»Nicht schon wieder Sie.« Eddie O’Melvany blickte grimmig. »Ich konnte es nicht glauben, als Better anrief.«

Izz entblößte ihre Zähne, als O’Melvany die Hand ausstreckte und ihren Kopf tätschelte. Er war nur wenige Minuten nach den anderen am Tatort erschienen.

Wetzon legte eine Hand über die Augen, biß sich auf die Unterlippe, konnte aber nicht verhindern, daß ihr Tränen kamen. »Entschuldigung«, sagte sie. Es war zum Verrücktwerden, die Gefühle nicht in der Gewalt zu haben.

In der anhaltenden Diaschau in ihrem Kopf wirbelten Quecksilberbilder vorbei, Dinge, an die sie nicht mehr gedacht hatte. Susan, wie sie verspätet zum Englischaufsatz die George Street hinunterrannte, die Umschläge ihres Flanellpyjamas hingen unten aus den Jeans heraus. Susan, wie sie ihr Vorhaltungen machte, weil sie nicht vor der Rutgers-Verwaltung demonstrierte, um gegen irgendeine längst vergessene Verletzung der Redefreiheit zu protestieren.

»Entschuldigung.« Noch mehr Tränen. Izz setzte sich auf und leckte die Tränen von Wetzons Kinn.

O’Melvany reichte ihr ein Leinentaschentuch und wartete, bis sie die Augen getrocknet und die Nase geputzt hatte. Er zog eine Rolle saure Drops aus der Tasche, warf einen in den Mund, dann bot er ihr die Rolle an. Als sie den Kopf schüttelte, steckte er die Rolle wieder in die Tasche. »Ihr Hund?«

»Nein. Susans.«

»Ich gehe nach oben, um mich umzuschauen. Wenn ich zurückkomme, können Sie mich ins Bild setzen.«

»Okay.« Sie trocknete noch einmal die Augen. Sein Taschentuch war aus echtem Leinen und trug seine Initialen in einer Ecke, weiß auf weiß. Ihre Wimperntusche hing überall daran.

Er wollte schon zum Aufzug gehen, wo ein Techniker mit einer ganzen Ladung Fotozubehör über der Schulter wartete, doch dann blieb er stehen und kam zu ihr zurück. »Ich habe eine Nachricht für Silvestri bei seinem Revier hinterlassen.«

Wäre Wetzon eine Hexe gewesen, hätte sie O’Melvany auf der Stelle in Asche verwandelt, Sonya hin, Sonya her. Silvestri würde wieder einmal Gelegenheit haben, ihr aus Schwierigkeiten herauszuhelfen, obwohl sie es alleine auch schaffen könnte — wenn alle sie nur in Ruhe ließen.

Was zum Teufel sollte sie wegen Mark unternehmen? Und wer war die Frau, wegen der Susan die Polizei bestellt hatte, um sie rauswerfen zu lassen? Die Polizei müßte das wissen.

Eine Parade von Detectives und Technikern der Spurensicherung marschierte herein und mischte sich unter die neugierigen Hausbewohner, die herumstanden. Novakovich stand bei einem Mann, dessen Auftreten Wetzon trotz seines Laufdresses verriet, daß er vermutlich der Vorsitzende der Eigentümerversammlung und höchstwahrscheinlich Rechtsanwalt war.

Izz sprang von Wetzons Schoß und begann, kleine Kreise zu drehen.

Rhoda erschien wieder, begleitet von einem uniformierten Polizisten. Sie hielt nicht mehr die Tasche mit den Lebensmitteln in der Hand, nur noch die Bibel und die Handtasche. Ihr Gesicht war grau. Izz wurde lebendig und tänzelte um die alte Frau herum. »Du, Mädchen«, sagte Rhoda, während sie mit einem knotigen Finger auf den Hund zeigte, der hochsprang und daran leckte, »jetzt benimmst du dich.« Ihre tränennassen Augen begegneten Wetzons Blick. »Gott hab’ sie selig, sie haben Izz verdorben. Sich vorzustellen, die ganze Liebe einem Tier zu schenken, wo es so viele Kinder...« Sie zuckte die Achseln. »Ich werde nach Hause gefahren.« Sie deutete auf den Uniformierten.

