»Hören Sie sich das an, Wetzon.« Gordon Prell am Telefon kochte vor Wut auf sie. Sie klemmte den Hörer mit der Schulter fest und blätterte ihre Nachrichten durch. Von

Smith keine Spur, und in ihrer Wohnung hatte sich am vergangenen Abend niemand gemeldet.

Wetzon hatte sich nicht überwinden können, ihre Nachrichten abzuhören. Letzte Nacht nicht, heute morgen nicht. Sie konnte an nichts anderes denken, als daß Silvestris Profil des Mörders bis aufs i-Tüpfelchen auf Mark paßte. Und Silvestri mußte es wissen.

»Hören Sie zu, Wetzon?«

»Ja, Gordon.« Sie bedankte sich stumm bei Max, der ihr gerade Gordon Prelis >Fahndungsbogen< gebracht hatte. Bruttoproduktion 1992: achthunderttausend. Nicht schlecht.

»Ich werde von den Geschäften hier ausgeschlossen. Das ist nicht, was man mir versprochen hat, als ich herkam.«

»Sie bekommen überhaupt nichts?« Es fiel ihr schwer, das zu glauben.

»Gut, ich bekomme etwas, aber nicht, was ich gewohnt bin. Ich sage also zu Beverly — sie ist Alans Assistentin — , wie kommt es, daß ich kein Stück davon bekomme, und sie sagt, daß diese Woche keine Geschäfte anliegen und sie deshalb keine zuteilen kann, und zufällig weiß ich genau, daß das nicht stimmt.«

»Woher wissen Sie das?« Sie betrachtete Susans Foto links unten auf der Titelseite der Times undspürte ihr Herz im Halse klopfen. Die Überschrift lautete:

 

DICHTERIN DURCH MYSTERIÖSEN STURZ GETÖTET

 

»Weil dieser Fiesling Ray damit angegeben hat. Das heißt, eigentlich nicht, aber sein Mädchen hat es meinem Mädchen gesagt.«

Läuft nett, Gordon, dachte sie. Da fühlt sich das Mädchen Headhunterin bestimmt gut. Sie erwog aufzulegen, doch statt dessen nahm sie den Hörer ans andere Ohr und schlug die Zeitung auf, um den Rest von Susans Nachruf zu lesen. Was für eine Hure du bist, Wetzon, sagte sie zu sich. »Gordon, sprechen Sie mit Alan.«

»Sie haben den Rest noch nicht gehört. Ich habe so einen tollen Aschenbecher aus dem Petrified Forest, und als ich Ray sage, daß er ein Scheißkerl ist, pinkelt er in meinen Aschenbecher.«

»Was?«

»Sie haben ganz richtig gehört, Wetzon. Also bin ich in Alans Büro gegangen und habe ihm eingeheizt, und wissen Sie, was Alan gesagt hat?«

»Ich kann kaum erwarten, es zu hören...«

»Er hat den Nerv, mir zu sagen: >Tja, Ray ist die Nummer zwei im Büro. Er kann in deinen Aschenbecher pinkeln. Wenn du die Nummer zwei wirst, kannst du in seinen pinkeln.<«

Wetzon schlug sich mit der Hand auf den Mund, um ihr Lachen zu verbergen, dann riß sie sich zusammen. »Mann, Gordon, das ist ja scheußlich. Sie werden also mit ein paar anderen Firmen sprechen wollen.«

»Nein. Die Manager von diesen ganzen Firmen sind doch alle verdammte Arschlöcher. Warum sollte ich ein Arschloch mit einem andern vertauschen? Nicht um alles in der Welt. Ich werde die Nummer zwei.« Er warf den Hörer auf.

»Menschenskind«, sagte sie laut. »Nur ein Masochist kann sich so was bieten lassen.« Sie war zum Umfallen müde, da sie die ganze Nacht immer wieder aufgewacht war. Doch keine Träume, weder gute noch andere. Um sechs hatte Izz sie geweckt, und Wetzon war barfuß in die Stiefel gestiegen, hatte den Pelzmantel über ihr Flanellnachthemd geworfen, Küchentücher und eine Plastiktüte in die Tasche gestopft. Dann standen sie und Izz zitternd am Rinnstein vor dem Haus und schauten sich an, bis Izz begann, die Runde zu machen.

Eine Tür knallte, und Wetzon fuhr auf. Sie war eingedöst. Es war zehn Uhr, und siehe da, Smith kam durch die Tür, in einen Nerz gehüllt, schwarze Flecken unter den Augen. Wetzon brachte es nicht über sich, sie aufzuziehen. Smith sah angeschlagen aus.

Smith ließ sich auf den Stuhl fallen und sagte mürrisch: »Wir werden eine Menge Geld machen.« Sie schlüpfte aus dem Mantel. »Es ist wirklich kalt. Ich bin froh, daß ich meinen Nerz nicht aus einem verrückten Impuls heraus verschenkt habe.« Schweigend forderte sie Wetzon heraus, etwas zu sagen. »Du siehst auch nicht besser aus als ich.«

»Die Jahre fliegen eben mit uns dahin.«

»Oh, bitte.« Doch Smith gönnte ihr ein winziges Lächeln.

