Verhängnis. Düsterkeit. Regen. Ein schlüpfriger Glanz unter den Füßen. Eisige Finger, die auf den Saiten ihrer Seele spielten. Der Traum vom Tod ihrer Eltern hatte ihr ganz schön zugesetzt.

Wetzon stand unter der Markise und wartete ungeduldig, daß ein leeres Taxi vorbeikäme. Die feuchte Kälte drang langsam durch ihre schwarzen wollenen Leggings. Es gab viele Taxis ohne Lizenz — in der Stadt als Zigeuner bekannt — , aber sie war nie gern in eines eingestiegen, weil sie nicht versichert waren und man den Preis aushandeln mußte.

Was hatte Mark vor? Sie fühlte sich schrecklich verantwortlich für ihn, und sie hatte Angst. Die Leute töteten wegen geringfügigerer Dinge.

Aber es gab mit Sicherheit andere Verdächtige. Vielleicht sogar Mort persönlich. Phil. Aline mit ihrem Gipsverband ums Handgelenk. Fran Burke. Was war aus seinem kunstvollen Spazierstock geworden? Ein stumpfer Gegenstand. Aber bei Fran konnte Wetzon kein Motiv erkennen. Es sei denn, Mort verlangte einen Anteil Gewinn an den schwarz verkauften Karten.

Zwei Menschen waren allem Anschein nach mit demselben oder einem ähnlichen stumpfen Gegenstand getötet worden, und dennoch schien niemand eine Ahnung zu haben, was die Mordwaffe war.

Ein Taxi kam langsam mit eingeschaltetem Dachlicht die 86. Straße herunter. Sie verließ den Schutz der Markise und eilte winkend auf die Straße. Es hielt vor ihr. »Fifth und 58. Das General-Motors-Gebäude«, sagte Wetzon zum Fahrer.

Mach deinen Kopf frei und konzentriere dich auf Artie und die nächste Aufgabe.

Sie hatte auf Sonyas Anrufbeantworter eine Nachricht hinterlassen, mit der sie, ziemlich dringend, um eine Sitzung für diesen oder den nächsten Tag gebeten hatte. »Mein Traum hat eine unangenehme Wende genommen«, hatte sie erklärt.

Sie durchquerten den Central Park auf der Höhe der 86. Street. Der Park wirkte unwirtlich, die Bäume ihrer Blätter beraubt, braun, plattgedrücktes Wintergras — verlassen bis auf die wenigen süchtigen Jogger, die durch Schnee, Graupelschauer, Hagel und nächtliche Dunkelheit laufen.

Sie schloß die Augen und dachte: Warum kann ich nicht akzeptieren, daß Alton mich liebt und mir ein angenehmes Leben schenken kann? Weil, erwiderte eine Stimme, weil du nie eine richtige Beziehung zu irgendeinem Mann hattest. Das ist nicht wahr. Okay, dann nenne einen, sagte die Stimme.

Einen nennen? Klar doch. Hm. Da war... Ja, was ist mit Carlos?

Nun mach mal halblang, sagte die Stimme.

Der Fahrer bog links ab in die 58. Street und hielt an. Sie gab ihm sieben Dollar, stieg aus und spannte den Schirm auf. Es war Samstag, und es hatte noch keiner diese kleinen weißen Perlen gestreut, die Eis schmelzen. Es war glitschig unter den Füßen.

Das GM-Gebäude — wahrscheinlich einer der häßlichsten Bauten in New York — hatte eine Art Einkaufszentrum im Untergeschoß. Einige Läden waren kaum zu sehen und konnten deshalb oft nicht vermietet werden. Doch das Gebäude hatte als Adresse die Fifth Avenue und F.A. 0. Schwarz im Erdgeschoß, und es lag direkt gegenüber dem Osteingang zum Central Park und im Herzen des gehobenen Einkaufsdistrikts — Bergdorfs, Bloomie’s, Tiffany’s — und war von feudalen Hotels wie dem Pierre, dem Plaza und dem Sherry Netherland umgeben. Deshalb war nicht anzunehmen, daß seine Besitzer jemals finanzielle Probleme gehabt hatten.

