Wetzon erinnerte sich später nie so ganz, wie sie Carlos retteten. Woran sie sich deutlich erinnerte, war Smith’ schriller Schrei, Joels verzweifelter Kampf mit Mort, mahnende Rufe von jemandem, »nein, nein!«, und Carlos’ strampelnde Beine. Und die scharfe Kälte. Etwas später kam ihr der heimliche Verdacht, daß es Smith gewesen war, die Mort einen kräftigen Schlag auf seine vorige Wunde gab, worauf er Carlos gerade lange genug losließ, daß sie selbst Carlos am Gürtel fassen und hineinziehen konnte. Sie hatte eine vage Erinnerung, ihn schlotternd und plappernd in den Armen gehalten zu haben. »Gut in Form, gut in Form.«
Sie sah das Blut aus Carlos’ Gesicht weichen, und er sackte zusammen und riß sie mit auf den Teppich. Mort trampelte brüllend durchs Zimmer, hielt sich den Kopf an der Seite, wies Joel ab, der hilflos auf ihn einredete: »Na, komm, beruhige dich, alter Kumpel!«
»Kann mal jemand das verdammte Fenster zumachen!« hörte Wetzon sich schreien. Sie hielt Carlos in den Armen, drückte seinen Kopf an die Brust.
»Häschen, du zerreißt mir das Trommelfell«, krächzte er. Langsam bekam sein Gesicht wieder Farbe.
Undeutlich hörte Wetzon jemanden an die äußere Tür hämmern. Niemand im Zimmer nahm es zur Kenntnis.
Das Fenster wurde mit einem lauten Knall geschlossen, und die Gardinen und Vorhänge wurden von jemandem mit langen, schlanken Beinen in einer Donna-Karan-Strumpfhose zugezogen. Smith.
»Na«, sagte Smith, während sie sich die Hände abwischte, »unterhaltsam ist das Showbusineß wirklich.« Sie schlenderte auf die Tür zu. »Komme gleich«, rief sie mit Schwung in der Stimme, als wäre alles in bester Ordnung und sie empfinge Gäste.
Carlos rappelte sich auf die Knie hoch und schüttelte den Kopf wie ein angeschlagener Boxer.
Wieder hämmerte es gegen die Tür. »Was nicht in Ordnung da drin?«
Irgendwo in der Nähe hörte Wetzon eine andere Tür zugehen. Joel war es irgendwie gelungen, mit viel Geduld und »alter Kumpel« Mort ins Schlafzimmer zu schaffen. Als sie sich umschaute, stellte sie fest, daß sie sich in einem großen Wohnzimmer mit mehreren Sofas und Sesseln befanden.
Smith stellte einen umgekippten Stuhl auf, rückte einen Beistelltisch gerade. Das hektische Klopfen an der Tür hielt an. Smith schaute sich prüfend im Zimmer um. Als sie die Doppeltüren aufmachte, waren Wetzon und Carlos auf den Beinen, und das Zimmer sah aufgeräumt aus. »Ja?« fragte Smith, die Unschuld in Person.
Sicherheitsdienst des Hotels — ohne jeden Zweifel. Ein Mann mit breitem Brustkasten und schlechtgelauntem Blick musterte sie mißtrauisch. Er trug einen braunen Anzug, und für den Laien hätte er als Geschäftsmann durchgehen können. Für Wetzon sah er wie ein Bulle aus. Eine Art irischer Detective Morgan Bernstein. »Uns wurde eine Störung gemeldet...«
Ein seltsames leises Geschluchze drang durch die Schlafzimmertür.
Smith lachte glockenhell auf. Klingelingeling, dachte Wetzon. »O nein, Mr...?« Smith unterbrach sich und klapperte mit den Augendeckeln. Wie kam sie auf die Idee, so etwas Durchschaubares würde ihn ablenken?
»Dolan.« Der Sicherheitsmann war sehr beeindruckt.
»Sehen Sie, Mr. Dolan, wir haben gerade eine kurze Szene durchgespielt.« Sie schlang einen Arm um Carlos und Wetzon. »Nicht wahr, ihr zwei?«
»Genau«, stimmte Wetzon zu. Sie stupste Carlos leise mit der Hüfte.
