»Ich gehe heute abend nicht zu Fuß«, sagte Wetzon zu Laura Lee Day. »Es ist zu kalt.« Sie befanden sich im Rockefeller Center, unter dem NBC-Gebäude, und standen an einer der kleinen Bars, tranken Espresso und teilten sich einen Karottenmuffin.

Laura Lee war eine junge Börsenmaklerin mit kleinem Umsatz gewesen, als Wetzon sie vor fünf Jahren zu Oppenheimer brachte. Sie waren schnell Freundinnen geworden. Gemeinsam war ihnen die Begeisterung für die Künste: Wetzon war Tänzerin, Laura Lee Geigerin gewesen, und sie spielte immer noch in einem Liebhaberstreichquartett.

Wenn Laura Lee in Midtown einen Kunden zu besuchen oder eine Präsentation zu machen hatte, legte sie den Termin immer auf den Nachmittag, verabredete sich dann mit Wetzon auf einen Drink oder einen Espresso, und anschließend gingen sie zusammen zu Fuß nach Hause. Bei kalter oder unfreundlicher Witterung trennte Wetzon sich von Laura Lee vor dem Hochhaus gegenüber vom Lincoln Center, in dem Laura Lee wohnte, im Sommer jedoch kauften sie sich manchmal gefrorenen Joghurt und setzten sich in der Nachmittagssonne an den Brunnen auf der Lincoln Center Plaza, um sich gegenseitig die Neuigkeiten in ihrem Leben zu berichten.

»Du bist nicht nur ein Schwächling, sondern noch dazu ein verschrobener.« Die Worte waren vielleicht scharf, doch die Töne einschmeichelnd. Laura Lee stammte aus dem Süden, und die weiche, gedehnte Sprechweise des Mississippideltas gehörte untrennbar zu ihrer Persönlichkeit.

Wetzon empfand eine Welle der Zuneigung zu ihrer Freundin. Laura Lees braune Augen strahlten soviel Herzlichkeit aus. Ihr kurzes kastanienbraunes Haar war aus dem Gesicht zurückgekämmt, und sie sah keinen Tag älter aus als damals, als sie sich kennengelernt hatten. Wenn überhaupt, dann war sie hübscher, schlanker und viel selbstbewußter. Im vergangenen Jahr hatte sie eine intensive Affäre mit einem Bildhauer gehabt, der in einer der ersten Galerien SoHos ausstellte. »Nicht aus dem Holz, aus dem Ehemänner geschnitzt sind«, hatte sie Wetzon zufrieden berichtet. Wetzon und Laura Lee teilten die zwiespältige Einstellung zur Ehe. »Denn«, bemerkte Laura Lee gern, »sobald du einmal verheiratet warst, kannst du nicht mehr sagen, daß du nie verheiratet warst.« Was für Wetzon sehr logisch klang.

»Ich habe Francesca gestern für dich angerufen«, fuhr Laura Lee fort. »Genaugenommen wollte ich sowieso mit ihr reden. Sie kennt sich bestens in der Provence aus. Sie ist nicht daran interessiert, von Smith Barney wegzugehen. Ihre Ar-beitsbedigungen sind so gut. Sie geben ihr für ihre Freßaus-flüge frei; irgend jemand ist immer bereit, sich um ihren Kundenstamm zu kümmern. Warum sollte sie dort aufhören?«

»Es war ein Hinweis, und ich wußte nicht genau, ob es ein guter war. Francesca ist telefonisch so schwer zu erreichen. Danke.«

»Anschließend hat sie mir alles erzählt, wo sie gegessen hat, was sie gegessen hat und was sie gekocht hat. Du meine Güte, ich dachte, als ich auflegte, eines Tages sehen wir Francesca die Park Avenue herunterkommen, und sie hat sich in eine Aubergine verwandelt.«

Wetzon mußte lachen. »Wie war es in der Provence?«

»Sagenhaft. Unglaublich. Ich habe einen Kanister Olivenöl direkt von einer Mühle bestellt, und du glaubst es nicht, als ich Francesca davon erzählte, sagte sie: >Aber, liebe Laura Lee, mir schmeckt das Olivenöl von der Mühle bei Mougins viel besser.<«

Wetzon kicherte.

