»Also, was meinst du?« Wetzon saß zusammengekauert auf Sonyas Couch. Sie hatte gerade die entsetzliche Veränderung ihres Traummusters beschrieben.

Sonya betrachtete sie ernst und eindringlich. »Ich glaube, du hast zu stark abgenommen.«

»Ich weiß.« Sie lächelte Sonya matt an. »Denk an den Spaß, den ich haben werde, mir alles wieder anzuessen. Ich mache mir wirklich Sorgen um Mark...«

»Mark Smith hat eine Mutter, und er hat Freunde. Du stürzt dich auf die Probleme anderer Menschen, um dich nicht mit deinen Schwierigkeiten auseinandersetzen zu müssen.«

»Was für Schwierigkeiten?«

»Ach, Leslie.«

Wetzon biß sich auf die Lippe. »Mort Hornberg hat mir gesagt, ich sei unfähig, mit irgend jemandem eine richtige Beziehung zu haben. Meinst du, das stimmt?«

»Warum nimmst du das so ernst?«

»Weil ich das Gefühl habe, daß er recht hat.«

»Wenn du nicht mit dir selbst im reinen bist, wie sollst du dann eine Beziehung eingehen können?«

Wetzon drehte den Smaragdring an ihrem Finger rundherum. »Alton ist ein wunderbarer Mensch. Er wird auf mich aufpassen. Ich werde mich um nichts sorgen müssen.«

»Ist es das, was du möchtest?«

»Manchmal bin ich es so leid, etwas leisten zu müssen.«

»Bist du deinen Eltern böse, daß sie gestorben sind?«

»Nein, natürlich nicht«, sagte Wetzon scharf. »Es war ein Unfall. Es wäre nicht vernünftig, ihnen die Schuld zu geben.« Sie sah ihre Hände zittern. Hört auf, befahl sie.

»Vernunft hat damit nichts zu tun. Das Kind Leslie wurde im Stich gelassen.«

»Ich war kein Kind mehr.«

»Du warst das Kind deiner Mutter, das Kind deines Vaters. Es ist in Ordnung, böse zu sein.«

»Ich bin nicht böse. Warum reitest du darauf herum?«

»Leslie, was meinst du, warum dein Unterbewußtsein deine eigene Begegnung mit dem Tod durch die Explosion einer Waffe und den Autounfall, bei dem deine Eltern ums Leben kamen, verknüpft? Es ist an der Zeit, das Vergangene aufzuarbeiten und nach vorn zu schauen. Alte Wunden eitern, wenn man nichts dagegen tut.«

Wetzon starrte Sonya an und spürte die ersten Tränen in ihren Augen brennen. Sie zerrte ein paar gelbe Papiertücher aus der Schachtel auf dem Couchtisch. »Sie haben mich allein gelassen, und ich war so...«

»Ich weiß. Es ist in Ordnung, Angst zu haben. Tröste das Kind. Sag ihm, es wird alles gut werden, sag ihm, daß du deine Eltern liebst.«

Wetzon schluchzte in die Taschentücher, unfähig zu sprechen. Sonya ging aus dem Zimmer und kam mit einem Glas Wasser zurück, das sie Wetzon reichte. Allmählich ließ das Schluchzen nach. Wetzon fühlte sich ausgelaugt, doch seltsam ruhig.

Sonya lächelte sie an. »Laß es heraus, Leslie, dies ist erst der Anfang. Nächsten Donnerstag? Sechs Uhr?«

Wetzon nickte, nahm ihr Ringbuch und trug den Termin ein. »Danke, Sonya.« Sie schlüpfte in den Mantel und setzte die Baskenmütze auf.

»Da du gerade dein Buch draußen hast, am Nachmittag des ersten April, hast du da Zeit für mich? Es ist ein Donnerstag.«

Wetzon blätterte die Seiten durch. »Der erste April?« Die Seite war leer. »Paßt bei mir. Um wieviel Uhr?«

»Halte den ganzen Nachmittag frei.« Sie war sehr ernst.

»Den Nachmittag? Den ganzen Nachmittag?«

»Ja. Ich sage dir mehr, wenn das Datum näherrückt.«

»Okay.« Sie schrieb freihalten — Sonya in das Feld des ersten April und ließ das Buch in die Handtasche fallen. An der Tür sagte sie mehr zu sich als zu Sonya: »Ich habe Susans Hund. Seit ich ein Kind war, habe ich keinen Hund mehr gehabt.«

»Du brauchst ihn nicht zu behalten«, meinte Sonya.

