Phil rührte sich als erster. Er stürzte an Wetzon vorbei den Gang hoch. Auf der Bühne hatte sich niemand bewegt. Der grausige Anblick, der sich ihnen bot, war noch nicht in ihr Bewußtsein gedrungen.

Wetzon wollte den Gang hinunter auf die Bühne zugehen, dann hielt sie inne. Phils dumpfe Schritte hallten durch das modrige Theater wie das Klopfen eines Geistes. »Phil, warten Sie«, rief sie, als sie die Stimme wieder fand. »Jemand — Carlos — Walt muß die 911 anrufen. Holt die Polizei.« Sie schwankte, verlor beinahe das Gleichgewicht, fing sich und lief dann Phil nach, den Gang hoch an den Stehplätzen vorbei. »Phil, nichts anfassen!«

Am oberen Ende der Treppe zum Rang rutschte sie und blieb stehen. Die Stelle war dürftig beleuchtet. Es stank nach Tod und allem, was damit verbunden war. Und Phil war verschwunden. Sie hörte Stimmen von der Bühne. Jemand schluchzte. »Phil!« Ihre Stimme klang dünn, doch dieses alte Theater verfügte über eine vorzügliche Akustik, und ihr Ruf trug durch das leere Haus.

Ihr hob sich der Magen, und sie begann am ganzen Körper zu zittern. Sie ging zur Treppe zurück, setzte sich hin und legte den Kopf auf die Knie.

»O Gott!« Phils Stimme. Dann Würgelaute.

Soviel, dachte Wetzon kläglich, zu einem unberührten Tatort. Sie hörte jemanden hinter ihr stolpern, raffte sich auf und fragte: »Ist es Dilla?«

Phils Gesicht war kreidebleich. Er hatte seine Mütze verloren; Schweißtropfen standen auf seiner Stirn und Oberlippe. An seiner Hand war Blut, und er roch nach Erbrochenem. »Verdammt«, brachte er mühsam heraus. »Verdammt, verdammt, verdammt. Jemand hat ihr den Schädel eingeschlagen.« Er taumelte, zusammenhanglos plappernd, die Treppe hinunter.

»Phil? Ist es Dilla?« Doch Wetzon redete mit der Luft. Phil war wieder verschwunden. Sie stand auf, aber anstatt hinunterzugehen, trat sie langsam in den Mittelgang.

Blut färbte den Teppich mit dem Rosenmuster schwarz um das obere Ende der Treppe. Es durch tränkte einen Stapel alter Programmhefte, die jemand hinter dem ersten Sitz liegengelassen hatte. Der Läufer auf den Stufen hinunter zum Rand des Ranges wies eine Spur von schwarzen Rosen auf, die zu einer unförmigen Masse am Fuß der Treppe führte. Mist, Phil hatte sie von der Stelle bewegt.

Wetzon preßte die Lippen aufeinander. Wie hatte es Dilla bis hinunter in die vorderste Reihe und halb über die Brüstung schaffen können, da sie hier oben schon soviel Blut verloren hatte? Es sei denn, sie wäre noch am Leben gewesen... Wetzon senkte den Kopf und wich zurück.

»Häschen!«

Als sie sich abrupt umwandte, verlor sie beinahe wieder das Gleichgewicht, stolperte über die oberste Stufe und griff nach der Wand; ihre Hand war klebrig und hinterließ einen roten Fleck. Carlos kam die Treppe herauf. »Halt«, keuchte sie. »Es ist...schlimm.« Sie holte ihn ab, und zusammen gingen sie, sich gegenseitig stützend, hinunter. Phil kauerte auf der untersten Stufe, den Kopf in den Händen.

»Es ist Dilla, nicht?« Nur mit Mühe brachte Carlos die Worte heraus.

»Wer könnte es sonst sein?« Wetzon strich sich fast ärgerlich das Haar aus dem Gesicht. Es war über ein Jahr her, seit sie es nach dem Vorfall, den sie Schuß-frei-auf-Wetzon-Affäre nannte, hatte abschneiden müssen, und es brauchte eine Ewigkeit, bis es so weit nachgewachsen war, daß sie es zu ihrem alten Ballerinaknoten aufstecken konnte.