»Wie geht es Mark?«

Smith senkte den Kopf. »Er besteht darauf, daß wir ihn Smitty nennen.«

»Ist mir recht. Wie geht es Smitty?«

»Dieser Arthur Margolies ist sehr nett, und Ma... — Smitty kann sich anscheinend nicht mit Dickie anfreunden, Gott weiß warum.«

»Gott und Wetzon.«

Smith sah sie vernichtend an. »Keine Scherze bitte. Ich verkrafte das nicht. Das ist alles äußerst traumatisch für mich gewesen. Stell dir vor, die Polizei verdächtigt mein Baby...« Sie unterbrach sich und rief laut: »Kaffee, Max, Schatz. Bitte schnell.« Sie starrte wieder Wetzon an: »Wo war ich? Oh, ich bringe es nicht über die Lippen, es ist so furchtbar. Wenn Dickie nicht wäre, hätte ich einen Nervenzusammenbruch bekommen.«

Max machte die Tür auf und reichte jeder einen duftenden Becher Kaffee. »Da ist er schon.« Er gab Smith einen mitfühlenden Klaps auf die Schulter und ging hinaus.

»Es ist lächerlich. Er scheint so böse auf mich zu sein«, sagte Smith. »Was habe ich getan? O mein Gott.« Sie begann zu weinen.

Wetzon eilte zu ihr und hielt sie fest. »Es wird alles gut. Du wirst es sehen. Unser Smitty ist kein Mörder.«

Smith schniefte. »Da du uns hineingezogen hast, werden wir uns gemeinsam der Suche nach dem richtigen widmen müssen.«

»Entschuldige. Ich habe uns hineingezogen?«

»Und die Karten sind so verwirrend. Ich kann nicht deuten, was sie sagen. Stäbe und Schwerter. Stäbe?«

»Moment mal. Mit Stab meinst du einen Stock?«

»Vielleicht.«

Wetzon dachte: Die Mordwaffe. Fran Burks Spazierstock.

»Was soll ich nur tun? Ich weiß nicht, wie ich das durchstehen soll...«

»Smith, sie haben, wenn überhaupt, nur Indizienbeweise, und er hat sich aus freien Stücken gestellt und mit der Polizei in Boston und hier geredet.«

»Das ist wahr.« Sie trocknete die Augen und schneuzte sich.

»Eine Menge Leute hatten Motiv und Gelegenheit, nicht nur Smitty.«

»Ja, ja, du hast recht. Ich weiß, daß mein Baby es nicht getan hat.« Sie holte ihren Spiegel aus einer Schublade und betrachtete sich stirnrunzelnd. »Aber er hat sich so verändert, ich kenne ihn kaum noch. Wie kann er nur einer von denen...« Sie kramte in den Taschen ihres Nerzmantels und setzte die dunkle Brille auf. »Er fängt heute eine Therapie an. Vielleicht liegt es an Vitaminmangel.«

»Smith, bitte, schwul zu sein ist keine Krankheit.«

»Das wird sich zeigen.«

»Geht er in die Schule zurück?«

»Noch nicht. Ich glaube, das ist nicht mehr wichtig. Er ist von Harvard bereits angenommen worden. Er muß nur noch seine Abschlußprüfungen im Mai machen. Ich hätte ihn gern bei mir, bis er aufs College geht. In sechs Monaten kann viel passieren.« Sie setzte die dunkle Brille ab und starrte wieder in den Spiegel. »Ich sehe aus wie Draculas Mutter.« Ihr Blick blieb an Wetzons linker Hand hängen, registrierte erst nichts, dann doch. »Was ist das?« schrie sie auf. »Warum hastdu nichts verraten? Laß mich sehen.«

Wetzon hielt Smith die Hand hin. »Ich glaube, ich habe ja gesagt.«

»Um Himmels willen. Du glaubst? Zeig ein wenig Aufgeregtheit.« Sie hielt Wetzons Finger auf der Handfläche und betrachtete den Ring eingehend. Es hätte nur noch gefehlt, daß sie mit einer Juwelierslupe den Stein geprüft hätte.

»Juchhu.« Wetzon schwenkte den Finger in die Luft.

Es klopfte an der Tür.

»Herein«, befahl Smith.

Die Tür flog auf, und Max blinzelte ihnen zu. »Die Kurse sind fünfundvierzig Punkte gestiegen durch Großaufträge. Niemand will reden.«

»Probier es weiter, Max. Irgendjemand wird schon wollen«, sagte Smith. »Schließ die Tür hinter dir.« Sie strahlte ihn an.

