»Hör zu, Les, dieser Mörder handelt emotional. Weißt du, was ich meine? Ich möchte nicht, daß du deinen Mund aufreißt und das Falsche sagst.«
Warum machte Silvestri sie immer streitlustig? »Ist das amtlich?«
»Herrgott, Les, was hat >amtlich< damit zu tun? Du bist eine verdammt leichte Beute für den Mörder.«
»Wovon redest du, Silvestri? Ich bin nicht diejenige, die ermordet werden soll hier oben. Mort ist es.«
»Mort? Hornberg?«
»Ja.«
»Woher weißt du das?«
»Ich halte meine Augen und Ohren offen, und ich ziehe einfach Schlüsse. Und es gibt niemanden, der mit der Show zu tun hat, der Mort nicht tot sehen möchte. Und das meine ich ernst.«
Einen Moment herrschte Schweigen, dann begann Silvestri: »Ich habe mit Madigan gesprochen, und ich möchte, daß du dich nach New York bequemst, und zwar schnell. Hörst du, Les?«
Sie knallte den Hörer auf. Für wen hielt er sie, daß er glaubte, er könne sie herumkommandieren? Ach ja, klar. Noch so ein Mensch, mit dem sie keine richtige Beziehung hatte. Tausend Dank, Mort.
Das Telefon läutete wieder, beinahe sofort, und sie ließ es läuten, bis Smith rief: »Warum läßt du das Telefon klingeln? Nimm ab.«
Warum sagte ihr jeder, was sie tun sollte? So geht es einem, wenn man klein ist, dachte Wetzon, während sie die Decke wegtrat und die Beine auf den Boden schwang. Sie meldete sich am Telefon, und ihr Ton war mürrisch.
»Wie ich sehe, stecken Sie Ihre Nase immer noch in Dinge, die Sie nichts angehen.« Dickie Hartmann triefte vor Schmeichelei.
»Ich weiß absolut nicht, wovon Sie reden«, erwiderte Wetzon, kalt und eisig wie der Bostoner Hafen mitten im Winter.
»Geben Sie mir mein Mädchen, und dalli, dalli.«
Wetzon stand auf und warf den Hörer auf die Glasplatte des Nachttischs. Der explosionsartige Knall beim Auftreffen war Musik in ihren Ohren. »Hoppla«, sagte sie und hörte ihn fluchen. »Tut mir leid«, fügte sie in einem hohen Sopran hinzu. »Juhu, Smith. Es ist der kleine Dickie Hartmann für dich, und dalli, dalli.«
Eine Vision im weißen Frotteebademantel stürzte aus dem Bad. Sie warf Wetzon finstere Blicke zu und schnappte das Telefon. »Schatz...«
Der Fußboden im Bad lag voller Handtücher, wo Smith sie hingeworfen hatte; alles war mit einer feinen Tauschicht bedeckt, das einzige noch unbenutzte Handtuch eingeschlossen. Wetzon schälte sich aus ihren Kleidern und ließ die Dusche auf Schultern und Rücken prasseln. Sie war im Grunde beinahe erleichtert, Boston zu verlassen, aus Smith’ Magnetfeld zu entkommen, wenn es auch nur für ein paar Stunden war. Wenn Susan Orkin nichts Folgenschweres zu verraten hatte, könnte Wetzon sie wahrscheinlich bearbeiten, könnte sie davon überzeugen, daß der Einbruchsversuch ein Zufall gewesen war, und sie bewegen, mit dem Pendler um drei oder vier heraufzukommen.
Als Wetzon aus dem Bad kam, war der Zimmerservice dagewesen und wieder gegangen. Smith lag mit Schuhen auf dem Bett, nippte an einem Glas Rotwein und sah blasiert wie eine Katze aus. Sie trug eine schwarze Samthose mit weit auslaufenden Beinen und einen glitzernden knallroten Pullover, ganz mit Pailletten besetzt und rund ausgeschnitten.
»Nun?« Wetzons Bier und ein großes Glas lagen auf Eis. Sie goß sich ein, indem sie das Glas schräg hielt, während der Schaum stieg.
»Er ist hier. Er spricht heute abend beim Essen des Nationalen Sportschützen-Verbandes. Er springt für Dan Quayle ein.«
Wetzon hob den Fön auf. »Warum bin ich nicht überrascht?«
»Mußt du immer hänseln? Er hat in seinem letzten Prozeß einen Verfahrensfehler nachgewiesen. Ist er nicht der Beste?«
»Einen Verfahrensfehler? Na so was. Wieder ein Drogenhändler gerettet und noch mehr Steuergelder für den neuerlichen Prozeß.« Sie schaltete den Fön an, so daß Smith’ Erwiderung unterging, und formte das Haar mit den Händen. Als sie den Fön ausschaltete, nahm Smith das Gespräch genau da auf, wo sie es unterbrochen hatten.
»Ich sehe dich auf jeden Fall heute abend im Theater, Zuckerstück, und du bist herzlich eingeladen, mit uns zu einem späten Essen zu gehen.«
»Das ist nett von dir. Bist du sicher, Dickie möchte mich dabeihaben?«
»Schatz, der Vorschlag stammt von ihm.«
»Ach ja?«
»Aber ich habe ihm gesagt, daß du bestimmt mit deinen Theaterfreunden Pläne gemacht hast.«
Sie sagte es so, als wären Wetzons Theaterfreunde eine niedrigere Form der Menschheit.
