Als die Explosion kam, brachte sie nicht den erwarteten, inzwischen vertrauten Geruch nach Schießpulver mit sich. Aber sie wußte Bescheid. Sie kannte die Tricks.
Sie befand sich außerhalb ihres Körpers, in der Schwebe. Der Himmel war tintenschwarz. Unter ihr fuhr ein Auto auf der Route 9 auf Claytonia zu, zur Farm, nach Hause.
Nein! Sie versuchte, laut zu schreien, den Traum zu sprengen. Statt dessen sauste sie dahin. Ein Auto kam in voller Fahrt aus der entgegengesetzten Richtung. Auf der falschen Spur.
»Papa, paß auf!« Sie weinte.
Auf einem Neun-Sekunden-Standbild sah sie die entsetzten Gesichter ihrer Eltern durch die Windschutzscheibe.
Die Explosion brachte eine grelle gelbe Flamme mit sich und dann den erstickenden Geruch nach Benzin.
Nein! Nein! Nein!
Sie wachte unbedeckt auf, in Schweiß gebadet, die Arme über den Augen, hin und her schaukelnd, zitternd. Die Decken lagen auf dem Boden. Sie zog sie aufs Bett und versteckte sich fröstelnd unter ihnen. Warum waren sie auf diese Art gestorben? Sie war damals erst zwanzig gewesen. Wußten sie nicht, daß sie sie allein ließen, als sie sie am meisten brauchte?
Sie rollte auf den Bauch herum und verbarg den Kopf im Kissen, um die Schluchzlaute zu ersticken.
So muß ein Nervenzusammenbruch sein, dachte sie. Man verliert die Kontrolle. Ihre Eltern waren seit fast zwanzig Jahren tot, bei einem Zusammenstoß nur drei Meilen von ihrem Haus entfernt von einem betrunkenen Autofahrer getötet. Warum jetzt?
Als die Angst sich legte, blieb der Schmerz — ein dumpfer, roher Schmerz unter der Brust. War es das, worauf Sonya angespielt hatte? War dies das andere Trauma, mit dem man sich befassen mußte? Man brauchte keinen Psychiater, um die Bedeutung ihres Traumes zu übersetzen.
Wetzon trocknete die Augen am Kissenbezug und tastete nach ihrer Uhr, dann nach dem Lichtschalter. Sie befand sich in Boston im Ritz. Es herrschte Totenstille. Ihre Uhr zeigte fünf. Sie war außer Atem, als hätte sie die ganze »Spiegelnummer« aus Follies durchgesteppt, ohne zu verschnaufen.
Das Zimmer engte sie ein. Die Decke schien sich langsam zu senken. Als sie aufstand, fuhr ihr ein Krampf in die linke Wade und sandte Schmerzwellen von der Wade zum Fuß und zum Oberschenkel.
Was geschah mit ihr? Unter Höllenqualen humpelte sie zur Badewanne und ließ das Wasser eiskalt laufen, um die Wade zu massieren. Ich muß weg von hier. Sie stieß ihren Fuß stöhnend ins kalte Wasser und knetete und massierte den Krampf weg. Ihr rechter Knöchel war schwarz und blau und empfindlich. Sie verlor die Beherrschung. Zieh dich an, pack deine Sachen und reise ab, Wetzon.
Im Nu hatte sie geduscht, sich angezogen, Make-up aufgelegt und gepackt. Sie trug ihre Tasche selbst zum Aufzug. Das Hotel erwachte gerade erst. Es war Samstag.
Sie rechnete nicht damit, um diese Uhrzeit Bekannten zu begegnen — Theaterleute waren in der Regel keine Morgenmenschen — , aber als sie den Aufzug betrat, stieß sie mit Joclyn zusammen.
»Entschuldigung, ich dachte, ich wäre schon unten.« Das Gesicht der Schauspielerin wies Tränenspuren auf, und in den Fältchen unter den Augen hing Wimperntusche. Ihr Flirt mit Jojo machte sie anscheinend nicht sehr glücklich. Sie wandte sich von Wetzon ab.
»Joclyn, kann ich etwas für Sie tun?«
»Sie?« Es war eine Anklage.