»Warte, das Beste hast du noch gar nicht gehört. Sie sagt mir, >Wir hatten eine blinde Verkostung, und ich denke, unseres ist besser.< Kannst du dir das vorstellen, sie saßen um einen Tisch herum und tunkten Brot in verschiedene Olivenöle? Eine blinde Verkostung von Olivenölen? Ich konnte nicht mehr.«

»Ach, ich weiß nicht. Ich hätte nichts dagegen, richtig gutes Weizengrießbrot in verschiedene Olivenöle zu tunken.«

»Aber du würdest bestimmt nicht darüber reden.«

»Wahrscheinlich nicht.« Sie mußte wieder lachen, und Laura Lee lächelte sie an. »Das ist ein erstaunlich guter Kaffee.«

»Es ist Starbucks’, von Seattle bis hierher. Der beste Kaffee der Welt. Und ich freue mich, daß deine Stimmung besser wird.«

Wetzon trank den Espresso aus. »Mir sind in dieser Woche ein paar traumatische Dinge passiert, und dabei ist erst Dienstag. Ich möchte nur zu gern wissen, was der Rest der Woche noch bringen wird.«

Laura Lee signalisierte nach einer zweiten Tasse und schaffte es, damit einen kleinen Flirt mit dem Kellner zu verbinden, einem auf gepflegte Weise attraktiven Mann mit ausgeprägtem Mastroianni-Akzent. »Sehr hübsch gebaut.« Sie grinste Wetzon an. »Ich brenne darauf, alles darüber zu hören, Schatz.«

»Und ich brenne darauf, es dir zu erzählen, falls du dich von dem Espressomann losreißen kannst, obwohl ich nicht weiß, warum ich dich verurteilen sollte, ich habe ja selbst einen in meinem Leben.«

»Einen Espressomann?«

»Einen Italiener.«

»Ach so.« Laura Lee schüttelte den Kopf. »Wetzon, Schatz, das Leben ist viel zu kurz, um alles so ernst zu nehmen wie du. Nun zu deiner Geschichte.«

»Zuerst wird Dilla Crosby totgeschlagen, unmittelbar vor Carlos’ Generalprobe, und wir finden die Leiche. Dann erkennt mich der Detective, der den Fall hat, von unserer Bekanntschaft vor drei Jahren wieder...«

»Und weiß nicht, daß du dich von Silvestri getrennt hast...«

»Du hast es kapiert. Also greift er zum Telefon und erzählt Silvestri, daß ich in einen Mord verwickelt bin. Und rate mal, wie es weitergeht?«

»Silvestri kommt auf seinem Schimmel dahergeritten. So.«

»Mehr oder weniger.«

»Und wo ist der vornehme Alton Pinkus, während das alles passiert?«

»In Caracas bei irgendeinem Gewerkschaftskongreß. Das ist die andere Sache, Laura Lee. Stell dir das vor: Während Silvestri und ich uns auf dem Sofa vergnügen, ruft Alton an und hinterläßt eine Nachricht auf meinem Anrufbeantworter, so daß es alle Welt hören kann, und bittet mich, ihn zu heiraten.«

Laura Lee sang einen Hochzeitsmarsch.

»Laura Lee, benimm dich.«

»Was für eine pikante Situation. Gefällt dir das nicht?«

»Na ja...«

»Mach schon, Wetzon, denk darüber nach.«

»Aber Laura Lee, wenn ich Alton heirate, muß ich meine Wohnung aufgeben.«

»Hör dir selbst zu, Schatz. Hast du mitgekriegt, was du eben gesagt hast?«

Wetzon lachte. »Ich schätze, ich möchte nicht heiraten. Wenigstens nicht, wenn ich dann umziehen müßte. Im Ernst, wie würde ich jemals für das, was ich für meine Wohnung bezahlt habe, eine entsprechende andere finden?«

»Wetzon, wir beide wissen, daß Quadratmeter das Geheimnis einer perfekten Beziehung in New York sind.«

»Aha, der reine, süße Klang der Wahrheit.« Wetzon griff nach ihrer Brieftasche.

»Steck das weg, Schatz. Ich habe es schon erledigt.«

»Ich habe kein Geld über die Theke gehen sehen.«

»Marcello hält mich für süß.« Sie sah zum Kellner hinüber, und er strahlte sie mit einem sexy Lächeln an.

»Du bist süß. Komm, wir gehen ein Stück zusammen. Zwei Pelztiere, die über den Broadway tigern.«

»Ich dachte mir, daß du deine Meinung ändern und doch zu Fuß gehen würdest, wenn ich dich erst aufgeheitert hätte. Und außerdem tut uns beiden die Bewegung gut.«

Sie gingen die Sixth Avenue zur Central Park South ziemlich schnell hoch, mit einem feuchtkalten Wind im Rücken, der sie vorantrieb. Vor den Hotels reihten sich die Taxis. Das New Yorker Nachtleben würde bald beginnen.

»Wie läuft es bei dir und Eduardo?« Eduardo war Laura Lee Days SoHo-Künstler.

»An sich gut, aber ich bekomme es allmählich ein wenig über, in einem Gabriel-Garcia-Marquez-Roman zu leben.«

Büroangestellte befanden sich auf dem Heimweg zur Upper West Side. Jedesmal wenn die MTA die Preise für Bus und U-Bahn anhob, entschieden sich mehr Menschen dafür, zu Fuß zu gehen. Und es waren wesentlich mehr Frauen als Männer. Wetzon fragte sich, was das bedeutete.