»Was wird aus Izz?«

»Oh, Sie werden sie nehmen müssen, Miss. In meinem Haus sind Hunde nicht erlaubt.«

Izz schaute zu ihnen auf, neigte den Kopf von der einen zur anderen Seite, als verstünde sie, daß sie von ihr sprachen.

»Ich habe nicht einmal Hundefutter. Ich hatte gar nicht vor, nach Hause zu gehen...« So ein Mist, dachte Wetzon.

»Sie frißt Trockenfutter. Oben steht ein großer Sack. Bitten Sie die Officers, Ihnen den zu geben.«

Izz unternahm einen halbherzigen Versuch, Rhoda zu folgen, blieb stehen, drehte sich nach Wetzon um. Sie schien zu dem Schluß zu kommen, daß Wetzon der bessere Trottel sei.

Die Halle war plötzlich voll von Menschen.

Wetzon konnte nicht atmen. Sie riß die Baskenmütze herunter und stopfte sie in ihre Tasche. Ihr Herz klopfte so drängend, daß sie es mit der Angst bekam. Luft. Sie mußte Luft schnappen. Also hob sie Izz hoch und schlängelte sich hinaus auf die Straße durch. Niemand hielt sie auf. Ein Uniformierter war vor dem Gebäude postiert und beobachtete gleichgültig die Menge der Schaulustigen, die sich versammelt hatte. Zahme Streikende mit ihren Plakaten tauschten mit einigen Leuten, die dem Treiben zusahen, Informationen aus.

Zwei Streifenwagen mit drehenden farbigen Lichtern standen zwischen den in zweiter Reihe geparkten Autos, und es waren ziemlich viele, weil Samstag immer noch ein Tag war, an dem man nur auf der einen Straßenseite parken durfte. Stimmen von Einsatzleitern kamen knackend aus Polizeifunkgeräten.

»Ein Männlein steht im Walde ganz still und stumm, es hat von lauter Purpur ein Mäntlein um...« Sie stand mit vier weiteren Studentinnen im ersten Semester in einer Reihe, jede mit einem riesigen Namensschild um den Hals. Man befahl ihnen zu singen. »Ein Männlein steht im Walde...«

Das Mädchen neben ihr zischte: »So was Albernes.« Auf ihrem Namensschild stand Susan Cohen.

»Singt«, kommandierte die Studentin im zweiten Jahr. Susan Cohen und Leslie Wetzon grinsten sich an und zuckten die Achseln, und sie sangen: »Ein Männlein steht im Walde ganz still und stumm, es hat von lauter Purpur...«

Wetzon stand auf dem Bürgersteig und atmete tief die feuchte Luft ein. Izz begann sich zu winden, und sie setzte sie in den Rinnstein zwischen einen weißen Acura und einen schwarzen BMW. Ihre Knie zitterten heftig. Sie setzte sich auf den Bordstein, kauerte auf dem engen Platz zwischen den beiden Autos, zog fröstelnd den Pelzmantel zusammen. Vor ihrem Stiefel lag ein Kondom neben einem Cent — Kopf nach oben, das bringt Glück — und einem schmutzigen weißen Kindersöckchen. Izz versuchte, auf ihren Schoß zu krabbeln, aber Wetzon hatte die Arme um die Knie gelegt.

Wenn sie sich klein genug machte, würde sie vielleicht nicht sterben.

Irgendwo in der logischen Hälfte ihres Hirns wußte Wetzon, daß sie einen Anfall von Panik hatte, doch es war wie eine Fahrt in der Achterbahn. Sie konnte nicht anhalten.

Weg von hier, drängte eine Stimme. Lauf! Lauf um dein Leben!

Sie nahm Izz in die Arme und stand auf, mußte sich einen Moment auf den Acura stützen, dann trat sie auf die Straße und entfernte sich von Susans Haus.

Als sie die Fifth Avenue erreichte, begann sie zu laufen.