»Was meinst du?«
Smith ging in einem hellgrauen maßgeschneiderten Herrenanzug von Calvin Klein wie ein Model vor dem dreiteiligen Spiegel auf und ab.
»Toll, Smith.«
Was machte sie überhaupt hier? Was hatte sie überhaupt in Boston zu suchen?
»Du paßt nicht auf!« sagte Smith erregt. »Du deprimierst einen heute geradezu.«
»Was erwartest du? Mort versucht, Carlos aus dem Fenster des Ritz-Carlton zu werfen, und du gehst mit mir einkaufen.« Wetzon zerrte den Rock herunter, den sie mühsam über die Leggings gezogen hatte.
Smith tätschelte ihren flachen Bauch. »Den nehme ich. Er ist genau das Richtige für das Frühjahr.« Sie streifte das Jackett ab und hängte es auf den Bügel.
Wetzon nahm den Platz vor dem Spiegel ein, den Smith vorübergehend frei gemacht hatte. »Ich glaube, diese Spiegel sind Betrug. Sie sind so konstruiert, daß wir dünn aussehen.«
»Wenn ich geahnt hätte, daß du nur herumnörgelst, hätte ich dich nicht aufgefordert mitzukommen. Mort war einfach ein bißchen nervös. Nimm nicht alles so ernst.«
»Wie bitte?« Wetzon kochte vor Wut. »Ich glaube, wir haben hier nicht dieselbe Wellenlänge.« Das Zusammensein mit Smith zerrte wirklich an ihren Nerven. Verschwinde hier, bevor du an die Decke gehst, befahl sie sich.
»Wohin gehst du?«
»Zur Kosmetik runter, neuen Eyeliner kaufen.« Weil mein anderer ins Klo gefallen ist, als ich dein Zeug wegräumte.
Wetzon schloß die Tür des Anproberaumes. Am liebsten hätte sie das Kinn zur Decke gereckt und ein Geheul ausgestoßen, aber hier bei Bonwit’s traute sie sich nicht. Vor sich hin murmelnd ging sie die Treppe hinunter zum ersten Stock.
Sie mußte sich eingestehen, daß das Showbusineß sie deprimierte. Nicht nur Mort, auch alles andere. Das kalte, feuchte Theater, die endlosen Technik- und Kostümproben, das Hauen und Stechen hinter der Bühne im Wetteifer um einen Platz im Rampenlicht. Es war gemein. Und dazu die Vorstellung, daß Talent so leicht ersetzt werden konnte.
Am liebsten wäre sie immer weitergegangen — durch die Tür von Bonwit’s hinaus, in ein Taxi steigen, sich in den Pendler setzen, nach Hause fliegen. Eine heimliche Sehnsucht nach der Sicherheit, die sie in Altons Gesellschaft empfand, überfiel sie auf der Treppe. »Du meine Güte!« sagte sie laut und blieb abrupt stehen. Eine Verkäuferin mit einem blauen Namensschild sah sie fragend an. Wetzon lächelte und schüttelte den Kopf. »Ich habe nur laut gedacht.« Sie ging auf der Treppe zum Erdgeschoß weiter. Sicherheit? Alton bedeutete Sicherheit. Das war gewiß, aber genügte es?
Zwei Frauen, wie Tänzerinnen in Leggings und ausgeleierten Socken, standen mit dem Rücken zu Wetzon vor dem Lancôme-Tisch. Oder vielmehr eine Frau und ein junges Mädchen, wie Wetzon im Näherkommen bemerkte. Wetzon stellte sich neben das Mädchen und wartete, bis die Verkäuferin mit der Vorführung des schiefergrauen Eyeliners, genau die Farbe, die Wetzon suchte, fertig wurde. Der Teenager kam ihr irgendwie bekannt vor.
Plötzlich sah die Mutter auf. »Leslie!« rief sie. Die Frau sprang um die Tochter herum auf Wetzon zu.
»Mel! Das gibt’s doch nicht!« Dann umarmten sie sich, traten einen Schritt zurück, betrachteten sich prüfend und umarmten sich erneut. »Melanie Banks, du siehst phantastisch aus!«
»Ich heiße jetzt Melanie Alexander. Wie lange ist das her?«
»Fünfzehn Jahre mindestens.« Wetzons Augen wurden feucht.
Mel faßte sich zuerst und zog den Teenager zu sich. »Das ist meine Tochter, Sarah Ann. Leslie« — sie warf einen Blick auf Wetzons ringlose linke Hand — »Wetzon. Leslie und ich haben zusammen in mehreren Shows gespielt.«
»Und mehrere Kurse zusammen belegt und sogar bei einer Millikin-Show mitgewirkt. Ich freue mich, noch eine Tänzerin kennenzulernen.« Wetzon grinste den hübschen Teenager an. »Als ich euch vor dem Tisch stehen sah, dachte ich, Tänzerinnen.« Mels rotes Haar war nicht mehr so feuerrot wie früher, aber das ihrer Tochter leuchtete lebhaft und umrahmte ein so junges, frisches Gesicht. Wetzon erinnerte sich, daß Mel einen Jurastudenten geheiratet hatte, Kevin.