»Doch, ich will ja«, sagte Wetzon langsam. »Ich glaube, ich brauche ihn genauso wie er mich.«

»Bedingungslose Liebe.«

Bedingungslose Liebe. Wetzon dachte über die Worte nach, während sie zum Beresford zurückging. Das Wetter war wieder umgeschlagen, und ein Schwall arktischer Luft war von Kanada über die Stadt hereingebrochen. Die Kälte war angenehm. Wetzon war sich ihrer selbst intensiv bewußt, jedes Muskels, jeder Ader, ihres Herzschlags, des Atems, der durch ihre Lungen strömte.

Der jähe Temperatursturz hatte die meisten Leute im Regenmantel überrascht, nicht jedoch Wetzon. Über ihr, getrieben von kalten Böen, jagten dunkelblau geränderte Wolken über den Himmel.

Sie ging auf der 79. Street zur Amsterdam hinüber und marschierte in östlicher Richtung. Carlos ging es gut. Um ihn brauchte sie sich keine Sorgen zu machen. Und sie, Leslie Wetzon, Headhunterin der Extraklasse und Gelegenheitsdetektivin, würde Alton Pinkus heiraten, den vollkommenen Mann, und von nun an glücklich leben. Selbstverständlich.

Und was ist mit Mark? fragte sie sich, während sie den Schlüssel ins Schloß steckte. Auf der anderen Seite der Tür bellte Izz sich die Lunge aus dem Leib. Mark konnte niemanden ermordet haben. Und damit Schluß. Jeder Beweis, daß er es gewesen war, konnte nur ein Indizienbeweis sein.

»Ich bin in der Küche«, rief Alton.

Sie hängte den Mantel auf, ließ Mütze und Tasche auf den Flurtisch fallen. In der Küche gab sie ihm einen Kuß auf die Wange.

Sie schnupperte. »Riecht phantastisch, was immer es ist.«

»Gedünstete Muscheln, Pasta mit Tomaten, Basilikum und Fenchelsoße, Sauerteigfladen und Schokoladenkuchen. Es wird mir Spaß machen, dich zu mästen.«

Ein winziger Summer ging in ihrem Kopflos. Versuchte er, ihr Leben in die Hand zu nehmen? »Ich bin so richtig, wie ich bin.«

»Leslie...«

»Nein, ist schon gut. Mein Fehler.«

»Anstrengende Sitzung?«

»Mir hat’s gereicht.« Wollte er, daß sie ihm davon erzählte? Wie konnte sie preisgeben, daß sie nach so vielen Jahren den Flammentod ihrer Eltern immer noch nicht bewältigt hatte? Daß sie glaubte, sie würde stets von jedem, den sie liebte, verlassen werden? Das war es doch, nicht? Und dann plötzlich begann sie zu erzählen, und er hielt sie fest und strich über ihr Haar.

»Ich werde dich niemals verlassen. Das weißt du doch.«

Sie wußte es, aber er war fast zwanzig Jahre älter als sie. Es war unumgänglich, daß er sie im Stich lassen würde. An diesem Abend gingen sie und Izz zu ihrer Wohnung.

Alton hatte gesagt: »Ich hätte ein besseres Gefühl, wenn du hier bliebest.«

Und sie hatte geantwortet: »Noch nicht. Außerdem sollte Izz sich an meine Wohnung gewöhnen.«

Die Streikposten der Gewerkschaft hatten offenbar Feierabend gemacht, weil keiner zu sehen war. Niemand versah drinnen den Wachdienst, und die Außentür war abgeschlossen. Sie holte ihre eigenen Schlüssel heraus und schloß auf. Ein Anschlag neben dem Aufzug teilte mit, daß keine Pakete zur Zustellung angenommen würden, bis der Streik vorbei wäre.

Schön. Sie erwartete keine.

Während sie ihre Post aus dem Kasten holte und die Times vom Sonntag an sich nahm, die auf einem hohen Stapel bei den Zeitungen aller anderen Bewohner in der Halle liegengeblieben war, läutete jemand an der Außenklingel. Izz rannte besitzergreifend an die Tür und bellte.

Wetzon schaute um die Ecke. Ein großer Mann in einem zugeknöpften Rohledermantel stand da und bedeutete ihr, ihn einzulassen. Sie schüttelte den Kopf und ging zum Aufzug. Sie hörte ihn an das Eisengitter über der Tür hämmern, reagierte jedoch nicht darauf. Sie wollte kein Posten in einer Statistik werden.