»Und ich habe sie zum Teufel jagen...mein Gott!« Carlos blickte auf Phil hinunter und tätschelte seine Schulter. »Walt muß den Bühneneingang im Auge behalten.«

»Ist er offen?«

»Ja. Jemand hat einen Schlüssel im Schloß abgebrochen und sie blockiert.« Carlos kniete vor Phil und berührte die Hände, die immer noch dessen Gesicht verbargen. »Komm, Phil«, sagte er sehr zart. »Komm mit.«

Phil rieb sich die Augen mit den Fäusten und unterdrückte ein Schluchzen. Er stand auf, die Augen mit Blut umrandet wie ein teuflischer Vampir, und folgte Carlos und Wetzon wortlos.

»Mort dreht durch, wenn er...«

Carlos kam nicht dazu, zu Ende zu sprechen. Mort Hornberg, der hochgeschätzte Regisseur von Hotshot: The Musical, polterte aus der Seitenkulisse auf die Bühne. Die Frau neben ihm kannte Wetzon nicht. Ihnen folgten Sam Meidner, Komponist und Dichter, und JoJo Diamond, der Dirigent, noch schlampiger, als Wetzon ihn in Erinnerung hatte, und als letzte Aline Rose, Textbuchautorin.

Mort war in heller Aufregung.

Wetzon, Carlos und hinter ihnen Phil gingen apathisch den Mittelgang hinunter auf die Bühne zu. Wetzon sah Carlos’ Tänzer in der ersten Reihe sitzen, flüsternd und raschelnd, die Köpfe hin und her bewegend. Zuckende Bündel nervöser Energie.

Wellen der Hysterie gingen von der Bühne aus und pflanzten sich durch das Haus fort. Ein wimmernder Klagelaut wurde von der Kuppel zurückgeworfen, ließ die Kristalle des Kronleuchters zittern und verstummte. Stille senkte sich wie eine kalte Decke auf alle.

Wetzon setzte sich auf einen Randplatz in der dritten Reihe und wartete. Carlos hatte erwähnt, daß er mit Mort reden wollte... Irgendwo war ihr das Zeitgefühl abhanden gekommen. Jetzt drängten sich Streifenpolizisten und andere Fremde auf der Bühne. Sie hörte Stimmen vom Rang über ihr kommen, aber sie schaute nicht hoch.

Jemand setzte sich hinter sie. Sie spürte seinen Atem im Nacken. »Detective Sergeant Bernstein, Miss. Walter... hm.« Sie hörte ihn eine Seite in seinem Notizbuch umblättern. »Greenow. Walter Greenow sagt, Sie hätten die Tote als erste gesehen.«

Sie nickte’ während der Mut sie verließ. Diese Stimme kannte sie. Als sie sich auf dem Sitz umdrehte, sah sie die buschigen Augenbrauen, die zwischen seinen Augen zusammenstießen. Sie senkte den Blick. Vielleicht würde er sie nicht wiedererkennen.

»Okay. Bleiben Sie hier sitzen. Ich komme wieder.« Der Detective stemmte sich von seinem Platz hoch und reihte sich in den Zug zur Rangtreppe ein.

Es war der unangenehme Detective Bernstein, den sie vom Manhattan North kannte. Dickbäuchig, graues krauses Haar, und sie wußte, daß er unter dem braunen Filzhut einen Jarmulke an seinen Kopf gesteckt hatte. Vor drei Jahren hatte er sie des Mordes beschuldigt.

Sie rutschte auf dem Sitz vor und blickte nach oben zum Rang, wobei sie in der letzten Reihe des Parterres kurz Phil sah, der ernst mit einer dicken Frau redete, die mit dem Rücken zu Wetzon stand. Im Rang herrschte Betriebsamkeit, er war mit einem gelben Band abgesperrt.

Als sie wieder nach vorn blickte, sah sie, daß Gerry Schoenfeld, der Vorsitzende der Shubert Organization, eingetroffen war. Er ging schnell den Mittelgang im Parterre hoch. Hier empfing ihn die Frau, mit der Phil zusammengesteckt hatte.