Wetzon durchquerte die Halle des Gebäudes bis zur Seite nach der Madison Avenue hin, und da stand B. B. in sauberen und gebügelten Jeans, einer rot-weißen Skijacke, an deren Reißverschluß noch eine Liftkarte hing, und weißen Laufschuhen. Er las den Institutional Investor. Wetzon mußte lachen. Hätten sie wirklich ihre Identität verheimlichen wollen, dann hätte er sie mit der Wahl seiner Lektüre verraten.

»Du bist eine wandelnde Annonce«, sagte sie, als sie auf ihn zuging.

»O Wetzon.« Er wurde rot und ließ die Zeitschrift fallen, als hätte sie ihn mit einem Pornoheft ertappt. »Ich... hm...«

Wetzon fragte sich, was mit ihm los war. Er sah verteufelt schuldbewußt wegen irgend etwas aus. Wüßte sie es nicht besser, würde sie auch ihn auf die Liste der Verdächtigen in den Fällen Dilla und Sam setzen.

Doch jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt für bohrende Fragen. Sie hatte keine Lust dazu, und außerdem kam Artie Agron gerade von der Madison in die Halle, ein kleiner, drahtiger Mann in grauem Trainingsanzug, eine Mets-Kappe auf dem krausen Haar und einen großen Aktenkoffer in der Hand. Er hatte sich nicht rasiert und sah so anrüchig aus, daß ein Sicherheitsangestellter ihn nach seinem Ausweis fragte. Du lieber Gott, dachte Wetzon, was diese Männer sich unter heimlich vorstellen.

»Ich möchte wissen, was in die gefahren ist«, murrte er, als er Wetzon die Hand gab. »Ich komme jeden Tag herein.«

»Aber bestimmt nicht unrasiert und mit Baseballmütze. Artie, das ist mein Geschäftspartner B. B., kurz für Bailey Balaban.«

»Sind Sie mit dem Supermarkt-Typ verwandt? Er ist ein Kunde von mir.«

»Nein.« B.B. schüttelte ihm die Hand. »Ich habe einen Copy-Shop an der Lexington gefunden, der das alles erledigen wird. Wir müssen die Sachen nur rüberbringen.«

»Okay, so habe ich es mir vorgestellt.« Ungeachtet der Tatsache, daß sie in einem Nichtraucherbereich standen, zündete Artie eine Zigarette an und kehrte dem Sicherheitsmann den Rücken. »Ich und Balaban gehen nach oben ins Büro. Wetzon, Sie warten hier, damit Balaban Ihnen etwas zustecken und wieder hinauffahren und mehr holen kann. Wenn niemand oben ist, können wir schneller vorgehen.« Er betrat den Aufzug mit brennender Zigarette. Wenn er die Vorschriften schon bei den kleinen Dingen nicht befolgte, wie verhielt er sich dann bei den wichtigen? dachte Wetzon, während sie ihm und B.B. nachsah. Sie wartete in der Nähe des Fensters zur Madison hin. Schirm stritt mit Schirm um ein Stück vom Bürgersteig; bestimmt würde irgendjemand einen Stab ins Auge bekommen. Regen hielt die Leute nie vom Einkaufen ab. B. B. und Artie traten aus dem Aufzug.

»Zwei Neue sind oben, aber sie sind so damit beschäftigt, hinter dem Papierkram herzukommen...« Artie trug seinen Aktenkoffer, der nicht mehr zuging, und B. B. folgte mit zwei Einkaufstüten und einer vollgestopften Sporttasche vom New York Athletic Club über der Schulter. Es mußte seine eigene sein. Wetzon konnte sich nicht vorstellen, daß sie Artie näher als drei Meter an den NYAC herankommen ließen.

»Drei, vielleicht vier Gänge, Wetzon«, verkündetete B. B.

Sie ging mit ihnen auf die Straße. Der Regen fiel schräg. »Wollt ihr, daß ich hier herumhänge?« Ihre Anwesenheit war als Sicherheit nötig gewesen, bis er seine Bücher hatte. Jetzt würde er sie nicht mehr brauchen.

»Nee. Wir schaffen das, richtig, Junge?«

B. B. nickte, dann blieb er ein wenig zurück. »Wetzon, kann ich etwas mit dir besprechen?«

»Jetzt?«

»Nein, nein, ich meine am Montag.«

»Smith ist am Montag zurück.«

»Nein, nicht mit Smith. Mit dir. Privat.« Er war sehr ernst.

