Es kam wieder, als sie am wenigsten damit rechnete. Die blendende Flamme, die sengende Hitze, der beißende Geruch des Pulvers. Unerträglich! Sie zwang sich aufzuwachen.

Die Dunkelheit erstickte sie. Alton murmelte im Schlaf, bewegte seinen Arm, gab sie frei. Am Fußende des Bettes erschien ein fahler Umriß. Zwei Augen funkelten sie an.

Sie rutschte vorsichtig aus dem Bett. Altons Morgenrock hing an einem Haken im Bad. Sie schlüpfte hinein und ging ins Wohnzimmer. Izz folgte ihr. Durchgefroren machte Wetzon es sich auf dem Sofa bequem und breitete eine Wolldecke über die Füße. Izz rollte sich auf ihren Füßen zusammen.

Der Traum war weniger lebhaft und kürzer gewesen, und sie hatte sich selbst davon befreien können. Wie spät war es? Es war zu dunkel, um die Zeiger auf ihrer Armbanduhr zu sehen. Und war das nicht auch gleichgültig? Die eigentliche Frage war, was sie hier machte.

Jene Zeile aus Anatevka - oder etwas Ähnliches — klopfte unaufhörlich an ihr Unterbewußtes. Was war es? Etwas, was Tevje über einen Fisch und einen Vogel sagt, die sich verlieben können, aber wo sollen sie sich ein gemeinsames Leben schaffen?

Sie liebte Alton. Aber er hatte ihr mindestens zwei Generationen voraus. Er würde bald Großvater werden. Sie wollte nicht sein Leben leben. Das erstaunliche Verschwinden der Leslie Wetzon, dachte sie.

Alton hatte um die blonde Maid geworben und sie gewonnen, weil sie es zugelassen hatte. Sie war verwundbar gewesen. Sie hatte seine schützende Liebe akzeptiert, sich an seine Stärke angelehnt, weil sie sich bei ihm sicher gefühlt hatte. Aber in ihrem Innersten wußte sie, daß sie sich nicht für immer an ihn binden konnte. Endgültige Lösungen waren im Spielplan für sie nicht vorgesehen.

Izz regte sich aufmerksam. Wetzon schwang die Beine auf den Boden, scheuchte dabei den Hund auf und tappte ans Fenster. Nebel verhüllte das Museum und den Park.

Sie fand ihre Handtasche auf dem Tisch in der Diele, zog ihren Federhalter und Block heraus und riß ein rosa Blatt heraus.

»Was soll ich sagen, Izz?« Der Hund hob herausfordernd den Kopf. An der Küchentheke starrte Wetzon, mit dem Federhalter in der Hand, lange auf das rosa Papier. Schließlich schrieb sie:

 

Liebster Alton, es tut mir so furchtbar leid.

 

Sonst gab es nichts zu sagen.

Der Ring ging leicht vom Finger ab, als wäre er nie dazu bestimmt gewesen, daran zu stecken. Sie faltete den Ring in die Nachricht, schrieb Alton auf das kleine Quadrat und lehnte es an die Kaffeemaschine.

Im Schlafzimmer zog sie sich rasch an. Alton lag auf dem Rücken, das Haar zerwühlt, das Gesicht jung im Schlaf. Sie würde nie wieder jemanden wie ihn kennenlernen.

Wetzon leinte Izz an, die das Ganze für ein Abenteuer hielt, und das war es ja auch. Sie band den Gürtel um den Regenmantel und hatte gerade die Wohnungstür geöffnet, als ihr Altons Schlüssel einfielen. Sinnlos, sie zu behalten. Es würde bedeuten, daß sie zurückkommen wollte. Sie löste die zwei Schlüssel aus ihrem Schlüsselring und legte sie vor das rosa Papierquadrat.

Die Times vom Sonntag lag auf Altons Fußmatte. Sie machte einen Schritt darüber, dann zog sie die Tür hinter sich zu.

Feigling, schalt die Stimme. Du gibst das Beste auf, was dir jemals passiert ist.

Das Beste, stimmte sie zu, während sie aus dem Aufzug trat, aber nicht für mich.

