter.«
»Angeschossen zu werden ist kaum >nichts weiter«, Leslie. Wie ist es dazu gekommen? War es ein Unfall?«
»Jemand hat versucht, mich zu töten. Es ist allerdings nichts passiert, Sonya. Ich hatte Glück. Ich kam darüber weg. Dann fingen diese Träume an. Bevor es passierte, hatte ich oft die wunderschönsten Träume. Smith behauptete, sie wären parapsychologisch.«
»Du bist noch im Headhunter-Geschäft?«
»Ja.«
»Erzähle weiter, Leslie.«
»Also zuerst hatte ich überhaupt keine Träume, und dann ging es los, daß ich jede Stunde oder so aufgewacht bin, und danach hat es mit dem Traum angefangen.«
»Erzähle mir davon. Ist es immer der gleiche?«
»Ja. Erst sehe ich ein Feuer blitzen und habe Angst und kann mich nicht bewegen, dann der Geruch nach Pulver, dann ein brennender Schmerz im Kopf, und ich wache in Schweiß gebadet und zitternd auf. Ich habe gehört, es gibt sogar einen Namen dafür: posttraumatisches Streßsyndrom.«
Sonyas Ausdruck blieb unverändert. »Wie lange geht das nun schon?«
»Vier Monate.«
»Leslie...«
»Aber Sonya, bis Samstag nacht bin ich gut damit zurechtgekommen.«
»Was hat sich geändert?«
»Ich bin zur Generalprobe von Hotshot gegangen — Carlos’ neues Musical. Sie bauen jetzt, während wir hier sprechen, in Boston auf. Als wir ins Theater kamen, fanden wir Dilla Crosby. Sie war erschlagen worden.« Sie erzählte Sonya, wie sie Dilla gefunden hatten und was unmittelbar danach passiert war.
»Die meisten von diesen Leuten kenne ich«, sagte Sonya, als Wetzon fertig war.
»Hast du Dilla gekannt?«
»Flüchtig. Wir waren vor einer Ewigkeit einmal im selben Jazzkurs. Wie hat es auf dich gewirkt, als Dilla gefunden wurde?«
»Ich war aufgeregt, aber so wie jeder, wenn er eine Leiche finden würde, und ich habe Dilla nicht gemocht und hatte sie seit Jahren nicht gesehen. Aber dann, Sonya, hatte ich den Traum in der Nacht und wachte mit scheußlichen Schmerzen in der Brust auf. Ich konnte nicht atmen. Ich konnte nicht einmal stehen. Und Schweißausbrüche und Schüttelfrost und furchtbare Angst. Ich dachte, ich würde sterben. Ich dachte, es kämen Leute, die mich töten würden. Es war verrückt. Wenn Silvestri nicht angerufen hätte und dann...« Wetzon zog die Schultern hoch. »Aber wahrscheinlich wäre alles auch so in Ordnung gewesen. Es wäre auch ohne ihn vorbeigegangen.«
Das Glockenspiel in der alten holländisch-reformierten Kirche hinter Sonyas Haus begann einen Choral zu spielen, den Wetzon erkannte, dessen Worte ihr jedoch nicht einfielen. Ein Danksagungschoral. Ohne bestimmten Grund füllten sich ihre Augen mit Tränen. Sie preßte die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf.
Sonya wartete geduldig. Nach mehreren Minuten soufflierte sie: »Aber Silvestri ist gekommen und hat dir geholfen?«
»Ja.« Wetzons Hände wollten nicht stillhalten. »Wir sind nicht mehr zusammen, Sonya. Es ist aus. Wenigstens bemühe ich mich, daß es aus ist. Ich kenne einen andern. Es ist eine viel bessere Beziehung.«
»Warum sagst du das?«
»Weil Alton so nett ist und nicht wegen allem, was ich tu, mit mir streitet.«
»Das gefällt dir?«
»Ja, selbstverständlich.« Wetzon konnte die Gereiztheit in ihrer Stimme nicht unterdrücken. »Es ist leichter, mit Menschen zusammenzusein, die — ach, egal. Ich will mich nicht auf die Unterschiede zwischen Alton Pinkus und Silvestri einlassen und warum der eine besser für mich ist als der andere.«
»Alton Pinkus? Der Gewerkschaftsführer?«
»Ja. Und sprich es bitte nicht aus. Ich weiß. Er ist zwanzig Jahre älter als ich.«
»In Ordnung. Was passierte Samstag nacht, oder war es inzwischen Sonntag morgen?«
»Silvestri beruhigte mich, und dann mußte ich versprechen, daß ich mit jemandem reden würde... Deshalb bin ich hier.«
»Na, der Punkt geht an ihn.« Sonya lächelte. »Gibt es noch etwas anderes, was dich beunruhigt?«
Wetzon sah Sonya mißtrauisch an. »Warum fragst du?«
»Denk darüber nach. Hab es nicht so eilig. Wir haben noch ein bißchen Zeit. Wie kommst du mit deiner Teilhaberin aus?«
»So wie es immer sein wird, schätze ich. Smith ist oberflächlich und treibt mich zur Raserei, aber uns verbindet eine Geschichte. Und im Geschäft arbeiten wir gut zusammen. Von meinem Standpunkt aus ist ihr Privatleben, abgesehen von ihrem Sohn Mark, eine Katastrophe, aber sie würde über mich dasselbe sagen, nur ohne das Kind.«
»Ihr Privatleben?«
»Sie hat einen wunderbaren Mann wegen dieses schmierigen Anwalts, Richard Hartmann, abserviert.«
»Ach?« Für den Bruchteil einer Sekunde verriet sich Sonya. Feministinnen haßten Richard Hartmann. Er hatte einen Vergewaltiger und Mörder verteidigt, er quälte immer das Opfer, das nicht für sich sprechen konnte, und bekam seinen Mandanten frei. Und Sonya war Feministin.