»Ich hatte heute morgen wieder so einen New Yorker Moment«, sagte Laura Lee. »Soll ich erzählen?« Laura Lee nannte seit einiger Zeit absurde Dinge, die nur in New York passieren konnten, >New Yorker Momente«, und sie und Wetzon wetteiferten mit solchen Geschichten.

»Ich weiß, daß du sie mir sowieso erzählst.«

Laura Lee gluckste. »Diese ist besser als alles, was du in letzter Zeit hattest. Heute morgen bekam ich einen Sitzplatz in der U-Bahn und schlug mein Journal auf. Ich blätterte als erstes zum dritten Teil durch, um mich zu vergewissern, wo meine Aktien geschlossen hatten, dann fing ich vorne an. Plötzlich wurde mir bewußt, daß jemand furchtbar nahe stand und mit üblem Mundgeruch direkt auf mich herunter atmete. Ich blickte auf und direkt in das Gesicht eines Obdachlosen. Er war so schmutzig, daß es jeder Beschreibung spottet. Er sah aus wie einer, der sich letzten November im Schlamm gewälzt und es trocknen gelassen hat. Er redete mich an, und ich schwöre, daß ich beinahe den Atem anhielt. >Entschuldigen Sie<, sagte er, >aber würde es Ihnen etwas ausmachen< — und was meinst du, was er sagt?«

»Ich habe keinen Schimmer.«

»Er sagt: >Kann ich Ihre Zeitung lesen?< Ganz verdattert sage ich: »Aber es ist das Journal.< Er starrt mich nur an und will nicht weggehen, also gebe ich ihm den Teil, den ich gerade gelesen habe, weißt du, den mit den Aktienkursen und so, und was meinst du, Wetzon? Er fängt an zu lesen. Und gerade als wir ins World Trade Center einfahren, faltet er sie zusammen, gibt sie mir zurück und sagt: »Der Markt ist künstlich verteuert, Korrektur ist dringend fällig.««

»Das hast du erfunden.«

»Ehrlich, Hand aufs Herz.«

»Dann würde ich ihn wahrscheinlich wiedererkennen.«

»Wie das?«

»Ganz einfach. Er war mal Börsenmakler.«

Lachend erreichten sie Laura Lees Haus.

»Übrigens«, sagte Laura Lee. »Seine Tochter gibt eine große Abendgesellschaft.«

»Wessen Tochter? Des heruntergekommenen Maklers?«

»Reiß dich zusammen, Wetzon. Alton Pinkus’ Tochter.«

»Woher weißt du das?«

»Ich habe dir doch erzählt, daß Sandra Semple meine Kundin ist.«

»Habe ich ganz vergessen. Alton wird im März siebenundfünfzig. Vielleicht ist es eine Geburtstagsfeier.«

»Sie hat mich eingeladen, dann sehen wir uns also dort.«

»Sei dir nicht zu sicher. Ich glaube nicht, daß Altons Kinder mich mögen.«

»Kinder sind sie kaum. Sandra ist einunddreißig, und die zwei anderen sind Ende Zwanzig und wohnen sowieso nicht in der Nähe. Und Alton liebt dich, was macht es also? Du heiratest nicht sie.«

»Ihn heirate ich auch nicht.«

Wetzon winkte Laura Lee und setzte ihren Weg die Columbus hoch fort. Laura Lee stieß sie auf die humoristischen Seiten des Lebens. Und das war gut. Sie war ein lebhafter Geist und rang dem Leben mehr Vergnügliches ab als zehn andere Bekannte Wetzons zusammengenommen.

Wetzon fühlte sich so wohl, daß sie Detective Bernstein und seine Kollegin zuerst nicht erkannte, als sie aus einem neutralen Auto stiegen und in ihre Halle gingen.

»Scheiße!« sagte sie laut, und ein Kind auf einem Fahrrad äffte sie nach: »Scheiße, Lady, Scheiße, Scheiße!« Sie blieb abrupt stehen. Sie hatte nicht übel Lust, auf dem Absatz kehrtzumachen und in einem Lokal zu essen. Aber sie war müde. Sie wollte nicht irgendwo essen. Sie wollte zu Hause sein.

Bernstein tauchte aus ihrem Haus auf und blickte die Straße auf und ab. Und wieder auf. Er hatte sie entdeckt und stand jetzt wartend unter dem marineblauen Baldachin.

»Ms. Wetzon.« Immerhin hatte er wenigstens auf seinen spöttischen Miss-Wesson-Spruch verzichtet.