Sie durchquerte die Halle, wo ein Wachmann in Uniform auf einem Sessel döste. Er machte die Augen auf, als sie und Izz vorbeiflogen — denn mittlerweile rannte sie. Am Morgen würde er vielleicht glauben, geträumt zu haben.

Nach Osten hin, über dem Central Park, zeigten sich hell leuchtende Streifen am Himmel. Der Nebel begann sich zu heben. Auf den Bürgersteigen keine Menschenseele, keine Autos auf den Straßen. Sie spürte ihre Stadt atmen.

Für einige Minuten war sie die einzige Person auf der Welt.

Und dann wurde das Heulen einer Sirene von irgendwo jenseits des Parks laut. Ein Taxi sauste die Central Park West hoch. Izz begann, an der Leine zu zerren, und Wetzon lief nach Westen.

Die Columbus Avenue schlief noch. Die Läden waren noch vergittert; pralle grüne Müllbeutel lagen vor den Häusern und warteten auf die Müllautos.

Die Stadtwerke hatten an der Ecke der 86. Street einen Schacht ausgehoben. Ein schwacher Gasgeruch hing über der Gegend, wo eine Grube in den Asphalt gegraben worden war, und ein Lieferwagen mit blinkenden Warnlichtern paßte auf Männer mit gelben Schutzhelmen unten im Loch auf. Ein anderer Arbeiter hielt oben Wache. Das scharfe Kreischen eines Bohrgerätes erschütterte die Stille vor der Dämmerung. Als Wetzon und Izz vorbeigingen, sah sie, daß der Mann von den Stadtwerken kleine goldene Ringe in den Ohren trug.

Sie begegnete niemandem in der Halle oder im Aufzug. In ihrer Wohnung ließ sie eine Spur aus Kleidungsstücken und Hundeleine hinter sich und kroch ins Bett. Das letzte, woran sie sich erinnerte, war Izz, die sie mit der Schnauze im Kreuz stupste. Und dann schlief sie.

Sie erwachte wie von einer langen Krankheit. Langsam. Sie war wieder sie selbst, ihr eigenes Ich. Izz leckte ihr Gesicht und sprang vom Bett, tänzelte herum, verlangte, gefüttert zu werden. Sie stellte Izz Futter hin und kochte Kaffee, wobei sie jede Bewegung auskostete. Die Sonne erfüllte die Küche mit blendendem Licht. Während sie duschte, ging ihr unaufhörlich der Song aus New Girl in Town durch den Kopf, bis sie endlich sang »It’s Good to Be Alive«. Und es war so gut, lebendig zu sein.

Sie trainierte intensiv zu den Klängen der Brandenburger Konzerte an der Barre, als ihre Türklingel läutete. Izz begann zu bellen. »Ja?« Sie spähte durch den Spion.

»Leslie, bitte laß mich hinein.«

Sie schloß die Augen, öffnete sie. »Okay.« Sie rollte ihr Handtuch um den Nacken und öffnete die Tür. »Wer hat dich hinaufgelassen?« Alton folgte ihr in die Wohnung, und sie schloß die Tür.

»Dein Hausmeister. Er hat mich erkannt.« Er bückte sich, um Izz zu tätscheln, die seinetwegen ganz aus dem Häuschen war. Er trug Jeans, ein blaues Hemd, einen dunkelblauen Blazer. Getrocknetes Blut am Kinn wies auf einen Schnitt vom Rasieren hin.

Sei stark, dachte sie.

»Leslie, ich...« Er streckte die Hand nach ihr aus, und sie wich zurück. Er erschien ihr wie ein außerirdisches Wesen, das ihren Raum besetzte.

»Nein, bitte, Alton. Es hat keinen Zweck.« Sie spürte ihre Lippe zittern.

»Ich dachte, du liebst mich.«

»Das tu ich. Ich werde dich immer lieben.«

Er entdeckte die Scharte in der Tür. »Was ist mit deinem Schloß passiert?«

»Montag abend hat jemand versucht einzubrechen.«

»Montag abend? Warum hast du mir nichts gesagt?« Er schaute sich um, ging langsam aus der Diele ins Wohnzimmer.

