»Ein Männlein steht im Walde ganz still und stumm, es hat von lauter Purpur ein Mäntlein um.« Eine Kinderstimme wurde von irgendwo unten zu ihnen getragen.
Novakovich bekreuzigte sich. »Boże moj! Boże moj!«
Wetzon kroch die Treppe hinunter und hielt sich dabei an der Wand fest. Weiße Gipsflecken schienen durch abblätternde graue Farbe. Susan sah so klein aus wie ein Kind. Ein Kind mit einem blutbefleckten Kopf. Vielleicht... da war gerade eine winzige Bewegung im Haar gewesen. Um Gottes willen. Eine dicke schwarze Wasserwanze kam unter Susans blutverklebtem Haar hervorgekrochen. Der Schrei blieb ihr im Hals stecken.
Wetzons Fuß berührte das limonengrüne Badetuch, und sie bückte sich, um es aufzuheben. Es war feucht.
»Sagt, wer mag das Männlein sein, das da steht im Wald allein...« sang eine Frauenstimme.
Das kehlige, satte Lachen des Kindes klag herauf, schwebte um Wetzon und an ihr vorbei in die Höhe. »Sing weiter, Mami, sing weiter!«
Wetzon schüttelte das Badetuch aus und deckte es über Susans Leiche. Es bestand kein Zweifel, daß sie tot war.
Ein Schrei kam von oben. »Herr, erbarme dich!«
Erschrocken hob Wetzon den Kopf. Rhoda. An Susans Haushälterin hatte sie gar nicht mehr gedacht.
Novakovich, ebenso aus dem Gleichgewicht gebracht, murmelte noch einmal: »Do Djavola!«
Wetzon rannte die Treppe hinauf, doch Novakovich hatte Rhoda von dem Treppenabsatz ferngehalten. »Es ist ein furchtbarer Unfall passiert«, sagte er barsch, während er sie in die Küche drängte.
Rhoda widersetzte sich und fragte: »Wo ist Miss Susan?«
»Susan muß einen Einbrecher überrascht haben. Sie ist die Treppe hinuntergestürzt.« Wetzon legte ihren Arm um die Frau und führte sie von der Außentür weg.
»Herrgott, Herrgott«, rief Rhoda.
Novakovich murmelte: »Ich muß die Polizei rufen.« Er bekreuzigte sich wieder.
»Haben Sie nicht gesagt, daß der Mann unten sie schon gerufen hat?«
»Ja, aber er hat wegen eines Streits angerufen. Das hier ist etwas anderes.«
»Erbarmen, Erbarmen.« Wie betäubt sah Rhoda sich in dem Durcheinander um, immer noch die Plastiktasche von D’Agostino in der Hand und eine abgewetzte schwarze Lederhandtasche in der anderen. »Ich muß zu ihr. Sie ist so lieb. Noch mehr Ärger hat sie nicht verdient.« Sie versuchte, sich an Wetzon vorbei zur Außentür zu drängen.
»Rhoda, bitte. Mr. Novakovich kümmert sich um alles.«
»Aber Miss Susan...« Die Augen der alten Frau waren trübe. Grauer Star? Wetzon hatte es vorhin nicht bemerkt.
»Susan ist tot, Rhoda.«
»Herr, sei ihrer Seele gnädig«, wimmerte Rhoda. Wetzon legte den Arm um die knochigen Schultern und führte die Frau zur Wohnungstür.
»Daß so etwas in meinem Haus passiert, wo meine Männer gerade streiken.« Novakovich winkte ihnen. »Kommen Sie. Hier können Sie nicht bleiben.«
»Aber die Lebensmittel. Ich muß sie wegstellen«, protestierte Rhoda.
Novakovich schüttelte den Kopf. »Wir müssen alles genauso lassen, wie wir es angetroffen haben, wie sie es im Fernsehen machen; sonst könnten wir Beweise vermasseln.«
Doch er hatte dies und das berührt. Und sie hatte Susan mit dem Badetuch zugedeckt, dachte Wetzon bestürzt. Die Beweise waren bereits vermasselt.
»Jesus Christus, nimm sie zu dir«, murmelte Rhoda. Tränen liefen über ihre Wangen, blieben in jeder tiefen Falte hängen, fanden den Weg nach unten.
»Sagen Sie nichts davon, wenn jemand in den Aufzug steigt. Ich will nicht, daß die Leute in Panik geraten. Normalerweise haben wir hier einen guten Sicherheitsdienst, aber Sie kennen ja diese Aushilfswachleute, sie haben keine Beziehung zu den Leuten im Haus, also was kümmert es sie...« Novakovich redete mit der Luft. Weder Wetzon noch Rhoda hörte zu.
Der Aufzug hielt im fünften Stock, und eine große dunkelhaarige Frau in einem Zuchtnerzmantel stieg zu. Sie trug eine Tasche von Brunschweig & Fils, vollgestopft mit Stoffmustern und Proben. Sie bemerkte Rhodas Tränen sofort, doch Wetzon wußte, daß sie nicht fragen würde, nicht vor Fremden. New Yorker der Oberschicht machten einen Kult daraus, ihre Neugier nicht zu zeigen.
