»Ich verstehe nicht«, sagte Wetzon zum drittenmal in weniger als einer Stunde. Eine volle Woche war vergangen, und sie saß Bryan Kendall, Esquire, in seiner Anwaltskanzlei an der Park Avenue gegenüber. Eine Tasse schwarzer Kaffee stand unangerührt vor ihr. Ebenso unberührt war der amtliche Umschlag, den Kendall ihr ausgehändigt hatte.

Kendall, ein vornehmer Mann mit gewelltem grauem Haar, war Ende Fünfzig. »Was verstehen Sie nicht?« Im persönlichen Gespräch war der britische Akzent noch auffallender.

»Bis vor wenigen Wochen hatten Susan und ich uns seit dem College nicht mehr gesehen.«

»Das hat nichts zu sagen. Nach Dillas Tod bat sie mich, ein neues Testament aufzusetzen. Sie unterschrieb es am Tag vor ihrem eigenen Tod.« Er nahm ein Dokument aus einem sauberen Aktendeckel auf seinem Schreibtisch.

»Wollen Sie mir erzählen, daß Susan keine Verwandten hat?«

»Das ist richtig.«

»Mr. Kendall, Susan hatte große Angst, daß ihr etwas zustoßen würde. Wissen Sie, wovor sie Angst hatte?«

»Nein, davon weiß ich nichts.«

»O Gott, was bedeutet das alles für mich?«

»Das Testament ist eröffnet und rechtswirksam bestätigt worden. Susan hat mich zum Testamentsvollstrecker bestimmt. Es gibt noch zwei andere Begünstigte. Susan hat Rhoda Rockefeller zehntausend Dollar vermacht.«

»Rhoda Rockefeller? Sie meinen die Haushälterin? Ihr Nachname ist Rockefeller?«

Er nickte. Er sah nett aus, wenn er blinzelte. In diesem Moment kam Wetzon zu dem Schluß, daß sie Bryan Kendall mochte.

»Und sie hat dem Fonds für Bühnenschaffende fünfundzwanzigtausend Dollar hinterlassen.«

»Das ist sehr großzügig. Was soll ich nun machen?«

»Zur Erbmasse gehört die Wohnung, und sie wird verkauft. Das Geld geht nach Abzug der Abwicklungskosten und Steuern an den Begünstigten. An Sie. Es gibt einige geringfügige Verbindlichkeiten...«

»Aber ist die Wohnung nicht mit Hypotheken belastet?«

Kendall schüttelte den Kopf. »Die Wohnung ist bar bezahlt.«

»Bar? Eine Wohnung in diesem Gebäude? Wo bekommt man denn soviel Bargeld her?«

»Sie verwendeten ihre Ersparnisse. Susan und Dilla besaßen beide Wohnungen, die sie verkauften, als sie zusammenzogen. Die Wohnung lief immer auf Susans Namen.«

»Entschuldigen Sie, Mr. Kendall, von was für Zahlen reden wir hier eigentlich?«

»Nennen Sie mich bitte Bryan. Wir werden uns in der nächsten Zeit häufiger sprechen und treffen. Ich denke, wir können heute auf dem Markt wahrscheinlich mit acht- oder neunhunderttausend rechnen, vielleicht mehr.«

»Du lieber Gott...«

»Und Susan hatte ein Konto bei Merrill Lynch, außerdem eine Lebensversicherung.«

»Ich habe ein scheußliches Gefühl dabei. Ich möchte ihr Geld nicht. Ich brauche es nicht. Wie wäre es, wenn ich es nach dem Verkauf der Wohnung einigen Aids-Gruppen und dem Programm Essen auf Rädern stifte?«

»Sie können darüber frei verfügen.«

»Ich denke, Susan würde es gutheißen. Ist das alles?«

Er blätterte das Testament durch. »Der Hund Isabella. Sie möchte, daß Sie ihn nehmen.«

Wetzon lächelte. »Ich habe ihn schon.«

»Gut. Es gibt auch ein Auto, einen Jaguar. Es steht in einer Garage an der Lexington.«

»Du meine Güte, ein Auto.« Es war umwerfend.

»Dann ein letztes. Das Copyright an ihrer Lyrik und den Songtexten wird auf Sie als ihre Erbin übergehen. Ich würde vorschlagen, daß Sie es behalten. Es wird nicht viel dabei herausspringen. Ich habe Susan gut gekannt. Das Schreiben war die treibende Kraft in ihrem Leben.«

»Okay. Vielen Dank.« Sie standen gleichzeitig auf und schüttelten sich die Hände. »Arthur Margolies ist mein Anwalt.«

»Ich kenne ihn.«

»Er ist bis Montag nicht in der Stadt...« Sie stand unter Schock.