»Ja. Ich bin dabeigewesen, wissen Sie.«
»Ach, tatsächlich?«
Sei still, Wetzon, dachte sie. Du kommst nicht ohne Schrammen davon. »Ich meine, das Theater steckt immer noch in mir.«
Joclyn schien dies in Erwägung zu ziehen. Als sich die Tür zur Halle öffnete, ging sie hinaus, dann wandte sie sich um. »Sie gehören nicht mehr zu uns. Sie sind eine von denen.«
Die Worte waren eine schallende Ohrfeige. Sie schwirrten Wetzon noch durch den Kopf, während sie auf ein Taxi wartete. In einer Sache hatte Joclyn recht. Wetzon gehörte nicht mehr zum Theatervölkchen. Sie war eine neurotische Frau, die auf die Vierzig zuging und die nie eine richtige Beziehung mit jemandem gehabt hatte.
Der Urheber dieser Worte stieg gerade vor dem Hotel aus einem Taxi. »Leslie, Liebe!« Mort begrüßte sie mit einem feuchten Kuß. »Du fährst? Mach’s gut.«
Sie stieg in sein Taxi. »Wo kommen Sie gerade her?« fragte sie den Fahrer.
»Logan.«
»Logan?« Was zum Kuckuck hatte Mort am Flughafen zu schaffen? »Dahin fahren wir auch.«
Der Flugkartenverkäufer am Schalter des USAir-Pendlers unterhielt sich mit einer Gruppe. Er hielt einen Pappbecher mit Kaffee in den Händen. Weil Wetzon die einzige Kundin war, ließ er sich Zeit. Warum auch nicht? Schließlich war es Wetzon, die so schnell wie möglich die Stadt verlassen wollte. Am liebsten hätte sie sich Flügel wachsen lassen und wäre weggeflogen.
Als er sein Gespräch endlich beendet hatte, lächelte der Schalterangestellte Wetzon höflich an und nahm ihre Kreditkarte entgegen. Der erste Flug ging um sechs Uhr dreißig, teilte er ihr mit, und der war gerade weg. Sie nahm ihre Tasche und folgte den Flugsteigangaben zum Kontrollband, legte Mantel, Reisetasche und Handtasche darauf, dann ging sie ohne Probleme durch den Eingang.
Ein heruntergekommenes Restaurant befand sich gleich links von ihr. Wetzon bestellte einen kleinen Orangensaft, koffeinfreien Kaffee und einen getoasteten englischen Muffin, wischte ein zerknülltes Bonbonpapier und ein Sortiment Krümel vom Sitz und setzte sich hin. Behutsam vermied sie jede Berührung mit dem Tisch, der so klebrig war, daß man Fliegen darauf hätte fangen können. An den anderen Tischen saßen ein Arbeiter in Flughafenuniform und zwei ältere Frauen in Hosenanzügen aus Polyester und mit dauergewelltem Haar, das kraus geworden war.
Nachdem sie zwei Servietten auf dem Tisch ausgebreitet hatte, stellte sie ihr Frühstück hin und nahm ihre Vitamine aus der kleinen Reißverschlußtasche. Ihre Gedanken konzentrierten sich auf sie selbst. Der Traum hatte sie erschüttert, hatte alle anderen Gedanken verdrängt.
»Leslie, hallo! Mann, ich hatte gehofft, daß wir uns über den Weg laufen.«
Wetzon wurde aus einem beinahe tranceartigen Zustand gerissen. Sunny Browning stand über ihr. Beim Lächeln entblößte sie die langen weißen Zähne. Würde sie gleich loswiehern?
»Kaffee bitte«, sagte Sunny zu dem Mann hinter der Theke. Sie hatte einen Stuhl vorgezogen und sich gesetzt, bevor Wetzon etwas sagen konnte. »Na«, meinte Sunny, »ist das denn die Möglichkeit?«
Wetzon schüttelte den Kopf. »Wie kommt es, daß Sie zurückfliegen?«
»Einiges zu tun«, sagte Sunny ausweichend. Sie stand auf, holte den Kaffeebecher an der Theke ab und setzte sich wieder. Sie trug die gleiche Aufmachung wie auf dem Herflug, schwarz auf schwarz, Pullover, Jacke und Stiefel, aber statt eines Rockes eine schwarze Lederhose mit einem Kettengürtel aus Metall und Leder. Ihre streifig blonde Mähne wurde vom Mantelkragen gebändigt. Vor der Schießerei und dem medizinisch bedingten Haarschnitt hatte Wetzon im Winter das Gefühl des Haares im Nacken geliebt. Sunny trank einen Schluck Kaffee und ließ einen Lippenstiftring auf der Tasse zurück. »Alle möglichen Kleinigkeiten zu erledigen.«
»Zum Beispiel?«
Sunny starrte sie an, grüne Augen aus totenbleichem Teint. Ihre Finger spielten nervös an den Perlenschnüren, die bis zur Taille hingen. »Also sind Sie eine Spionin...«
»Spionin? Ich bitte Sie. Susan ist eine alte Freundin. Sie hat Angst, daß derjenige, der Dilla getötet hat, hinter ihr her ist.«
Sunny schnaubte verächtlich. »Ist das nicht ein wenig lächerlich?«
»Sie meinen, der Mord an Dilla war ein einmaliger Ausrutscher?«
»Das will ich nicht sagen, Leslie. Aber es ist einfach nicht plausibel, daß es einer von uns sein soll.«
»Wie erklären Sie dann Sam?« Sunny spielte mit den Perlen, ohne zu antworten, und Wetzon fügte hinzu: »Susan glaubt, daß jemand aus der Hotshot-Truppe Dilla ermordet hat, und wahrscheinlich hat sie recht. Und sie glaubt, daß sie von jemandem verfolgt wird.«
»Verfolgt? Ist sie verrückt?« Sunny nahm einen Schluck Kaffee, den Blick auf dem Kellner, dann sah sie wieder Wetzon an. »Sie glauben doch nicht, daß ich es bin?«
»Sind Sie es?« Wetzon schob den halb gegessenen Muffin weg und langte nach dem Becher. Kleine Fettkügelchen trieben auf der schwarzen Oberfläche des Kaffees.