»Weil du mich gedrängt hättest, zu dir zu ziehen, und das kann ich nicht.«

»Ich wußte es nicht«, sagte er wie zu sich selbst, während er die Steppdecken, die Bücherwand, die Barre mit dem Spiegel als Hintergrund in sich aufnahm. »Darf ich?« Er deutete auf den Flur.

Sie zuckte die Achseln, sah ihm nach, als er durch den Flur ging und in ihr Schlafzimmer. Ein halbes Dutzend Plies an der Barre hinderten sie daran, zuviel zu denken. Er kam langsam zurück. »Deine Wohnung... Ich habe nicht verstanden... Ich...« Er schien nach den richtigen Worten zu suchen. »Es... du hast... eine sehr deutliche Stimme.«

Sie sah ihn an, während sie sich an der Barre festhielt, spürte das harte Holz, das gegen ihre Wirbelsäule drückte. »Ich weiß. Das ist mein Zuhause. Das bin ich, Alton. Findest du es nicht eigenartig, daß du kein einziges Mal gebeten hast, es zu sehen?«

Er sah am Boden zerstört aus. »Leslie, ich habe zuviel vorausgesetzt. Laß es mich in Ordnung bringen. Wir brauchen nicht sofort zu heiraten.«

»Ach, Alton, es ist alles falsch. Es wird nie funktionieren.« Sie verschränkte die Arme.

Er kam näher und hielt sie fest. Sie rührte sich nicht. Mit klopfendem Herzen empfand sie die körperliche Anziehung zwischen ihnen. »Wir sorgen dafür, daß es funktioniert«, sagte er. »Ich sorge dafür.«

Sie entzog sich ihm. »Ich brauche Freiraum, Alton. Ich möchte keine Trophäe sein. Ich bin nicht sicher, ob ich in deiner Welt glücklich wäre.« Sie lächelte gequält. »Komm, du siehst mich doch eigentlich selbst nicht als Mrs. Alton Pinkus.«

»Doch, habe ich. Ich sehe dich auch als Leslie Wetzon-Pinkus. Ich möchte dich bei mir haben, und ich möchte, daß du glücklich bist.« Seine Hände hingen linkisch herunter.

»Alton, du bist ein lieber, wunderbarer Mann, aber ich kann mit niemandem zusammen sein. Ich habe dich zum falschen Zeitpunkt in meinem Leben kennengelernt. Ich fühlte mich gefangen. Ich wollte weglaufen und habe es schließlich getan. Es tut mir leid, daß ich dir etwas vorgemacht habe. Das alles tut mir leid.«

»Ich gebe dir Freiraum, Kleines, wenn es das ist, was du brauchst, aber ich werde dich nicht aufgeben. Ich liebe dich. Du bist meine Leslie. Ich bin gut für dich, und du bist gut für mich.«

»Alton, bitte, du machst es mir so schwer.«

»Ist es Silvestri? Ist das der eigentliche Grund?«

»Es gibt keinen anderen. Ich bin wirklich nicht deine Leslie. Ich bin niemandes Leslie.« Warum begriff er das nicht und ging einfach? Sie konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten.

»Doch, das bist du, aber ich bin bereit, dir alle Zeit zu lassen, die du brauchst. Du wirst sehen.« Er küßte ihre Tränen fort. »Ich habe dir einmal gesagt, daß ich ein geduldiger Mensch bin. Ich bin es wirklich.«

Ihr Telefon begann zu läuten. Sie machte die Wohnungstür auf. »Leb wohl, Alton.«

»Für jetzt vielleicht, Leslie. Ich rufe dich an.«

Mit einem aufwallenden Schuldgefühl schloß sie die Tür hinter ihm. Sie wußte, wäre er geblieben oder hätte das Telefon nicht geläutet, dann hätte sie vielleicht nachgegeben.

Das Telefon hörte auf zu läuten, als ihr Anrufbeantworter sich einschaltete. Sie erkannte Arthurs Stimme sofort. »Leslie, leider...«

Sie schnappte den Hörer. »Arthur?«

»Leslie. Gut, ich bin froh, daß du zu Hause bist. Bitte, wenn du mitkommen kannst...«

»Wohin?«

»Ich hatte gerade einen Anruf vom Büro des Staatsanwalts. Sie haben einen Haftbefehl gegen Mark Smith erlassen.«