»Was soll das?« Wetzon stieß den Stock beiseite und funkelte den Mann, dem er gehörte, wütend an. »Mort, verdammt, konntest du nicht einfach >hallo, Leslie< sagen wie ein normaler Mensch?«

Morts rechter Arm befand sich in einer Schlinge, und er trug einen Stützkragen um den Hals. Eine häßliche Schramme bedeckte die rechte Seite seines Gesichts von der Stirn bis zum Ansatz seines Bartes; die Augen waren glasig von zu vielen Schmerzmitteln. Eine Bandage unter dem Cashmerepullover machte die eine Schulter zu einem dicken Paket. Er sah aus wie Quasimodo mit Mütze, und er trank doppelte Martinis.

Wetzon bekam sofort ein schlechtes Gewissen. »Um Gottes willen, Mort, das tut mir leid.«

Mit dem Stock deutete er auf den freien Stuhl neben sich, dann winkte er dem Kellner mit der gesunden Hand. Immer noch von seinem übel zugerichteten Äußeren schockiert, setzte sich Wetzon.

»Amstel Light«, bestellte Wetzon, überrascht, wie schnell der Kellner erschienen war, aber Mort war schließlich eine Berühmtheit. Sie konnte den Blick nicht von ihm abwenden. »Und was zum Knabbern bitte, Käse oder Kräcker.«

Mort bestellte mit einer Geste einen weiteren Drink. Konnte er nicht sprechen? Hatten bei dem Überfall seine Stimmbänder gelitten?

»Carlos hat mir erzählt, daß du überfallen und ausgeraubt wurdest, aber ich hatte keine Ahnung...«

»Überfallen und ausgeraubt...« Es war ein höhnisches Krächzen, und Wetzon bemerkte, daß er den Mund wegen der Schwellung kaum aufbekam. Er nahm ihre Hand und drückte sie so fest, daß sie zusammenzuckte. »Du mußt mir helfen, Leslie.« .

»Ich?« Sie starrte auf die Blume, die im Glas hochstieg, während der Kellner einschenkte. »Was kann ich tun?«

»Es war einer von ihnen. Erst Dilla. Jetzt ich.«

Morts Ego war so beschaffen, daß er sich lieber für ein potentielles Mordopfer halten wollte als für das Opfer eines Raubüberfalls. Wetzon trank einen Schluck Bier und schnitt ein kleines Stück Stiltonkäse ab. »Aber, Mort, bist du nicht vielleicht ein bißchen melodramatisch?« Und weil sie es sich nicht verkneifen konnte, fuhr sie fort: »Du bist so ein netter Kerl, warum sollte dich jemand töten wollen?«

Die gesunde Seite von Morts Gesicht lief rot an. Er betrachtete Wetzon argwöhnisch. Sie strahlte ihn mit ihrem freundlichsten Lächeln an. »Gideon Winkler?« half sie nach, da sie wußte, daß der Dramaturg von Mort eingeladen worden sein mußte, sich die Show anzusehen. So etwas passierte nicht einfach so. Dahinter stand ein Plan.

»Leslie, du konntest nie verbergen, was du von mir hältst. Ich habe dir vertraut. Jetzt sehe ich, daß du wie alle andern bist.« Tatsächlich traten ihm Tränen in die Augen; Wetzon fühlte sich schrecklich. »Alle sind gegen mich.«

»Aber, aber, Mort. Tu das nicht.« Was für ein Stück Scheiße er war; er verletzte so viele Menschen, und sie hatte schon wieder Mitleid mit ihm.

»Und jetzt hat Poppy mir auch noch Smitty weggenommen.« Tränen rollten über seine Wangen in den Bart. Er versuchte, den Kopf in die Hände zu legen, doch das war nicht einfach mit dem Stützkragen.

Lieber Gott, dachte Wetzon, wie um Himmels willen komme ich da heraus? War dieser Smitty, der junge Mann, für den sich Carlos interessierte, derselbe, den Mrs. Mort — Poppy- in ihrem Wagen nach Boston mitgenommen hatte?

»Mort, warum bist du nicht bei der Technikprobe? Wo sind die anderen? Du kannst nicht einfach hier herumsitzen und trinken und dir leid tun. Du mußt eine Show auf die Beine stellen. Eine Menge Leuten hängen von dir ab.« Sie stand auf und machte einen Schleifschritt. »Komm schon, Junge. Ihr müßt euch zusammenraufen.« Sie griff nach dem marineblauen Dufflecoat, der auf einem leeren Stuhl lag, hielt ihn bereit, während Mort mühsam die Rechnung unterschrieb, und legte ihn, als er stand, um seine Schultern. Ihren langen Schal schlang sie doppelt um den Hals und zog die lavendelfarbene Baskenmütze über Stirn und Ohren. Bostoner Winter waren kein Spaß. Draußen bot ihnen der Portier ein Taxi an, doch Mort winkte ab, und sie gingen das kurze Stück zur Boylton Street und zum Colonial Theatre zu Fuß. Sie bemerkte sofort, daß Mort den Stock eigendich nicht brauchte. Er benutzte ihn als Stütze, um bei den Menschen, die er beschimpfte, Mitleid und unangebrachte Schuldgefühle zu wecken.