Über zwei Wochen nach Dilla Crosbys Ermordung schien die Polizei dem Mörder nicht näher zu sein und nicht einmal der Mordwaffe. Die Times berichtete sporadisch oder gar nicht über die Ermittlungen, doch die News und die Post und selbst der New York Newsday schafften es, ständig Schlagzeilen zu präsentieren.

Smitty war nicht verhaftet worden. Er wohnte zu Hause bei Smith und besuchte einen Therapeuten. Seine Mutter hatte sich wieder gefangen.

EdnaTerrace war ebenfalls nicht verhaftet worden, aber ihr Foto wurde in allen Tageszeitungen abgedruckt, das Gesicht von einem Regenmantel unkenntlich gemacht.

Hotshot: The Musical lief in seiner letzten Woche in Boston, ausverkauft bis auf den letzten Platz, welche Ironie. Smith hatte recht. Sie würden viel Geld gutmachen. Das heißt, ihre Pension. Alles, was vor der Premiere in New York noch blieb, war die Woche der Voraufführungen.

Carlos’ täglichen telefonischen Berichten zufolge war Phil Terrace inzwischen zu einem ausgezeichneten Inspizienten gediehen, und keiner der an der Show Beteiligten war mehr handgreiflich geworden. So geht es, wenn eine Show ein Hit ist. Zu Beginn der zweiten Woche in Boston waren Mort und Poppy sogar nach Sarasota geflogen, wo sie ein Haus besaßen, und hatten die Show ganz in Carlos’ Händen gelassen.

Wetzon ging zur Madison hinüber. Alle Taxis waren besetzt. Es hatte seit Anfang März jeden Tag geregnet. Zwei Wochen Feuchtigkeit, patschnasse Schuhe, zerrissene Regenschirme, Schlammspritzer auf Regenmänteln. Die Gesichter der New Yorker waren finster und verkniffen. Wetzon ging zu Fuß weiter. An der Ecke 57. und Fifth stand ein Imbißwagen unter einem tropfenden Regenschirm. Der Verkäufer bot Brezeln an, die von der Feuchtigkeit wie Schwämme sein mußten. In einem Eingang hielt ein senegalesischer Verkäufer Seidenschals mit dem Hermes-Emblem in der Mitte hoch, höchstwahrscheinlich billige Imitationen. Zwei Touristinnen befühlten die Ware und riefen etwas auf Italienisch aus.

Sie erwischte einen Bus Nr. 7 die Amsterdam hoch. Der Bus war überfüllt. Nasse Schirme tropften auf die Sitzenden; alle waren gereizt. Der Geruch nach nasser Wolle war drückend. Wetzon, zwischen stämmigen, schwitzenden Männern und ihren Diplomatenkoffern und Schirmen eingeklemmt, betrachtete ihren Ring.

Heute fand Sandra Semples große Abendeinladung statt, auf der Alton ihre Verlobung bekanntgeben würde. Warum war ihre Stimmung nicht besser?

Als sie aus dem Bus stieg, dachte sie, sie könnte anrufen und ihm sagen, daß sie sich nicht wohl fühle. Auf dem ganzen Weg im Aufzug nach oben zerbrach sie sich den Kopf nach einer vernünftigen Ausrede, um nicht hingehen zu müssen. Es war eine nutzlose Übung.

Izz’ Begeisterung dagegen machte das, was Wetzon fehlte, mehr als wett. Da sie spürte, daß Wetzon ausgehen wollte, folgte sie ihr von einem Zimmer ins andere, ließ sie nicht aus den Augen. Wetzon beschloß, sie nachher mit in Altons Wohnung zu nehmen.

Was hat das alles zu bedeuten? dachte Wetzon, während sie ihr Haar fönte. Mit der freien Hand zog sie das Haar nach hinten. Noch nicht lang genug. Es könnte eine Ewigkeit dauern, bis sie wieder die Länge für ihren Ballerinaknoten hatte. Im Schlafzimmer nahm sie das schwarze Spandextrikot aus dem Beutel der chemischen Reinigung und zog es an. Es lag nicht einmal richtig an. Sie hatte wirklich stark abgenommen.