»Kommen Sie?« Artie wurde nervös — und naß. Er hatte sich nicht mit einem Schirm belastet.

»Klar, B.B. Geh jetzt. Wir können uns am Montag nach der Arbeit zu einem Drink zusammensetzen, wenn du willst.« Sie tätschelte seinen Arm. Wurde sie mütterlich oder was?

»Danke, Wetzon.«

Irgend etwas war da jedenfalls im Busch. Sie überlegte, ob Harold, ihr ehemaliger Mitarbeiter, B. B. weggelockt hatte, um bei ihm und Tom Keegen zu arbeiten. Smith würde platzen.

Bedenke, sagte sich Wetzon, daß nichts jemals endgültig ist. Abgesehen vom Tod. Sie spannte den Schirm auf und schlängelte sich auf der Madison stadtauswärts durch, bis sie schließlich etwa an der 70. Street das Gedränge hinter sich ließ. Die Geschäfte hatten alle Schlußverkaufsschilder in den Fenstern, aber obwohl Wetzon ab und zu stehenblieb, sah sie eigentlich nichts als ihr Spiegelbild.

Sie war davon überzeugt, daß Susan mit nach Boston kommen würde, wenn Mort bereit wäre, die Ankündigung zu ändern. Wenn er sie als Songtextautorin erwähnen würde. Wer würde sich darüber beklagen? Sams Agent oder Anwalt? Sam war tot. Es lag nur im Interesse des Agenten oder Anwalts, daß die Show zustande kam.

St. Ambroeus war das perfekte Lokal für einen gepflegten Brunch oder zum Mittagessen an der East Side, und es war wie gewohnt voll. Anscheinend hatten alle New Yorker denselben Einfall gehabt. Wetzon war ein wenig zu früh dran. Vielleicht sollte sie Susan anrufen oder sie abfangen. Sie hinterließ beim Oberkellner die Nachricht, Miss Wetzon wäre gleich zurück, sollte Miss Orkin vor ihr auftauchen.

Es gab ein Telefon auf der Straße. Sie war gerade daran vorbeigekommen.

Der Regen war in Nebelnässen übergegangen. Ihr Haar kringelte sich in dünnen Büscheln um Wangen und Stirn. Sie schob es weg. Es wurde Zeit, dachte sie, daß sie es wieder zu dem alten, bequemen Ballerinaknoten hochsteckte. Sie schlug Susans Nummer in ihrem Ringbuch auf, warf einen Vierteldollar in den Schlitz und wählte.

»Hallo. Ich kann im Moment nicht ans Telefon kommen. Hinterlassen Sie bitte eine Nachricht nach dem Piepton.«

Sie muß auf dem Weg sein. Wetzon ging zum St. Ambroeus zurück.

»Ist Miss Orkin gekommen?« fragte sie den Oberkellner.

»Nein.«

Aus fünfzehn Minuten wurde eine halbe Stunde. Sie war hungrig und müde. Sie versuchte es noch einmal. »Wissen Sie genau, daß Sie keiner Miss Orkin einen Platz zugewiesen haben?«

»Ja.«

Hinter der Theke mit den Backwaren, Croissants, Kuchen und Torten, hatte eine auffallende junge Frau mit langem braunem Haar aufgeblickt, als Wetzon Susans Namen nannte. »Miss Orkin kommt jeden Morgen, Schokocroissants kaufen.«

Wetzon lächelte. »Ein Mädchen ganz nach meinem Geschmack.«

Die Verkäuferin blickte verwirrt.

»Vergessen Sie’s«, sagte Wetzon. »Hat sie etwas von Mittagessen gesagt?«

»Heute morgen war sie nicht da. Haben Sie versucht, sie anzurufen? Vielleicht ist sie aufgehalten worden.«

Wetzon nickte. Mist, sie würde es noch einmal probieren. Sie ging wieder auf die Straße und wählte Susans Nummer. Die Leitung war besetzt. Sie war aufgehalten worden, das war klar. Wahrscheinlich von Mort, der aus Boston anrief. Ein feuchter Film bildete sich auf Wetzons Gesicht. Schön für die Haut, dachte sie. Die Temperatur war spürbar gestiegen. Sie befand sich nur noch ein paar Straßen von Susans Wohnung entfernt. Wer brauchte ein vornehmes Mittagessen? Sie würde Mortons Auftrag erledigen, Susan mitteilen, daß es hoffnungslos sei, Dillas Mörder unter den Vampiren zu suchen, und verschwinden.