»Ja. Ich habe mich immer gefragt, was für eine Frau sich zu so einem widerlichen Kerl hingezogen fühlen könnte...« Wetzon erinnerte sich an seinen Körper, der sich an sie drückte, seine Hände an ihrer Kehle, seine Drohung. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten.
»Leslie.« Sonyas beruhigende Stimme durchdrang die intensive Erinnerung. »Ist zwischen dir und Richard Hartmann etwas vorgefallen?«
»Wie kommst du darauf?« Wetzon funkelte Sonya an, dann senkte sie den Blick und preßte die Hände zusammen.
Sonya zeigte keine Reaktion. »Warum erzählst du mir nicht davon?«
Minuten verstrichen. Jemand begann, in der Wohnung über ihnen Möbel zu rücken. Die Dielen protestierten mit einem menschenähnlichen Ächzen.
Wetzon räusperte sich. »Ich habe Papiere gefunden, die beweisen könnten, daß Hartmann Geld wäscht. Smith begann gerade, mit ihm anzubändeln, also habe ich sie gewarnt, es nicht zu tun. Ich wollte alles, was ich gefunden hatte, zu einer stellvertretenden Staatsanwältin bringen, die ich kennengelernt hatte. Aber Smith hat es ihm erzählt...«
»Sie hat es ihm gesagt?« Sonyas Stimme schwankte, und Wetzon hob den Kopf.
»Ich weiß, wie sich das anhört, aber Smith liebt ihn. Ich konnte nicht damit zum Staatsanwalt gehen, solange sie Teil seines Lebens ist.«
»Warum nicht, Leslie?«
»Sonya, sie hat so wenig, und ob du es glaubst oder nicht, sie ist zart besaitet. Ich mag sie.« Sie biß sich auf die Lippe. »Und ich fürchte mich vor Hartmann. Er hat mich bedroht — körperlich — , und feige, wie ich bin, habe ich nichts unternommen. So liegen die Beweise gegen ihn in meinem Banksafe und altern vor sich hin. Wie steht deine hochmoralische Freundin Leslie Wetzon da?«
»Sei nicht so hart zu dir, Leslie. Du bist keine Superfrau.«
»Nein? Und genau das habe ich die ganze Zeit geglaubt.« Wetzon seufzte.
»Möchtest du wiederkommen und mit mir reden, nächste Woche um dieselbe Zeit?«
»Oh. Du möchtest mich wiedersehen? Ich dachte, einmal wäre genug.«
»Leslie, es ist mir ernst. Das alles geht nicht über Nacht weg, nur weil du es einer Therapeutin erzählt hast. Möchtest du dir selbst helfen oder nicht?«
»Hm, okay. Wenn du meinst. Ich möchte nicht, daß sich Samstag nacht wiederholt.«
»Gut. Dann sehen wir uns nächste Woche?«
Wetzon stand auf. »Danke, Sonya.« Die fünfzig Minuten waren schneller vergangen, als sie gedacht hätte. Sie schlüpfte in den Mantel und steckte den ungegessenen Apfel in die Tasche. Sonya stand an der Tür, um sie zu verabschieden. Wetzon fragte: »Bin ich deine letzte Patientin?«
Sonya nickte; eine leichte Röte färbte ihre Wangen.
»Also dann gute Nacht.«
Wetzon ging die Treppe mit einem Gefühl hinunter, als wäre ihr eine kleine Last von den Schultern genommen, doch sie konnte nicht sagen, warum. Sie dachte wieder über ihr Leben nach und ging dabei ziemlich kritisch mit sich ins Gericht, deshalb sah sie den Mann nicht gleich. Sie ging aus der Haustür und fiel beinahe über ihn. Er saß auf der steinernen Balustrade und rauchte. Alles, was man sehen konnte, war der winzige leuchtende Punkt seiner Zigarette in der Dunkelheit. Als er sie sah, stand er auf, stand drohend über ihr, drängte sie gegen die Tür zurück.