»Detective Bernstein. Guten Abend. Welcher Angelegenheit verdanke ich das Vergnügen Ihres Besuches?« Er hielt ihr die Tür auf, und sie betraten ihre Halle, wo seine Partnerin Gross Wetzons Portier ablenkte.

»Es wäre einfacher, wenn wir nach oben gingen.« Bernstein folgte ihr zu ihrem Briefkasten und beobachtete sie, wie sie die Post herausnahm.

»Sie wollen sagen, Sie möchten mitkommen?« Wetzon drückte auf den Aufzugknopf. Die Kabine befand sich im neunten Stock und stand still. Eine Alarmglocke begann zu schrillen. Der Aufzug war offensichtlich wieder einmal steckengeblieben. Soviel zu den sechstausend Dollar Umlage, die sie als ihren Anteil an dem neuen Aufzug hatte zahlen müssen.

»Kommen Sie, ich bringe Sie hinauf, dann rufe ich den Hausmeister.« Julio deutete auf den Lastenaufzug, dann ging er zur Haustür und schloß ab.

Der Lastenaufzug, ein antikes Stück selbst für die West Side, würde es auch nicht mehr lange machen. Ein widerlicher Geruch drang aus dem Stapel von gefüllten Plastikmüllsäcken an der rückwärtigen Wand der Kabine. Es war keine angenehme Fahrt, aber besser, als zwölf Treppen hinaufzusteigen.

Als sie ihre Tür aufschloß und ihnen voranging, schaltete sie den Kronleuchter in der Diele an und ging dann ins Wohnzimmer, um Licht zu machen.

»Mann, ist das toll«, bemerkte Gross.

»Hm.« Bernstein kratzte sich den Kopf unter der Jarmulke und setzte sich aufs Sofa.

»Ist das eine Eigentumswohnung?« Gross studierte den Wandbehang, der vor ihr hing.

»Ja.« Wetzon hängte ihren Mantel in den Schrank, Gross spazierte durchs Wohnzimmer und betrachtete alles.

Bernstein zog sein schmutziges Notizbuch heraus. »Wollte nur ein paar Dinge mit Ihnen durchgehen.«

»Okay.« Wetzon setzte sich auf den einfachen hölzernen Lehnstuhl und wartete. Er war tatsächlich freundlich, das heißt, so freundlich, wie es ihm möglich war. Gross studierte jetzt die Titel auf Wetzons vom Boden bis zur Decke reichenden Bücherwand.

»Sie haben gesagt, der Kassierer hatte immer einen Knüppel unter dem Kartenfenster liegen.«

»Sie meinen den Kassenleiter. Der Kassenleiter trägt die Verantwortung auf Tagesbasis für das, was hereinkommt — Geld — und was hinausgeht — Eintrittskarten.«

»Okay, ja. Und der Knüppel?«

»Manche Kassenleiter hatten tatsächlich einen, aber es ist lange her, daß ich in einer Show mitgewirkt habe. Vielleicht heute nicht mehr. Vielleicht hat man jetzt eine Uzi. Sie sollten mit dem reden, der Kassenleiter des Imperial ist. Ich weiß nicht einmal, ob er am betreffenden Mittag da war.«

»Sie.« Es klang selbstgefällig.

»Ah, eine Frau. Es gab nicht viele Frauen in dieser Gewerkschaft, soviel ich weiß. Die Zeiten ändern sich.«

»Haben Sie sie gesehen?«

»Woher sollte ich sie kennen, wenn sie mir nicht vorgestellt wurde. Es hat nur so von Leuten gewimmelt — Detectives meist... Wie sieht sie aus?«

Bernstein nickte Gross zu, die unwillig ihre Wanderungen einstellte und neben Wetzons Stuhl stehen blieb. Sie holte ihr Notizbuch vor, blätterte ein paar Seiten um und las vor: »Schwere Frau. Mitte Vierzig. Etwa eins zweiundsiebzig, fünfundsiebzig. Trug ein schwarzes Kostüm. Hellbraunes Haar, schulterlang, zurückgekämmt, von Stirnband gehalten. Große Brille.« Als sie das Notizbuch zuklappte, fügte sie hinzu: »Sie heißt Edna.«

Wetzon runzelte die Stirn. »Nach der Beschreibung kommt sie mir irgendwie bekannt vor. Ich muß sie gesehen haben. Andernfalls...«

»Kennen Sie sie?«

»Nein. Woher sollte ich sie kennen? Ich kenne keine Edna.«

»Aber Sie kennen ihren Sohn.«

Wetzon setzte sich gerade. »Ist das eine Fangfrage? Ja, solche Stellen für Gewerkschaftsmitglieder gehen oft vom Vater auf den Sohn über. Aber wer ist Ednas Sohn?«

»Phil Terrace.«