Beinaähe wäre sie am Theater vorbeigegangen. Wo war die alte Anzeigetafel geblieben? Verschwunden, anscheinend durch ein einfaches Brett ersetzt. »Wie soll ohne die Leuchtanzeige jemand merken, daß es ein Theater ist?« fragte sie Mort, der nur knurrte.

Doch die Leute merkten es offenbar. Vor dem Kassenfenster standen acht Personen an. Der Anblick hellte Morts Stimmung beträchtlich auf.

Ein großer Mann in karierter Sportjacke hielt ihnen die Tür auf. Mort machte Wetzon ein Zeichen. »Das ist Bob.«

»Bob Foley«, sagte der Mann. »Hausverwalter.« Er reichte Wetzon die Hand.

Sie nahm sie. »Leslie Wetzon. Was ist mit der alten Anzeigetafel passiert?«

»Ein Lastwagen hat sie beim Zurückstoßen heruntergerissen.«

»Jammerschade.«

»Unter der alten kam allerdings eine wunderbare noch ältere mit Muschelornamenten zum Vorschein, aber sie mußte ersetzt werden, weil sie brüchig war und gefährlich hätte werden können.«

Mort machte ein böses Gesicht und ging wortlos hinein. Wetzon sah Foley an, zuckte die Achseln und folgte Mort.

Das Colonial Theatre war fast ein Jahrhundert alt, eine alternde Schönheit, eine Kurtisane, noch immer üppig von den Logen bis zum Proszenium. Es war eine Rokokopracht: Satinholztäfelung, mit Blattgold überzogenes Schnitzwerk, ein gemalter Fries in der Kuppel des Hauses, Wandgemälde. Für Wetzon war es mit Abstand das schönste alte Theater in den Vereinigten Staaten.

Innen war das Haus dunkel bis auf die Lämpchen im Orchestergraben, das Licht vom Regiepult, auf Holzbohlen aufgebaut, die über mehrere Sitzreihen vorn in der Mitte gelegt waren, und natürlich die Bühnenbeleuchtung. Es herrschte eine chaotische Atmosphäre.

Wetzon wartete, bis ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Auch nach so vielen Jahren spürte sie immer noch dasselbe aufregende Prickeln, wenn sie zum erstenmal das Bühnenbild sah, wenn sie miterlebte, wie eine Show zu atmen begann. Und auf der Bühne befand sich eine besonders schöne, gemalte und konstruierte Ausstattung mit Laufstegen und Streben, ein mehrfach unterteilter Bühnenboden, jeweils in einem anderen Winkel geneigt. Scheußlich, wenn man darauf tanzen mußte, aber ein Vergnügen für das Auge.

An dem Brettertisch saßen mehrere Gestalten vor Computern. Sie trugen Kopfhörer, hielten Clipbretter und Drehbuchseiten in den Händen und riefen Stichwörter. Der Tisch war ein Schlachtfeld aus Kaffeebechern, halb gegessenen Speisen, zerknüllten Papiertüten und Servietten. Beleuchtungsausrüstung und Kabel lagen in den Gängen herum.

Carlos stand am Orchestergraben und beobachtete die Darsteller, die sich im kompletten Kostüm durch eine Nummer sangen und tanzten, an die Wetzon sich von dem Vorführband erinnerte.

Mort warf ihr seinen Stock zu, und sie fing ihn auf. Er ging sofort den Mittelgang hinunter, gestikulierte zu den Leuten am Computer und gesellte sich zu Carlos, um mit diesem vom vordersten Parkett zur Bühne hochzustarren. Von dem Platz hinten im Haus, wo Wetzon stand, sah sie, daß Mort Carlos einen Klaps auf den Rücken gab und Carlos nickte.

Irgendwo vorn leuchtete ein Blitzlicht auf, dann noch eins. Kostümproben waren immer die beste Gelegenheit, Szenenfotos für die Werbung zu bekommen. Wetzon suchte die vorderen Reihen nach dem Fotografen ab. Sie fragte sich, ob Irwin Rodgers noch der bevorzugte Fotograf des Broadways war. Irwin mußte jetzt in den Sechzigern sein und trug wahrscheinlich immer noch das schlechte Toupet, das nie flach anlag, sondern über dem einen Ohr ein wenig abstand.

JoJo winkte das Orchester mitten im Takt ab. Es dauerte einige Sekunden mehr, bis die Truppe auf der Bühne zum Stehen kam, so ähnlich wie ein Wecker, der langsam ausläuft. JoJo rief etwas von >nicht zuhören< und >zu früh einsetzen<, dann drehte er sich um und sprach mit Carlos und Mort. Carlos lief nach links um den Orchestergraben herum und kam zur Vorbühne. Er gab einen Hinweis auf Schrittkombinationen, die Wetzon nicht verstehen konnte. Dann hob JoJo den Arm, und das Orchester und die Schauspieler begannen wieder. JoJo hatte sich einen ansehnlichen Umfang und einige Fettrollen, die unter seinem kurzen T-Shirt vorquollen, sowie einen von Mort inspirierten grauen Bart zugelegt.