Ihre Wohnung war eine Oase. Wenn sie sie betrat und die Tür schloß, konnte sie die Welt aussperren. Hier war sie wirklich sicher.

Sie zog ihren Frotteebademantel an, während Izz die Räume inspizierte. »Ich bin durstig«, erzählte sie dem Hund, »wie sieht es bei dir aus?« Sie füllte eine Schale mit Wasser und stellte sie auf den Boden, während sie sich fragte, ob sie auch so wie die alten Damen würde, die mit ihren Haustieren sprachen. Sie holte ein Bier aus dem Kühlschrank, goß es in ein Glas, beobachtete, wie sich die Blume bildete, und goß nach.

Die Post war größtenteils für den Papierkorb. Eine Schlußverkaufsanzeige für bevorzugte Kunden von Saks. Zwei Banken, die versuchten, ihre Visakarten zu verkaufen, indem sie unerhörte Kreditrahmen offerierten. Und eine Nachricht, daß auf dem Postamt ein Paket für sie bereitlag. Was das wohl sein mochte?

Das Telefon läutete. Sie starrte es an und hörte dabei Izz’ Nägel auf den Hartholzböden klappern, während der Hund die Wohnung durchstreifte. Sie raffte sich auf und packte den Hörer beim fünften Klingeln. Zu spät. »Hallo, bleiben Sie dran«, sagte Wetzon. »Die Nachricht muß durchlaufen.« Verdammt. Ihr Anrufbeantworter zeigte, mit dieser, acht Nachrichten an.

»Leslie.« Alton hörte sich erleichtert an.

»Alles in Ordnung, Alton.« Paß nicht ständig auf mich auf, dachte sie.

»Ein Detective Bernstein hat gerade angerufen. Er sucht dich. Er möchte, daß du ihn anrufst.«

»Ich habe meine Nachrichten noch nicht abgehört.« Sie schrieb Bernsteins Nummer auf, als Alton sie ihr diktierte. »Ich rufe ihn an.«

Doch sie tat es nicht. Sie duschte und trank dann schlückchenweise das Bier.

Etwas später, als sie ihre Kleider für den Morgen bereitlegte, entdeckte sie, daß noch ein Anruf angekommen war; jetzt waren es neun Nachrichten. Zum Teufel mit allen.

Sie legte sich neben Izz ins Bett, die eine Bestandsaufnahme der Wohnung gemacht und entschieden hatte, wo sie schlafen wollte. Der Zettel, auf den Wetzon Bernsteins Telefonnummer geschrieben hatte, knisterte in der Tasche des Morgenrocks. Sie zog ihn heraus. Vorwahlnummer 718, was Bronx, Queens oder Brooklyn bedeutete. Sie vermutete Brooklyn, wo es viele Gemeinden orthodoxer Juden gab.

Bernstein meldete sich nach dem ersten Klingeln. Seine Stimme war neutral.

»Leslie Wetzon. Ich höre, daß Sie mich suchen.«

»Ja.« Bernstein räusperte sich. »O’Melvany hat mich über den Orkin-Mord informiert. Und ich habe mit Ihrem Freund gesprochen.«

»Mein Freund?« Es kam ihr komisch vor, Alton so bezeichnet zu hören.

»Ja — ich meine — Ex.« Er lachte kurz auf, verlegen, wie ihr schien. »Wir haben jetzt ein Profil, mit dem wir arbeiten. Sieht so aus, als wären beide Morde wahrscheinlich demselben Täter zuzuschreiben.«

»Was ist mit Sam Meidner?« Silvestri, du bist jetzt mein Ex.

»Zu diesem Fall haben wir noch keine ausreichenden Informationen.«

»Können Sie mir das Profil beschreiben?«

»Der Mörder schlug mehrfach auf das Gesicht ein und brachte den Opfern anderswo kaum Verletzungen bei. Keines der Opfer wurde sexuell mißbraucht oder verstümmelt, aber der Mörder kannte sie, und sie kannten den Mörder. Beide Morde waren persönlicher Natur.«

Sie dachte: Um das zu erfahren, brauche ich kein Verbrecherprofil.

»Der Mörder war ein junger Weißer, wahrscheinlich in den Zwanzigern, dem eine starke Vaterfigur fehlt.«

Sie verließ der Mut. Izz öffnete die kohlschwarzen Augen und starrte sie an. »Sonst noch was?« Wetzon legte alle Begeisterung hinein, die sie aufbringen konnte.

»Ja. Wir vermuten, daß der Mörder verwirrt über seine sexuelle Orientierung ist.«