»Oh, genau.« Seine Stimme war dünn, und er beobachtete Smith argwöhnisch.
»Danke fürs Nachsehen, lieber Mr. Dolan. Sie wissen gar nicht, wie unglaublich sicher ich mich durch Sie hier im Ritz fühle.« Smith strahlte Dolan an. Der arme Mann machte ein ganz verblüfftes Gesicht, als sie die Tür vor ihm zumachte.
Das Schluchzen wurde lauter. Smith blickte auf die Schlafzimmertür. »Es ist mir zuwider, einen erwachsenen Mann weinen zu hören«, sagte sie.
»Was hat der Barrakuda vor?« zischte Carlos zu Wetzon. »Nichts Gutes, soviel steht fest.«
»Sie hat dir immerhin geholfen«, flüsterte Wetzon ihm ins Ohr.
»Eben, sie muß einen Hintergedanken haben.«
»Stimmt genau«, sagte Smith ungeheuer gutgelaunt. »Aber ein wenig Dankbarkeit wäre ganz nett.« Sie betrachtete kritisch ihre Maniküre. »Ich habe nur meine Investition geschützt.«
»Du meinst, unsere Investition.«
»Egal.« Smith runzelte die Stirn. »Was geht dort vor?« Sie deutete auf die geschlossene Schlafzimmertür.
»Das ist Mort, der einen Zusammenbruch hat«, sagte Carlos. »Und einen Hauch von Dankbarkeit von mir für dich, altes Haus.« Er verneigte sich tief.
Smith betrachtete ihn mit zusammengekniffenen Augen, als wolle sie herausfinden, ob er sich über sie lustig mache, dann kam sie anscheinend zum gegenteiligen Schluß, denn sie bedachte ihn mit einem Lächeln mittlerer Herzlichkeit. Wetzon war sich nicht so sicher. Sie nahm Carlos’ Hand. »Verschwinden wir hier. Ich brauche dringend einen Kaffee.«
Sie hakte sich an seinem zitternden Arm unter, und gemeinsam gingen sie über den Flur zum Aufzug, wo Smith ungeduldig auf den Abwärtsknopf drückte. Dolan war nirgendwo zu sehen.
Carlos räusperte sich vorsichtig, als würde ihm das Sprechen Schmerzen bereiten. »Ich muß zum Theater rüber.« Seine Hand spielte nervös an dem nackten Handgelenk — wo war die Panthere? Er machte immer noch einen mitgenommenen Eindruck, die Gesichtshaut gespannt über den Backenknochen. Ein Puls zuckte in seinem Augenlid.
»Solltest du nicht etwas essen?« Sie machte sich Sorgen um ihn.
»Ich hatte einen Kaffee, bevor Mort durchgedreht hat.«
»Das ist kein Frühstück. Du hast zuviel Adrenalin ausgeschüttet. Das mußt du füttern.«
»Ach, Häschen.« Er drückte sie an sich und gab ihr einen Kuß auf die Stirn. »Sieh mich nicht so böse an. Wir wollen doch keine Falten.«
Der Aufzug hielt. Ein mit drei dicken Koffern beladener Gepäckwagen, ein Page auf der einen Seite und ein Händchen haltendes junges Paar auf der anderen ließen ihnen in der Mitte der Kabine einen kleinen Platz. Der Aufzug sank zur Halle, die beförderten Personen stumm, alle in die eigenen Gedanken versunken.
Der mäßig besuchte Coffee-Shop war eigentlich ein nicht ganz so förmlicher Speiseraum, der zum Frühstück weiß gedeckt war. Strahlender Sonnenschein strömte durch die Fenster zur Newbury Street herein. An einem Vierertisch saß Twoey ganz allein mit Sunny Browning.
»Hm«, sagte Smith. Sie wedelte mit den Fingern nach Twoey, der sie jedoch nicht sah.
»Wir Glücklichen«, sagte Wetzon aus dem Mundwinkel zu Carlos. Sie wurden an den Tisch neben Sunny und Twoey ge: führt, die die Köpfe zusammensteckten und irgendein Diagramm studierten, das Sunny auf Hotelpapier gezeichnet hatte.