Sie setzte sich auf das Bett, und Izz leistete ihr Gesellschaft. Bernsteins Karte lag neben dem Telefon, auch O’Melvanys. Sie rief O’Melvany an, weil Susan im Neunzehnten Revier ermordet worden war.

»O’Melvany.«

»Hallo, äh« — sie wußte nie, wie sie ihn anreden sollte — »hier ist Leslie Wetzon. Ist es eine ungünstige Zeit?«

»Sie haben mich gerade im Weggehen erwischt. Was haben Sie auf dem Herzen?«

»Ich dachte, Sie sollten wissen, daß mich ein Rechtsanwalt namens Bryan Kendall von Kendall und Slotkin angerufen hat. Er teilte mir mit, daß ich Susan Orkins Haupterbin bin.«

O’Melvany pfiff durch die Zähne. »Über wieviel sprechen wir?«

»Die Wohnung, ein paar Aktien und Festverzinsliche, ein Auto, ihre Urheberrechte, was immer das Banksafe hergibt und vielleicht irgendeine Versicherung. Sie könnten Mr. Kendall anrufen.« Sie gab ihm die Telefonnummer. »Ich nehme an, das gibt mir ein Motiv.«

»Wenn Sie es vorher gewußt hätten.«

»Ich wußte es nicht. Und ich will das Geld auch nicht. Es ist Blut dran. Ich hasse es.« Ihre Stimme überschlug sich.

»Nehmen Sie’s gelassen.« Er hörte sich besorgt an. »Vielleicht sollten Sie mit Sonya sprechen.«

»Das ist in Ordnung. Es geht mir gut. Ich habe Sonya gestern gesehen. Danke. Gibt es was Neues? Ich habe in den Zeitungen nichts über die Schmucktasche gelesen.«

»Werden Sie auch nicht. Wir behalten es vorerst für uns.«

Nachdem sie aufgelegt hatte, zog sie sich fertig an und schminkte sich sorgfältiger als gewohnt. Dies war ein besonderer Anlaß. Sie machte die Leine an Izz’ Rheinkieselhalsband fest. Warum hielten sie die Sache mit der Schmucktasche zurück?

Das Telefon läutete, als sie den Gürtel ihres Regenmantels zumachte. Izz begann zu bellen und rannte zur Tür und zurück.

»Vergiß es, Hund.« Sie nahm den Hörer ab.

»Häschen, Schatz!«

»Carlos! Mann, tut das gut, deine Stimme zu hören. Wann kommst du nach Hause?«

»Morgen, und ich kann es gar nicht erwarten.«

»Ich auch nicht.«

»Prima. Mort hat sich nach Florida abgesetzt.«

»Das habe ich gehört. Weiß die Polizei was Neues zum Mord an Sam?«

»Hör zu, Herzblatt, die Bullen hängen hier herum, seit es Sam erwischt hat. Sie kennen die Show auswendig. Ein dickbäuchiger Detective hat mir nach der Mittwochsmatinee sogar die Einleitungsnummer vorgetanzt.«

Wetzon kicherte. Izz zerrte an der Leine. »Wie war er?«

»Ziehst du mich auf?«

»Ich muß gehen, Kleiner. Heute ist Sandra Semples Einladung, und Alton gibt die große Neuigkeit bekannt.«

»Bist du aufgeregt?«

»Die Wahrheit?«

»Natürlich.«

»Ich habe Angst.«

»Tralala, Schatz. Du bist vor der Sommersonnenwende unter der Haube.«

»Hör auf. Darf ich jetzt auflegen? Ich sehe dich am Sonntag. Arthur hat mich zum Abendessen eingeladen.«

»Gut. Ich habe nur noch eine Kleinigkeit auf dem Herzen...«

»Ja?«

Seine Stimme wurde nüchtern. »Ich habe heute abend ein Glas mit Fran Burke getrunken.«

»Was für einen Spazierstock hatte er dabei?«

»Graues Metall oder Aluminium oder so was. Kann ich zu Ende reden, bevor du weitermachst?«

»Aber selbstverständlich.«

»Er hat mir eine verrückte Nachricht für dich gegeben. Ich weiß nicht, was es bedeutet, und ich bin nicht scharf darauf, es auszurichten, aber er hat gesagt, du würdest es verstehen.«

»Sprich schnell. Ich komme zu spät.«

»Fran hat gesagt, ich soll dir ausrichten, daß du zurückgeben sollst, was dir nicht gehört.«