»Mark?« Wetzon flüsterte. »Was geht hier vor?«
Von irgendwo aus den Tiefen des Theaters drang das Schreien eines verwundeten Tieres. Wetzon fuhr zusammen. Der düstere Korridor vor ihr war ein Labyrinth mit überraschenden Biegungen. Da war der Schrei wieder. Jetzt schienen Stimmen zu antworten.
»Es ist Mort...« Mark hatte einen irren Gesichtsausdruck; er stand halb auf, bereit, die Flucht zu ergreifen.
Die Tür zur Allen’s Alley hinter dem Theater stand halb offen; von der Gasse waren Stimmen zu hören. Füße stampften über den Flur, begleitet von den Schreien, und die Frau mit dem orangefarbenen Haar erschien, das Gesicht gespenstisch grün. »Rufen Sie die Polizei«, keuchte sie schwankend. »Da liegt eine Leiche auf der Herrentoilette.«
Draußen brach das Durcheinander der Stimmen ab. Phil Terrace stürmte durch die Tür und bürstete Schnee von seiner Jacke. Er setzte seine zu große Mütze ab und schüttelte sie aus. Sein Gesicht glänzte, eine Art öliger Schimmer gemischt mit schmelzendem Schnee, und drückte Erwartung aus. »Leslie?«
Er weiß es, dachte Wetzon.
Die Portiersfrau geriet immer mehr in Panik; ihre Augen wurden unkontrollierte Flügel. »Es ist Mr. Hornberg. Ich habe seine Mütze gesehen. Rufen Sie die Polizei. Jemand hat ihm den Schädel eingeschlagen.«
Sprachlos sah Wetzon Mark an. Er weiß es auch, dachte sie. Sie stolperte zum Telefon, doch der Hörer fiel ihr aus den zitternden Händen. »Tun Sie es, Phil. Rufen Sie die 911. Jemand hat Mort ermordet.«
Phil glotzte sie an. »Hm?«
Worauf wartete er? »Rufen Sie die Polizei. Sie müssen...« Wetzon holte tief Luft und sprang zum Telefon.
Mit ein paar schnellen Schritten baute Phil sich zwischen ihr und dem Telefon auf. Cerberus mit dem orangefarbenen Haar schrie: »Holt die Polizei!«
»Was soll das, Phil?« fragte Wetzon. »Sind Sie verrückt? Gehen Sie mir aus dem Weg.« Jemand packte sie von hinten an den Schultern. Ihr Knöchel protestierte.
Fran Burke hielt sie fest. Sein Wollmantel glitzerte vor schmelzendem Schnee. »Immer mit der Ruhe, Mädchen.« Wo war er hergekommen? Sie stieß ihn zurück. »Geh mir aus dem Weg, Fran. Jemand — Mort — ist auf der Toilette ermordet worden. Frag sie.« Wetzon deutete auf die Frau mit dem orangefarbenen Haar. Die Frau brach in Tränen aus.
»Was ist denn hier für ein Geschrei?« Walt Greenow stand im Korridor.
»Leslie behauptet, jemand hätte Mort kaltgemacht.« Hysterie trieb Phils Stimme eine Oktave in die Höhe. Dann begann er zu lachen. »Der ist zu gemein zu sterben.«
»Ruft die Polizei«, schluchzte die Frau mit dem orangefarbenen Haar. »Ruft einen Krankenwagen.«
»Herrgott«, sagte Fran. »Wie sollen wir die Premiere über die Runde bringen?«
Walt runzelte die Stirn. »Ich sehe mal nach. Vielleicht haben Sie sich geirrt.«
»Ich habe mich nicht geirrt.« Cerberus setzte sich schluchzend auf den Stuhl. Wo war Mark geblieben? Wetzon versuchte, sich von Fran loszumachen.
»Nur mit der Ruhe, Mädchen. Wenn Mort tot ist, hilft ihm auch unsere Eile nicht. Vielleicht ist er gar nicht tot.«
»Oh.« Vielleicht war er nicht tot. Fran hatte recht.
»Ich habe nichts gehört«, bemerkte Phil. »Niemand kann im Theater eine Pistole abfeuern, ohne daß man etwas hört.«
»Waren Sie nicht draußen?« Wetzon schüttelte ungeduldig den Kopf. »Und überhaupt, woher wissen Sie, daß es eine Pistole war?«
Er wurde rot. »Ich weiß nicht. Ich habe es einfach angenommen... Das hätte ich für ihn benutzt.« Er sagte es mit einem gräßlichen Vergnügen.
»Das ist einfach wunderbar, Phil. Warum stehen wir hier herum, als würden wir auf die Ouvertüre warten? Geh vom Telefon weg, Fran.«
Phil begann zu lachen. »Die Herrentoilette. Was für ein Abgang.« Weder er noch Fran rührten sich.
Wetzon lehnte sich an die Wand. Ihr Blick begegnete dem der Frau mit dem orangefarbenen Haar. Etwas ging hier vor, woran sie keinen Anteil hatten. Bilder flogen an ihr vorbei: Mort, wie er tobte, mit den Füßen aufstampfte, grausam andere Menschen demütigte. Wo war Carlos? Ach so, ja. Wartete auf sie im Remington’s.
Fran rieb sich die Nase. Seine Lederhandschuhe waren dunkel vor Feuchtigkeit. »Jemand muß Sunny finden. Wir brauchen eine Erklärung für die Presse.«
»Was für eine Erklärung?« Sunny blickte von einem zum anderen.
Hinter ihr ragte Twoey auf. »Wetzon, du hast Blut im Gesicht.« Er wäre auf sie zugegangen, wenn nicht der kleine Raum plötzlich voller Menschen gewesen wäre.
Wetzon berührte ihre Wange. Wie hatte sie Blut ins Gesicht bekommen? Wen hatte sie berührt? Fran?... Mark. Sie stampfte auf. »Was ist bloß mit euch allen los? Geht mir aus dem Weg.« Sie versuchte, sich zwischen Phil und Fran Burke durchzuwinden.
Poppy kam von der Gasse herein, in Pelzmantel und Springerstiefeln, gefolgt von Aline und Edward und... Kay...
»Warte, bis wir es mit Sicherheit wissen«, sagte Fran.
»Was wissen?« fragte Poppy, während sie den Schnee von ihrem Pelz schüttelte.
»Gehen wir alle nachsehen«, schlug Phil vor. Er klang, als wäre es eine Einladung zum Picknick.
»Das geht nicht«, sagte Wetzon. »Sie würden den Tatort verunreinigen.«
Aline ließ ihren Blick über die Gesichter wandern, als versuche sie, sich ein Urteil zu bilden. »Tatort?« fragte sie vorsichtig.
»Wovon redet sie?« Poppy starrte Wetzon feindselig an.
Phil lachte irre.
»Seien wir lieber vorsichtig, was wir sagen«, bemerkte Fran. »Poppy, du bleibst hier.«
»Ganz bestimmt nicht«, erwiderte Poppy.
Wie so ein verdammter Charlie-Chan-Film aus den Vierzigern, dachte Wetzon, während sie ihnen nachsah, als sie abzogen.
Poppys Stimme wurde zu ihr getragen: »Was ist denn? Ihr könnt es mir ruhig sagen.«
Wetzon sprang zum Telefon, tippte die 911 und wartete. Kein Geräusch. Sie betrachtete den Hörer in ihrer Hand, dann ging ihr Blick die Schnur entlang bis zu den vielfarbigen Wurzeln.
Jemand hatte die Schnur aus dem Gehäuse gerissen.