Sie stand an der letzten Reihe, eine gesichtslose Silhouette im Schatten. Wetzon hörte Schoenfeld sagen: »Hinter der Kasse gibt es einen Raum, den Sie benutzen können. Was halten Sie davon, Edna?« Es war eher eine Feststellung als eine Frage. »Wir stellen ein paar Stühle hinein, und ich lasse Kaffee bringen. Das ist eine furchtbare Tragödie, wirklich furchtbar. Wir möchten alles tun, was in unserer Macht...«

»Sehr gut, Sir. Wir wissen es zu schätzen.« Bernstein war wieder da. Er drückte Wetzons Schulter und flüsterte ihr ganz leise ins Ohr: »Gehen Sie bloß nicht weg, hören Sie?«

Sie sah ihn verstohlen an, und er zwinkerte ihr zu. Oder war es ein nervöses Zucken? Entzückend, dachte sie bedrückt. Einfach entzückend. Sie fragte sich, ob die Polizistin, die mit ihm zusammengearbeitet hatte, als sie sich zuletzt begegnet waren, immer noch mit ihm arbeitete. Er war so ein sexistisches Schwein.

In einem Wirbel aus purpurrotem Cashmere warf sich Aline Rose auf den Platz hinter Wetzon, nachdem Bernstein gegangen war. Der Sitz protestierte vergeblich mit lautem Quietschen. Die weiten Falten von Alines Cape konnten ihren plumpen Körper nicht verbergen. »Böse Sache, hm?« Ihre rotgefaßte Brille saß schief auf der Nase, weil ein Bügel fehlte. Sie sah aus wie ein Mops mit Brille. »Kenne ich Sie?«

»Ich bin Leslie Wetzon, Aline.« Wetzon reichte ihr die Hand. »Ich war früher...«

»Ich erinnere mich an Sie. Carlos’ Freundin.« Die Textbuchautorin übersah Wetzons Hand. »Hier bin ich, Edward!« Ein androgyner junger Mann, dessen lederne Motorradjacke seine schwellenden Muskeln nicht verbergen konnte, setzte sich hinter Aline und begann, ihren Nacken zu massieren. »So ist’s brav.« Aline nickte Wetzon zu. »Mein Assistent, Edward Gray.« Anscheinend hatte sie Wetzons Namen schon wieder vergessen.

Edward trug kleine goldene Ringe in den Ohrläppchen. Er musterte sie ungeniert. Sie sah, daß er zu dem Schluß kam, daß sie nicht wichtig für ihn war, was ihr nur recht sein konnte.

»Nicht aufhören, Edward.« Alines Kopf hing schlaff herab. Ihr schwarzer Eyeliner beschrieb eine Achterbahn auf ihren Lidern, als hätte Ray Charles ihn angebracht. »Sie glauben, es ist Dilla. Raubüberfall oder so. Ich meine, wenn man sich mit dem ganzen protzigen Schmuck auftakelt, wird man leicht zur Zielscheibe.«

»Klar.« Edward knetete weiter. Seine Miene veränderte sich nicht.

»Gewiß, Dilla war Dilla. Sie hatte viele Feinde - autsch! Nicht so fest, Edward.«

»Feinde?« Wetzon lächelte. »Doch nicht unsere Dilla.«

»Jedenfalls war sie gestern abend bei bester Gesundheit, als wir gingen...«

»Wie? Sie meinen, Sie waren gestern abend hier?«

»Wir alle. Das heißt, fast alle. Mort, Sam, JoJo, Edward und ich. Und Sunny Browning, Morts Assistentin. Wir gingen allerletzte Änderungen der Inszenierung durch...« Alines Stimme verlor sich.

»Sie haben vergessen, Carlos zu erwähnen.«

»Oh.« Alines Blick war ausdruckslos. »Carlos?Ja, natürlich.« Sie rutschte herum, damit sie voll in den Genuß von Edwards Händen kam. Ihr Cashmereumhang fiel auf, und ein Stück weißen Mulls zeigte sich einen Moment, dann war es wieder verdeckt.

Alines rechtes Handgelenk war verbunden.