»Wie sieht es mit Mittagessen aus?«

»Du mußt sie besser überwachen. Kannst du dir das vorstellen? Niemand will reden.« Smith traf Max’ Tonfall genau. »Mittagessen? Ach, Zuckerstück, heute kann ich nicht. Ich gehe zur Maniküre, Pediküre und Gesichtsbehandlung. Dann wird mich Enzo stutzen.« Sie fuhr mit der Hand durch ihre Locken. »Genaugenommen...« Sie sah auf die Uhr. »Ich mache mich besser auf den Weg.« Sie stand auf und zog den Mantel wieder an. »Sollte ich noch was wissen?«

»Du könntest deine Nachrichten durchgehen.«

»Hm.« Sie blätterte die rosa Zettel durch und ließ sie in den Papierkorb fallen. »Nichts.« Sie grinste Wetzon an.

»Sehr komisch. Kidder steht angeblich wieder zur Versteigerung an, und Sandy Weill faßt es ins Auge, und es kursiert das Gerücht, daß Lehmann auf Pump gekauft werden soll.«

»Erzähl mir was Neues. Sandy Weill ist auf einen niedrigen Preis aus. Er zahlt keinen Höchstpreis für Kidder, und GE wird Kidder nicht als Schnäppchen abgeben. Es geh t nur um Testosteron.«

»Danke, Louis Rukeyser.«

Doch Smith war schon aus der Tür.

Wetzon verbrachte den Rest des Vormittags damit, mit ihren Stammkunden zu telefonieren, um auf irgendwelche Anzeichen zu lauschen, daß es jemanden »juckte«, wie sie es nannte. Aber der Handel war hektisch, und der einzige Makler, der sich interessiert anhörte, bat sie, ihn nächste Woche anzurufen. Was konnte man machen? Sie las noch einmal den Nachruf auf Susan.

Hungrig machte sie die Tür auf und erinnerte sich, daß sie B. B. ein Stündchen versprochen hatte. Sie würde ihn zum Mittagessen mitnehmen. »B. B., kommst du mit, eine Kleinigkeit essen? Max kann die Festung halten, ja, Max?«

Max nickte. Ins Telefon sagte er: »Sagen Sie, Joe, was ist Ihre Produktmischung? Mhm. Und welche Vermögenswerte verwalten Sie? Ah, das ist sehr gut.«

Das Telefon läutete, und B. B. nahm ab, als sie gerade die Mäntel anzogen. »Smith und Wetzon. Bleiben Sie dran. Ich will versuchen, sie noch zu erwischen.« Er drückte den Durchstellknopf.

»Wer ist es?«

»Detective O’Melvany.«

»Ich nehme es lieber an.« Sie ging zu ihrem Schreibtisch zurück und nahm den Hörer ab. »Leslie Wetzon.«

»Ed O’Melvany, Leslie. Wir haben ein paar Tatortfotos von Susan Orkins Wohnung. Könnten Sie vorbeikommen und einen Blick darauf werfen? Vielleicht fällt Ihnen etwas auf, was uns entgangen ist.«

Na, wenn das nicht schmeichelhaft war... »Paßt es heute um halb vier?«

»Abgemacht. Sie linden uns in der 67. Street, zwischen Lex und Third. Fragen Sie nach mir.«

Wetzon und B. B. gingen ins La Cucina im Pan Am Building, wo man Sandwich und Salat, schon fertig angemacht und in Plastik gepackt, bekommen konnte. Das Pan Am Building war jetzt das Met Life Building, aber es würde eine Generation — wenigstens — dauern, bis die New Yorker sich an die Namensänderung gewöhnt haben würden.

Ein kalter Wind hatte die Regenwolken fortgeblasen, und kaltes nördliches Sonnenlicht badetete die Stadt. Der Präsident sprach bei einem U.J.A.-Essen, und die Polizei hatte Absperrgitter entlang der 46. Street und die Park Avenue hoch zum Waldorf aufgestellt. Auf den Straßen wimmelte es von Polizisten, besonders um das Hotel.

»So, was hast du auf dem Herzen, B. B.?« Es herrschte wenig Verkehr, weil die Medien düstere Stauwarnungen gesendet hatten. »Der Thunfisch-Niçoise ist sehr gut.«

B. B. blieb stumm, während sie die Sandwiches wählten und sich selbst mit Kaffee bedienten. Wetzon zahlte an der Kasse, und sie setzten sich an einen Tisch. Er hängte seinen dunkelblauen Dufflecoat auf und machte sich über den Salat her, als hätte er seit einer Woche nichts gegessen. Während sie ihren Sandwich aß, war ihr klar, daß er ihr früh genug erzählen würde, was ihm auf der Seele lag, aber sie war sich nicht so sicher, ob es ihr gefallen würde. Es war, als hätte er etwas zu beichten. Natürlich würde er ihr mitteilen, daß er der Mörder war. Paßte er nicht zu dem Profil? Paßte nicht halb Amerika?

Endlich sah B. B. sie direkt an, dann platzte er heraus: »Ich gehe.«