»Du meine Güte, Leslie, diese Seite von Ihnen kenne ich noch gar nicht.«
»Sie kennen überhaupt noch keine Seite von mir, Sunny.« Sie bedachte Sunny mit einem knappen zynischen Lächeln.
Sunny nippte mit gesenktem Blick an ihrem Kaffee. »Susan ist mir sowieso völlig gleichgültig.«
»Und Dilla? Sind Sie gut miteinander ausgekommen?« Wetzon wurde langsam wieder forsch. Es geht nichts über eine Morduntersuchung, um das Blut schneller durch die Adern fließen zu lassen, dachte sie.
Sunny zog ihr Haar aus dem Mantel. »Sicher. Sie war in Ordnung.« Sie hörte sich nicht sehr begeistert an.
»Da Dilla nicht mehr da ist, wird Mort stärker von Ihnen abhängig sein.«
»So? Das genügt nicht, um deswegen zu töten. Und was ist mit Sam? Warum hätte ich das tun sollen?«
»Ich glaube, Sam mußte sterben, weil er wie Mort aussah.«
»Da haben Sie’s. Ich möchte nicht, daß Mort etwas passiert.« Sie grinste Wetzon plötzlich an. »Trotzdem. In einem Punkt haben Sie recht, Leslie. Ohne Dilla ist Mort stärker von mir abhängig, um seine Shows zu produzieren. Er hat keine Wahl. Ich werde sehr sorgfältig auf Mort aufpassen.«
»Okay. Haben Sie irgendwelche Theorien, wer Morts Tod wünschen könnte?«
Sunny lachte. »Wie können Sie das fragen, ohne das Gesicht zu verziehen?«
Jetzt mußte auch Wetzon lachen. »Ja. Vermutlich lautet die Antwort auf diese Frage, >Wir alle<.«
»Ich liebe Mort«, sagte Sunny, »aber er ist egoistisch, intrigant, krankhaft selbstgefällig und ziemlich verrückt.«
»Und sadistisch?«
»Das auch. Aber nach einem seiner Koller tut es ihm immer leid.«
»Und er entschuldigt sich nie, oder? Er bringt die Leute immer soweit, daß sie tun, was er will. Auf diese Art muß er nicht zugeben, daß er im Unrecht ist.«
Sunny sah Wetzon nachdenklich an. »Sie haben recht. Zu den Dingen, die ich in New York erledigen muß, gehört auch, Phil zu überreden, wieder mitzukommen.«
»Heißt das, Phil ist schon aus Boston abgereist?«
»Anscheinend weiß keiner, wo er sich aufhält. Sie müssen letzte Nacht zurückgefahren sein.«
»Sie?«
»Edna. Seine Mutter.«
»Phil tut mir leid«, sagte Wetzon im Aufstehen. »Er ist jung und eifrig. Mort ist ziemlich grob zu ihm gewesen, und normalerweise mag Mort junge Männer.«
»Leslie...«
»Woher wissen Sie, daß er zurückkommen wird?«
»Er wird. Ihm ist das Stück zu wichtig. Er stammt aus einer Theaterfamilie.«
»Sie meinen, wegen seiner Mutter, der Kassiererin?«
»Gewissermaßen. Sie erinnern sich doch an Lenny Käufer? Phil ist Lennys Enkel.«