»Der Kuchen wird bis zur Tilgung so verteilt«, erklärte Sunny gerade. »Und nach der Tilgung«, sie zog einen anderen Kreis, »so.«
Smith räusperte sich diskret.
»Xenie!« Twoey sprang auf, das Gesicht knallrot.
Smith schenkte ihm ihr süßestes Lächeln. »Twoey, Herzblatt, wie schön, dich zu sehen.« Sie zog einen Stuhl vor und setzte sich. »Tausend Dank, ich setze mich gern zu dir.«
Sunnys Gesicht erstarrte im Schrecken. Wetzon kehrte ihr den Rücken zu, um ihr Lachen zu verbergen. Smith war im Begriff, den Brunnen zu vergiften. Wetzon setzte sich neben Carlos, beide möglichst weit vom Nachbartisch entfernt.
»Gut so, Schatz«, murmelte Carlos, während er ihr Bein tätschelte. »Jetzt ist der Barrakuda wieder ihr altes Ich. Einen Augenblick lang war sie mir ganz fremd geworden.«
»Willst du mir berichten, was in Morts Zimmer passiert ist?«
»Alles zu seiner Zeit, Liebes.« Mit unruhigen Händen schlug er den Globe auf, den er in der Hotelhalle im Vorbeigehen mitgenommen hatte. »Reizend.« Er blätterte die Zeitung bis zum Feuilleton durch und reichte sie ihr.
Das erste, was Wetzon sah, war ein zweispaltiges Bild von Mort mit seiner karierten Mütze. Die Schlagzeile lautete:
MORT HORNBERG, DIE ONE-MAN-BAND
Der Artikel beschrieb über mehrere Abschnitte, wie Mort ganz allein Hotshot auf die Beine gestellt hatte. Erst im letzten Absatz wurden andere — Carlos, Aline und Sam — erwähnt.
Sie gab Carlos die Zeitung zurück. »Wie großzügig von Mort, euch alle einzuschließen. Noblesse oblige.«
»Ja, ein richtiger Prinz.« Er las den Artikel zum zweitenmal, als fiele es ihm schwer, es zu glauben.
»Nein, das bist du, mein Lieber.« Sie nahm ihm die Zeitung weg und ließ sie unterm Tisch auf den Boden fallen.
Sie bestellten große Gläser Orangensaft, eine Kanne Kaffee und einen Korb Muffins.
»Werden die Strapazen der Probevorstellung zuviel für den großen Impresario?« fragte Wetzon, als die Kellnerin gegangen war.
»Bitte?« Er sah sie an, dann nahm er ihre Hand. »Tut mir leid, Häschen. Ich habe mich gerade gefragt, ob es das alles noch wert ist.«
»Ich glaube nicht, aber ich hänge auch nicht so drin, Schatz. Das Theater ist nicht mehr mein Leben. Außerdem weißt du ganz genau, daß die Liebe über alles siegt, wenn Hotshot nach New York kommt und Frank Rich eine wunderbare Kritik schreibt und du groß herauskommst. Dann ist das alles vergessen.«
»Wie recht du hast, aber vor einer kleinen Weile ist mein ganzes Leben an mir vorbeigezogen, und es hat mich, um die Wahrheit zu sagen, ganz schön aufgerüttelt.«
»Aber Carlos, so ist Mort. Du brauchst nie mehr mit ihm zu arbeiten. Genaugenommen kannst du dich einer langen Reihe von Personen anschließen, die sagen, sie werden nie mehr mit ihm arbeiten. Einige davon genau in dieser Stadt, die genau in dieser Show mitwirken. Du kannst darauf wetten. Es gibt immer noch einige sehr nette Leute beim Theater.«
»Klar.« Er grinste sie an und war schon wieder quietschvergnügt. »Mir fallen auf Anhieb ein paar ein.«
Als ihr Frühstück kam, fielen sie heißhungrig darüber her; Tänzer waren immer hungrig.
»Du wußtest, daß Mort verrückt ist. Er war schon immer verrückt.« Wetzon schüttete ihr Heer von Vitaminpillen auf die leinene Tischdecke und begann sie zu schlucken, eine nach der andern.