»Bist du in Carlos’ Show? Wir kommen heute abend zur Voraufführung«, sagte Mel.
Die Verkäuferin räusperte sich.
»Oh, Entschuldigung«, sagte Mel. »Wir nehmen den grauen.« Sie durchsuchte ihre Taschen und legte eine Kreditkarte vor.
»Sie können mir den gleichen geben«, sagte Wetzon zur Verkäuferin. Wieder an Mel gewandt, fuhr sie fort: »Ich bin nicht mehr beim Theater. Ich bin Headhunterin in der Wall Street seit... seit fast zehn Jahren.«
»Mom, ich sehe mich mal bei den Ohrringen um«, verkündetete Sarah Ann.
»Okay. Kevin arbeitet bei O’Donnell, Bullard und Kalin, und ich leite eine Tanzschule.«
»Du machst Witze!«
Melanie strahlte. »Ballett, Jazz, Steppen — du weißt ja, der ganze Kram. Alles für das vielversprechende kleine Ding, um ihm den Weg zum Broadway zu weisen.« Sie unterschrieb den Kontrollzettel und nahm die kleine Tüte an sich. »Nur gibt es keinen Broadway mehr.«
»Wem sagst du das. Langweilige Wiederaufnahmen oder ein englischer Rummel nach dem andern, alles Klamauk, viel Nebel und nichts dahinter.« Sie reichte ihre American-Express-Karte über den Tisch. »Ich bin hergekommen, um Hotshot zu sehen, was übrigens ein Original ist. Carlos’ Arbeit ist einfach toll.«
»Was hast du heute nachmittag vor?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht bei den Proben zusehen. Sie sind ermüdend, wenn man selbst nicht beteiligt ist, und alle sind völlig mit den Nerven runter.«
»Warum kommst du nicht zu einem Kurs bei mir? Ich habe Tanz-Aerobics ab drei Uhr.« Mel kramte in ihrer Umhängetasche und fand eine Karte. »Es ist nicht weit — einfach die Newbury Street ein Stück weiter, gegenüber von Spenser’s.«
»Ich...«
»Feige?«
»Nein. Und ich könnte ein Training gebrauchen.«
Mel warf einen Blick auf Wetzons Leggings und rosa Reeboks. »Du brauchst dich nicht einmal umzuziehen. Was hältst du jetzt von einer Tasse Kaffee?«
»Kann nicht. Ich warte auf meine Geschäftspartnerin, die oben den ganzen Calvin Klein aufkauft.«
»Okay, dann... Sarah Ann? Gehen wir.« Mel winkte ihrer Tochter und deutete zum Ausgang. »War das nicht furchtbar mit Dilla?«
»Furchtbar.«
»Und wenn ich bedenke, daß ich sie immer beneidet habe. Alles, was diese Frau getan hat, sogar ihre Gemeinheiten, wendete sich zu ihrem Vorteil.«
Wetzon unterschrieb den Zettel, verzichtete auf eine Tüte und ließ die schmale Schachtel in ihre Handtasche fallen. »Bis letzte Woche.«
»Ich erinnere mich an See Saw — hast du da auch mitgespielt?«
Wetzon schüttelte den Kopf. »Nein. Carlos und ich hatten noch mit Pippin zu tun.«
»Ach so, dann wirst du dich daran nicht erinnern. Dilla kam eines Tages herein — sie war damals erste Gruppentänzerin und trug einen sagenhaften Nerz, bis auf die Knöchel.«
»Wer würde das vergessen? Bei uns anderen reichte es doch mit den Minigagen gerade so zum Leben. Ist sie damals mit Joel Kidde gegangen?«
»Ma...«
»Moment, Sarah Ann. Nein, das war später. Hör zu, du hast doch gewußt — wie wir alle — , daß sie lesbisch war. Weißt du noch, wie sie aus der Gruppe heraus bei CoCo befördert wurde? Nein, du warst ja nicht bei CoCo.« Sie wartete Wetzons Antwort nicht ab, sondern feixte plötzlich. »Ich habe halt seit Jahren mit keinem mehr über diese Zeit getratscht.«
»Also wer hat den Mantel geschenkt?« Smith stieg gerade aus dem Lift, eine pralle Kleidertasche in der Hand.
»Dieses große Tier — wie heißt er noch gleich — dieser Generaldirektor. Dem alle zu Füßen lagen.«
In Wetzons Hirn flackerte ein Lämpchen auf. »Lenny soundso.«
»Klar. Was für ein Gedächtnis. Lenny Käufer.«