Die Tür gab ihrem Gewicht nach und schwang nach innen, so daß Wetzon unsanft auf den Boden fiel. Sie landete nicht eben graziös auf dem Hinterteil.
»Na so was«, hörte sie einen Mann sagen. »Tut mir leid, daß ich Sie erschreckt habe.« Er reichte ihr die Hand und half ihr auf und wieder nach draußen, dann hob er ihre Aktentasche auf. Verlegen zog sie ihre Kleidung gerade und bemerkte, daß sie ihre Handtasche krampfhaft umklammerte.
»Alles in Ordnung? Sie haben mich wohl nicht hier sitzen sehen.«
Wetzon sah in dem trüben Licht zu ihm hoch. Ziemlich hoch. Er hatte ein freundliches Lächeln, gelbliche Zähne unter einem drahtigen Schnäuzer, tiefe Falten um die Augen. Er schnickte seine Zigarettenkippe auf die Straße und blickte stirnrunzelnd auf sie hinunter.
»O’Melvany«, sagte Wetzon.
Er blinzelte, dann schnalzte er mit den Fingern. »Na klar, Silvestri«, rief O’Melvany. Er erinnerte sich nicht an ihren Namen.
»Leslie Wetzon.«
»Klar«, sagte er und zeigte mit dem Finger auf sie. Eddie O’Melvany war Detective beim Neunzehnten Revier und einer von Silvestris gelegentlichen Pokerkumpanen. Wetzon hatte ihn vor dreijahren kennengelernt, als die Schulfreundin ihrer Freundin Hazel ermordet worden war. Seitdem hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Was zum Teufel machte er hier?
»Ich habe Sie nicht gesehen«, sagte Wetzon. »Und dabei werfen Sie einen langen Schatten. Sind Sie jetzt beim Zwanzigsten?« Das Zwanzigste war ihr Revier und umfaßte wahrscheinlich auch die 73. Street.
»Nee. Immer noch beim Eins-Neun.« Er zündete eine neue Zigarette an, und das Licht leuchtete auf seinen gelblichen Schnauzer. »Ah, da kommt sie.« Er strahlte und blickte an ihr vorbei.
Wetzon wandte sich um. Sonya hatte gerade die Innentür aufgemacht.
»Ihr beide braucht nicht vorgestellt zu werden, oder?« Sonya sprach ganz ruhig, doch Wetzon bemerkte ihre Nervosität.
Wetzon grinste. »Wirklich nicht. Es war nett, Sie zu treffen, Detective O’Melvany. Gute Nacht.« Sie sprang praktisch die Treppe hinunter und hinüber zum Broadway. Was für eine Überraschung. Wie lange das schon gehen mochte? Silvestri hatte sie zum Neunzehnten gebracht, um mit O’Melvany über den Mord an Peepsie Cunningham zu sprechen. O’Melvany hatte an jenem Tag eine scheußliche Laune gehabt, weil er unter einem Hexenschuß litt und der Schneesturm seine Detective-Truppe dezimiert hatte. Wetzon hatte O’Melvany Sonyas Karte überreicht und ihm vorgeschlagen, Sonyas bioenergetische Therapie zu probieren.
Sie fand es so komisch, daß sie noch auf dem Broadway grinsen mußte. Ob Silvestri es wußte?
Bei Ollie’s in der 84. Street kaufte sie eine Portion Minestrone. Sie hatte noch Reste zu knabbern, und mit ein bißchen Glück würde sie die Nacht vielleicht durchschlafen können.
Ein Mann mit schütterem Haar, in schmutziger Daunenjacke, zerrissener Hose und Schuhen ohne Riemen und ohne Socken, kam an der Ecke 86. und Amsterdam auf sie zu und schüttelte einen Pappbecher vor ihr, so daß sie Münzen klappern hörte. »Ich brauche hundertfünfzigtausend für die Anzahlung einer Eigentumswohnung«, sagte er. Er hörte sich an wie ein Börsenmakler, der auf einen Kunden einredet.
Verblüfft beging sie den Fehler, ihn direkt anzusehen. Er hielt ihr den Becher vor die Nase.
»Wenn Sie hungrig sind, hier ist heiße Suppe«, sagte sie und bot ihm das Päckchen an.
Er stieß es so heftig von sich, daß es ihr beinahe aus der Hand gefallen wäre. »Suppe! Ich will keine Suppe!« Er war wütend.
Wetzon blieb nicht stehen, um zu sehen, was er tun würde, sondern machte sich eilends davon. Was sollte das heißen? Essen war nicht gut genug. Heute wollten sie Geld — und nicht zuwenig. Doch warum überraschte sie das? Er war ein New Yorker Obdachloser, und jedermann wußte, daß New Yorker nach den Sternen greifen.
Sie ging in Gedanken ihre Begegnung mit Susan Orkin durch, als sie vor ihrem Haus ankam. Die Außentür war abgeschlossen, und Rafe, der Nachtportier, war nicht zu sehen. Sie suchte in der Handtasche nach dem Schlüsseletui, fand es, zog es heraus. Eine Hand schloß sich über ihrer und nahm die Schlüssel.
»Das ist nicht klug, auf der Straße nach einem Schlüssel zu kramen. Welcher ist es?«
Sie zeigte auf den längsten an der Kette. »Tu ich jemals etwas, was dir gefällt, Silvestri?«
Er feixte sie an und schloß die Tür auf, dann ließ er sie vorangehen. Silvestri hielt den Aufzug auf, während sie ihre Post holte, und fuhr mit ihr hinauf. Vor der Wohnungstür setzte sie die Baskenmütze ab und zog fragend eine Augenbraue hoch.