Wetzon seufzte. Es würde eine lange Nacht werden. Das war eine kombinierte Technik- und Kostümprobe. Sie schaute auf den Spazierstock in ihrer Hand hinunter. Verdammt, Mort hatte ihr den Stock zur Aufbewahrung gegeben, als ob sie noch für ihn arbeitete. Sie hängte den Stock gerade an den Griff der Tür zum Foyer, als eine Frau in formlosen braunen Hosen und einem beigen Männerhemd, einem Safarihemd mit tausend Taschen, die Treppe vom Rang herunterkam, gefolgt von einer jüngeren Frau in Jeans, die ein beleuchtetes Clipbrett trug. Kay Lewis, legendäre Lichtregisseurin. Kay hatte mit allen großen Musicalregisseuren zusammengearbeitet: Jerry Robbins, Hai Prince, Michael Bennett, Bob Fosse, Gower Champion.

»Tag, Kay.«

Kay blinzelte Wetzon mit trüben Augen an. Ihr Gesicht war ein verzweigtes System von Falten, wunderschön in ihrer Symmetrie; das Haar trug sie kurz und um die Backenknochen gerade gestutzt.

»Mann, Sie sehen wie diese kleine Tänzerin aus, Leslie Soundso.« Ihre Stimme war tief und kratzig.

»Wetzon. Und nein, ich bin nicht ins Showbusineß zurückgekehrt, Kay. Ich bin als Carlos’ Freundin hier.«

»Da hast du ja Glück.«

»Ich vermute, Mort ist...«

»Mort!« Kay spie den Namen aus. »Um es gleich zu sagen, ich habe einen Furunkel am Hintern und kann mich nicht setzen, und Mort hat sich selbst übertroffen. Das ist meine letzte Show mit ihm. Ich bin mit ihm fertig. Es ist mir egal, wenn es außer ihm keinen Regisseur mehr gibt. Eher sterbe ich, als daß ich noch einmal mit ihm arbeite.« Sie gab ihrer Assistentin ein Zeichen. »Komm, Nomi.«

Die zwei Frauen gingen durch den Mittelgang, wichen gekonnt dem Gewirr von Kabeln zum Computertisch aus, als ein lautes zischendes Geräusch sie abrupt zum Stehen brachte. Die Bühne war plötzlich in ein unheimliches blaues Licht getaucht. »Diese gottverdammten Farbwechsler!« Kay schleuderte angeekelt ihr Clipbrett auf den Boden.

Mort fing an zu brüllen. »Sechzig Farbwechsler! Sechzig, um Himmels willen.«

»Du hast bekommen, was du wolltest«, fuhr Kay ihn an.

Wetzon lehnte die Arme auf die Stehplatzbrüstung hinter den seitlichen Parkettsitzen und schaute sich um. Zwei Bühnenarbeiter kamen aus den Seitenkulissen und schauten nach oben.

Dann entdeckte sie Twoey, der mit Sunny Browning am linken Gang im mittleren Teil saß. Ein paar Reihen hinter Carlos und Mort saßen Aline und ihr junger Freund, Edward. Und Sam Meidner, mit einer Mütze, die Morts Kopfbedeckung ähnelte, stand etwas abseits auf der rechten Seite, an eine Säule gelehnt. »Okay, weiter geht’s«, befahl JoJo. »Einmal durch, dann machen wir zwanzig Minuten Pause.« JoJo hob den Taktstock, und das Licht fing die Gürtelschnalle seiner tiefsitzenden Jeans ein.

Irgendwo in der Nähe hörte Wetzon Geflüster und dann ein eigenartiges Geräusch, wie spritzendes Wasser. Das Orchester begann zu spielen und übertönte das Geräusch. Neugierig ging Wetzon hinüber, wo der Gang sich an zwei Reihen nach innen einbuchtete.

Eine üppige Frau mit einer Masse wilden roten Flaares saß auf dem letzten Sitz, ganz links, mit dem Rücken zu Wetzon. Poppy Hombergs Haar war unverkennbar. Als Wetzon näherkam, sah sie, daß Poppy das Gesicht von jemandem, der auf dem Boden im Gang hockte, hielt und mit Küssen bedeckte. Smitty, denn es mußte sich um Smitty handeln, bewegte seinen Kopf ein bißchen.

Wetzon schnappte nach Luft und umklammerte die Brüstung. Sie spürte fast den Boden unter ihren Füßen wanken.

Der Mann — das heißt, es war kein Mann, sondern ein Junge — blickte herauf. Sein Blick begegnete Wetzons Blick und drückte Ekel aus. Poppy hörte nicht auf, ihn zu verschlingen und sein Gesicht abzuschlecken.

Wetzon flüchtete. Smitty war Mark, Smith’ Sohn.