»Das habe ich vor. Aber trotzdem vielen Dank.«
Smith nahm ihre Handtasche und — mit einem unmißverständlich begehrlichen Blick nach Wetzons Pelz — ihren Tuchmantel. »Bis später.«
»Tschüs«, sagte Wetzon glucksend. Sie fragte sich, wie lange Smith noch einem Nerz widerstehen würde.
Als Smith gegangen war, aß Wetzon das Sandwich und trank das Bier aus. Während sie sich schminkte, dachte sie über die Ereignisse dieser Woche nach.
Vorahnungen waren etwas Unheimliches. Gestern im Theater hatte sie selbst Sam mit Mort verwechselt. War Sam als er selbst ermordet worden oder weil ihn jemand für Mort gehalten hatte? Silvestri hatte gesagt, der Mörder handle emotional. Was genau bedeutete das? Wenn sie ein Gespräch mit Silvestri führen könnte, das nicht wegen der untergründigen Emotionen zwischen ihnen steckenbleiben würde...
Was machte Sam mit Carlos’ Panthere-Uhr? Falls Walt Greenow die Wahrheit sagte und er sie wirklich in Sams Hand gefunden hatte.
Einer aus Madigans Mannschaft hatte von den Schuhen jedes einzelnen Abstriche gemacht und für das Labor in Tütchen gepackt. Aber der Tatort war bereits von zu vielen Leuten, die nachsehen wollten, ob Mort noch lebte, gestört worden.
Warum hatten sie nicht gleich vom Telefon am Bühneneingang aus die Polizei gerufen? Wer hatte vorgeschlagen, sich zu vergewissern, ob er tot war? Fran? Phil? Walt? Sie erinnerte sich nicht.
Sie zog einen schwarzen Rollkragenpullover an, einen engen knöchellangen Rock und schloß ihren neuen-Donna-Karan-Gürtel mit den goldenen Metallscheiben. Sie hatte immer noch Taillenweite achtundfünfzig und war stolz darauf.
Als sie ihre Handtasche ausleerte, fiel ihr Carlos’ Uhr in die Hände. Prunkvolle achtzehn Karat. Und von Blut verkrustet. Verdammt. Sie hob sie auf, rollte sie auf der Handfläche hin und her, dann rief sie Carlos’ Zimmer an.
»Ja?«
»Empfängst du? Ich möchte dir etwas geben.«
»Häschen! Eine Nackenmassage würde mir guttun.«
»Ich komme gleich rüber.« Sie wischte das Blut ab, so gut es ging, streifte die Uhr über das linke Handgelenk, packte einen Kamm, Taschentücher, zehn Dollar und ihre American-Express-Karte in eine kleine Tasche mit Schnappverschluß. Dann sah sie nach, ob sie ihren Schlüssel hatte, hängte den Mantel über den Arm, schloß die Tür und ging über den Flur zu Carlos’ Zimmer.
»Ah, Häschen, meine wahre Liebe.« Carlos zog sie ins Zimmer. »Das ist wirklich ein Alptraum, von Anfang bis zum Ende.« Er warf sich aufs Bett. »Wer würde Sam töten wollen? Er war eine solche Null.«
»Es war Mort, dem der Schädel eingeschlagen werden sollte, nicht Sam.«
»Um Gottes willen, Häschen!«
»Tja, fast jeder hier wünscht sich Mort tot.«
Carlos rollte auf den Bauch herum. »Kümmere dich um meinen Nacken.«
Sie setzte sich neben ihn und massierte seinen Nacken, während er stöhnte.
»Wie spät ist es?« erkundigte sie sich.
Carlos bewegte den linken Arm so, daß er nachsehen konnte. »Meine Uhr. Himmel, ich habe vergessen, sie mir geben zu lassen.«
»Wo hast du sie gelassen?« Sie kam sich ein wenig hinterlistig vor, während sie die Fingernägel über seinen Nacken zog.
»Sie brauchte eine neue Batterie. Mach das noch mal.«
Wetzon hielt inne, streifte die Uhr von ihrem Handgelenk und ließ sie vor Carlos’ Nase baumeln.
Er streckte die Hand aus und schnappte sie, starrte sie an, nickte, rollte herum und setzte sich auf, dann machte er sie am Handgelenk fest. »Wieso hast du sie? Mann, Häschen, das war beeindruckend. Ich bin ein neuer Mensch.« Er grinste sie an. »Du solltest das als Nebenbeschäftigung betreiben.«
»Danke. Ich werde darüber nachdenken.« Mit düsterem Gesicht betrachtete sie ihn.
Carlos nahm ihr Gesicht in die Hände. »Was ist los, Kleines? Nimmt dich die Geschichte so mit?«
»Nimmt sie dich mit?«
Er beugte sich vor und küßte sie auf die Stirn. »Kein Grund zur Sorge. Ich bin erwachsen. Ich kann damit umgehen.« Er stand auf und machte ein paar Stepschritte, so gut es auf dem genoppten Teppich ging, breitete die Arme aus und sagte: »Danke dir.«
»Walt hat deine Uhr auf der Herrentoilette gefunden. Sam umklammerte sie mit der Hand.«
Er starrte sie an. »Hoppla.«
»Ist sie dir möglicherweise heruntergefallen?«
»Nein.« Beunruhigt runzelte er die Stirn. »Sie brauchte eine neue Batterie. Ich bat...«
»Wen?«
Er antwortete nicht.
»Mach schon, Carlos. Du mußt es mir sagen. Deckst du jemanden?«
Er setzte sich aufs Bett und rieb mit dem Zeigefinger an seinen Zähnen.
»Carlos! Wem hast du sie gegeben?«
»Ich habe sie Smitty gegeben.«