»Sag mal, Häschen, meinst du wirklich, daß die helfen?« Er starrte auf den Pillenberg. »Vielleicht sollte ich auch damit anfangen.«
»Erst wenn ich die geschluckt habe, fühle ich mich normal.«
»Dann vergiß es.« Er bestrich einen Heidelbeermuffin dick mit Butter. »Da wir gerade davon sprechen: Der Versuch, den Anschein zu wahren, daß er ein Hetero ist, das ist es, was ihn so verrückt macht. Jemand sollte ihn outen!«
Wetzon verschluckte sich an der letzten Pille. »Du wirst doch nicht...«
Carlos legte eine Hand auf die Brust und sagte engelgleich: »Ich nicht, Schatz. Niemals.«
Smith lachte und lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Nachbartisch. Sunny lächelte aufgesetzt. Twoey strahlte, und die gute alte zuverlässige Smith war die Liebenswürdigkeit in Person.
»Der arme Trottel«, sagte Carlos.
»Genug davon. Sag mir jetzt, was oben passiert ist.«
»Nichts furchtbar Interessantes.« Er trank einen Schluck Kaffee.
»Erzähle.« Sie zeigte streng mit dem Finger auf ihn.
»Ich habe Angst.«
Wetzon blickte finster.
»Also gut. Mort hat gesagt, er möchte vielleicht Gideon hinzuziehen, um das Stück zu überarbeiten. Wir hatten eine kleine Diskussion, wie und wo wir unseren Anteil beschneiden sollten, damit etwas für ihn abfällt.«
»Wie ich dachte. Und Joel, der euch drei vertritt, fungierte als Vermittler, richtig?«
Carlos nickte.
»Smith meint, es wäre ein Interessenkonflikt, daß Joel alle drei in dieser Situation vertritt.«
Carlos zog anmutig eine Braue hoch. »Ich hasse es, wenn der Barrakuda recht hat.«
»In Geschäftssachen ist sie sehr gerissen.«
»Joel — der eindeutig versucht, mich hinauszudrängen — überließ Mort größtenteils das Reden. Mort hat gesagt, er meint, der größte Schnitt sollte bei mir gemacht werden, weil ich nur der Choreograph wäre und jeder wüßte, daß Choreographen am wenigsten zur Kasse beitragen.«
»Klar, wie Fosse und Bennett und Robbins.« Wetzon war wütend.
»Und vergiß Gower nicht.«
»Wie konnte ich? Was hast du geantwortet?«
»Ich habe Mort gesagt, ich hätte nichts dagegen, wenn Gideon wirklich etwas beitragen und jeder einen kleinen Prozentsatz herausrücken würde, aber es könnte auf keinen Fall nur mich betreffen.«
»Und dann?«
»Er tobte, er wäre von Undankbaren umgeben, die es am Theater zu nichts gebracht hätten, wenn er nicht wäre.«
»Nicht zu fassen!«
»O doch, genau so.«
»Er beginnt, seinen Zeitungsausschnitten zu glauben.«
»Dasselbe habe ich ihm auch gesagt, und da ist er übergeschnappt und wie das alte Rumpelmortchen herumgesprungen und hat Hiebe ausgeteilt. Da habe ich gesagt, eher schmeiße ich die Show hin, als daß ich als einziger Anteile abgebe.«
Wetzon zog scharf die Luft ein. »O Gott!«
»Tu ich nicht, Schatz, aber er hat mich zur Weißglut gebracht. Für wen zum Teufel hält er sich, für Hai Prince? Ich habe mich von Anfang an genauso engagiert wie er. Genaugenommen hat er die Idee von mir. Die Show besteht fast nur aus Musik und Tanz. Herrgott!« Carlos’ flache Hand schlug auf den Tisch; Kaffee schwappte aus den Tassen auf die Untertassen.
»Wer hat das Fenster aufgemacht? Es war wie auf dem Mount Everest.«
»Joel hat eine Zigarre geraucht«, sagte Carlos. »Ich habe es selbst aufgemacht, um zu lüften.« Seine Lippen verzogen sich zu einem dünnen Lächeln. »Das nächste Mal, wenn Mort so etwas versucht...«
»Das nächste Mal? Carlos, das ist Wahnsinn.«
»Das nächste Mal«, wiederholte Carlos mit eisigen Augen, »bringe ich ihn um.«