»Möchtest du heute nacht Gesellschaft?« fragte er.
Ihr Herz schlug einen Purzelbaum. »Mann, wie ich das hasse«, flüsterte sie.
»Ja oder nein.« Sein Atem kitzelte ihre Stirn. Er schloß die Tür auf und ging hinter ihr hinein.
»Habe ich die Wahl?« Sie stellte die Tüte mit der Suppe auf den Tisch neben die Aktentasche und die Handtasche.
»Klar doch.« Silvestri stieß die Tür mit dem Absatz zu und küßte sie. Er schmeckte nach Knoblauch und Olivenöl, ihren Lieblingszutaten. Mit seinen Worten hatte er gescherzt, aber sein Kuß war kein Scherz.
»Schöne Wahl«, sagte sie, als er sie losließ. »Wie sieht es mit Abendessen aus? Ich habe Suppe da und Reste.«
»Ich habe eine Kleinigkeit bei Vinnie’s gegessen. Ich trinke ein Bier.«
Wetzon hängte ihren Mantel in den Flurschrank, während er seine Jacke über eine Stuhllehne legte. Dann streifte er die Schulterhalfter mit der Waffe ab.
»Hast du gewußt, daß Eddie O’Melvany Sonya Mosholu besucht, privat, meine ich?«
»Ach ja? Kann sein, daß er was erwähnt hat. Ich habe es vergessen.«
»Der große Silvestri vergißt etwas? Nicht zu glauben.«
Sie holte zwei Flaschen Beck’s Light und den Rest Gemüse im Plastikbehälter aus dem Kühlschrank, legte Servietten auf ein Tablett, stellte die Suppe dazu und brachte alles ins Wohnzimmer. Silvestri hatte die Schuhe ausgezogen, lag auf dem Sofa und betrachtete den Raum. »Rutsch rüber«, sagte sie.
»Gefällt mir, was du aus der Wohnung gemacht hast.« Er machte ihr ein wenig Platz und trank einen kräftigen Schluck Bier.
»Danke.« Sie löffelte die köstliche Suppe, während Silvestri mit den Fingern am Gemüse zupfte. »Ich habe Sonya heute abend wegen des Traumes aufgesucht.«
»Sehr gut.« Er schien sich zu freuen und nahm einen weiteren kräftigen Zug aus der Flasche.
»Und Susan Orkin früher am Abend.«
»Ach ja?« Er wirkte weniger erfreut.
»Ich bin mit Susan auf dem College gewesen. Sie möchte mich engagieren, damit ich herausbekomme, wer Dilla ermordet hat.« Sie schloß die Augen und wartete auf die Explosion.
Eine Weile kam nichts von ihm, und sie schlug die Augen auf.
»Überraschung, Überraschung«, bemerkte er sarkastisch. »Man kann sich darauf verlassen, daß du es irgendwie schaffst, dich einzumischen.«
Sie sah ihn gehässig an. »Du wirst mich dabei brauchen, Klugscheißer.«
Er lachte, dann ließ er sich zurückfallen und zog sie zu sich herunter.
Das Telefon läutete.
»Ist das Gerät eingeschaltet?« Mit dem Kinn an seiner Brust nickte sie. »Dann geh nicht ran.« Er küßte ihre Stirn, ihre Nase. Der Anrufbeantworter schaltete sich ein und begann zu knacken. Sie schlang die Arme um seinen Hals. Das Gerät nahm die Nachricht auf.
»Leslie, hier ist Alton. Es ist hier nach elf und eine von diesen unglaublich schönen Nächten. Du fehlst mir sehr... Irgendwie bin ich froh, daß du nicht da bist. Es gibt da etwas, worüber du bitte nachdenken möchtest... Wir können reden, wenn ich nach Hause komme.«
Wetzon hielt sich die Ohren zu. Sie konnte einen erregten Unterton aus Altons Stimme heraushören.
Silvestri hielt sie fest und bedeckte ihr ganzes Gesicht mit süßen warmen Küssen. Sie wollte nicht hören, was Alton zu sagen hatte, aber sie hörte es dennoch. Beide hörten sie es.
»Ich liebe dich sehr«, fuhr Alton fort. »Ich möchte dich heiraten, Leslie. Ich möchte wissen, daß du da bist, daß wir für den Rest unseres Lebens zusammen sein werden. Ich sehe dich Samstag, dann können wir darüber reden. Gute Nacht, mein Schatz.«
Die Verbindung wurde unterbrochen. Das Gerät schaltete ab.
»O nein, nein, nein«, schrie Wetzon. »Ich ertrage es nicht. Ich werde Einsiedlerin.«
Silvestris Lachen begann wie ein Magenknurren. Sie machte sich von ihm los und setzte sich auf. »Was zum Teufel soll ich machen?«
»Du könntest ihn heiraten.« Er lachte laut heraus.
»Ich will weder ihn noch dich, noch sonst wen heiraten.« Sie sprang auf und begann im Wohnzimmer auf und ab zu gehen.
»Na, da hast du Glück, Les.«
Sie blieb auf der Stelle stehen. »Hm?«
»Ich bitte dich nicht, mich zu heiraten.«
Sie stand eine Weile wie erstarrt da, dann fiel sie auf die Knie. »Gott sei Dank«, sagte sie inbrünstig.
Er hob sie auf und trug sie ins Bett. Keiner von beiden hörte den nächsten Anruf.