Direkt vor ihr schob ein schwarzes Kindermädchen, dessen weiße Uniform unter dem Marinemantel vorlugte, ein Kind in einem Sportwagen, der in Plastik gehüllt war wie ein Kleidersack.

Als Wetzon in die 80. Street einbog, mußte sie zwanzig oder mehr lauten aufgedrehten Kindern ausweichen, die aus einem gelben Schulbus mit einem Nummernschild aus New Jersey stiegen. Ein Lehrer und zwei entnervte Frauen, offenbar Mütter, versuchten, sie zu einer Schlange zusammenzutreiben. Schäferhunde hätten es besser gekonnt.

Sie machte einen großen Bogen um sie und erreichte Susans Haus ungefähr gleichzeitig mit einer kleinen grauhaarigen Schwarzen in einem Regenmantel, die aus der entgegengesetzten Richtung kam und eine schnuppernde und herumhüpfende Izz an der Leine zog. Vier Streikposten standen vor dem Gebäude. Die Streikenden sahen alle naß und griesgrämig aus. Als Izz Wetzon entdeckte, bellte sie, riß sich von der älteren Frau los und sprang an Wetzon hoch, so daß sie mit den nassen Pfoten auf dem Pelzmantel landete. »Hallo, Izz.«

»Das tut mir aber leid, Miss.« Die Frau versuchte, Izz wieder einzufangen. »Sie war über Nacht beim Tierarzt, deshalb ist sie jetzt so ausgelassen.«

»Macht nichts. Ich bin eine Freundin von Miss Orkin.« Wetzon kraulte den nassen kleinen Hund. »Was hatte sie denn? Sie sieht doch ganz gesund aus.«

»Den Magen verdorben oder so was. Miss Orkin ist nicht zu Hause. Ich bin Rhoda, die Haushälterin.«

»Wissen Sie das genau? Ich wollte eben anrufen, und da war ihre Nummer besetzt. Wir wollten zusammen essen.«

»Ich weiß nicht. Vielleicht hat sie ihre Pläne geändert... Miss...«

»Ms. Wetzon.«

»Isabella, benimm dich jetzt. Wenn Sie sie mit hinaufnehmen wollen, Miss Wetzon, dann gehe ich meine Einkäufe machen. Ich gehe nur mit Ihnen hinein und sage denen, es ist in Ordnung.«

Der Wachmann an der Tür war ein gedrungener dunkelhäutiger Feuerhydrant in grüner Uniform. Sein Haar war angeklatscht und glänzend.

»Die Dame ist in Ordnung, hören Sie? Sie geht hinauf zu Ms. Orkin«, erklärte ihm die Haushälterin.

Der kleine Hund leckte Wetzons Gesicht und wand sich. Wetzon setzte sie auf den Boden des Aufzugs und versuchte, die Leine zu schnappen, während die Kabine hochfuhr, doch als die Tür aufging, entwischte Izz. Sie lief nicht weit. Sie blieb vor Susans Tür abrupt stehen und legte die Ohren an.

»Susan?« Wetzon drückte zögernd auf die Klingel. Izz reckte die Nase an der Tür hoch und winselte. Sie läutete noch einmal. Kein Laut kam aus der Wohnung. Izz begann, verzweifelt an der Tür zu kratzen. Wetzon drückte noch einmal auf die Klingel. Sie hörte sie in der Wohnung läuten.

Sie trat einen Schritt zurück und betrachtete Izz. Das Halsband. Was hatte Susan gesagt? Das Halsband hat innen eine kleine Tasche für meinen Hausschlüssel. Wetzon bückte sich und nahm dem kleinen Hund das Halsband ab. Da war das Täschchen. Und da war der Schlüssel. Sie steckte ihn ins Schloß und öffnete die Tür.

Mit einem tiefen Knurren sprang Izz in die Wohnung. Wetzon folgte und trat in eine schwarze Grube und direkt über den Rand der Welt.