In der Halle setzte Wetzon Rhoda auf das Sofa hinten vor der Wand. Die Haushälterin umklammerte immer noch die Lebensmitteltasche und ihre Handtasche. »Wir können sie da oben nicht allein lassen«, sagte Rhoda. »Jemand muß bei ihr sitzen.«
»Nein. Das ist so in Ordnung.« Wetzon tätschelte ihre Hand. »Wir können im Moment nichts für sie tun.« Sie dachte, daß irgendeine böse Energie freigesetzt worden war, daß das, was durch den Mord an Dilla losgelassen worden war, alle infiziert hatte. War es etwas, was Dilla angestiftet hatte? Natürlich, so mußte es sein. Verdammt! Die Stücke wollten sich schon zu einem Bilderpuzzle zusammenfügen, und dann wollte ein Stück nicht passen. Etwas...
Novakovich telefonierte irgendwo, wo er nicht zu sehen war. Dann tauchte er auf. »Ich sage besser allen, daß sie die Hintertüren nicht aufmachen sollen.« Er verschwand wieder.
»Izz!« Rhoda sprang auf. »Wo ist der kleine Hund?«
Wetzon schlug sich an die Stirn. Allmächtiger, sie war nicht bei der Sache. Sie hatten Izz oben gelassen. Wo hatte sie sich versteckt? Bitte, dachte Wetzon, nicht in Susans Nähe. Bitte laß sie nicht bei Susan sein. »Bleiben Sie hier. Ich gehe nach oben und hole sie. Ich glaube, ich weiß, wo sie ist.« Vor ihrem inneren Auge sah sie Izz neben Susans Leiche sitzen. Ein Malteser als Ehrenwache.
Als sie mit dem Aufzug hinauffuhr, empfand sie eine unaussprechliche Angst. Sie sah Bilder aus vergangenen Jahren wie am Diaprojektor an sich vorbeiziehen: eine junge Susan Cohen, über den Tisch gebeugt, ein Bein übergeschlagen. »Die Vierte zum Bridge« rief sie, als Wetzon von einem Kurs ins Studentenheim zurückkam. Susan und Wetzon im Gras sitzend, lernend, aber nicht... Wetzon, die Susan Probleme mit einem Freund anvertraute, an dessen Namen sie sich nicht mehr erinnerte, und Susan, die sagte: »Sie sind es nicht wert. Wir brauchen sie wirklich nicht, um glücklich zu sein.« Hatte Susan versucht, ihr beizubringen, daß sie lesbisch war, und war Wetzon zu begriffsstutzig — zu naiv — gewesen, um es zu kapieren?
Sie hatte Susans Angst nicht ernst genommen. Vielleicht war der Mörder gar kein Einbrecher gewesen, sondern ihr Verfolger. Vielleicht hatte es etwas mit Dillas Ermordung zu tun.
Wetzon schauderte. Warum hatte er — oder sie — dann nicht Wetzon getötet?
Novakovich hatte die Tür zu Susans Wohnung angelehnt gelassen, und Wetzon schlüpfte hinein. Allein das Chaos in den Zimmern machte ihr angst. Beinahe als wäre es... vorsätzlich. War das nicht das Wort, das Silvestri gebraucht hatte? Nein. Er hatte persönlich gesagt. Wonach hatte der Mörder gesucht? Und hatte er — oder sie — es gefunden?
Sie rief: »Izz?«
Die Wohnung war totenstill. Unten auf der Straße tönte eine Hupe, weit weg, und dann eine Sirene. Wetzon schloß die Augen. Ihre Lippen waren trocken und aufgesprungen. Sprich zu mir. Sag mir, was passiert ist. Blaues Kanton, Scherben davon, lagen unter ihren Füßen. Sie knirschten, als sie darüberging, wie der Kiesweg, der zum Haus ihrer Kindheit führte.
»Izz?« Sie ging durch die Küche zum Treppenabsatz, an dem offenen Mülleimer vorbei. Konnte man sich jemals an den Geruch des Todes gewöhnen? Sie würde Silvestri fragen müssen.
Susan war eine kleine Ausbuchtung unter dem limonengrünen Badetuch, und Izz war nicht da.
Wetzon ging wieder in die Wohnung, über den Flur, am Arbeitszimmer vorbei ins Schlafzimmer. Keine Izz. Wo konnte sie stecken? Das Arbeitszimmer. Hatte sie nicht im Vorbeigehen eine kleine Bewegung gesehen?
»Izz!«
Die alte bemalte Wiege aus Kiefernholz schaukelte, ganz wenig, verursachte kaum ein Geräusch auf dem Holzboden. Keine menschliche Hand in Sicht.
Wetzon ging langsam hinein. Die Wiege schaukelte.
Die lakritzfarbenen Augen waren stumpf vor Angst. Sie warnten sie. »Izz. Komm da heraus. Mach schon, Baby.« Wetzon kniete hin. Der kleine Hund entblößte die Zähne. Wetzon öffnete die Hand und hielt sie dem Hund hin. Izz schnupperte vorsichtig, dann leckte sie Wetzons Hand.
Wetzon hob sie aus der Wiege. Papiere waren über den Boden verstreut, Teile von Gedichten, vielleicht von Songtexten. Ein Terminkalender. Sie klemmte den Hund unter den einen Arm und blätterte die Seiten des Kalenders durch, suchte die letzten beiden Wochen. Sie sah ihren eigenen Namen in Susans deutlicher, fast kindlicher Handschrift. Und jeden Tag andere Namen. Als sie noch eine Seite umblätterte, sah sie das Datum dieses Tages. Sie las ihren Namen und einen
anderen. Sie klappte den Kalender zu und vergrub ihn unter den anderen Papieren.
Der andere Name in Susans Tagebuch war Smitty.