Nichts erhellte den Hintereingang. Wetzon ieß die Tür offen, um einen schwachen Lichtschein vom Parkplatz hereinzulassen, und tastete sich vor. Die Tür war vermutlich die ganze Zeit offen gewesen.
Sie stand in der Dunkelheit. Es war hoffnungslos. Was sollte sie tun? Tief durchatmen, befahl sie sich. Sie tat es und rief juhu, als wolle sie jemanden besuchen: »Carlos? Bist du hier?« Ihre Stimme fiel in die Totenstille. Sie schob sich vorwärts, berührte die Wand. Sie hatte in diesem Theater in Anatevka mitgewirkt. Eigentlich müßte sie sich an den Grundriß erinnern.
Sie stieß gegen das Portierspult. Jetzt brauchte sie nur noch eine Taschenlampe. Aus Erfahrung wußte sie, daß sich eine im Pult oder an einem Haken in der Nähe befinden mußte. Sie fand sie an einem Haken an der Seitenwand neben dem Pult.
Ihre Füße waren eiskalt vom Steinboden. Sie hätte den Schuhen nachlaufen sollen. Jetzt war es zu spät. Sie knipste die Taschenlampe an; ihr Strahl flackerte. Die Batterien waren fast leer, verdammt. Sie ließ das Licht kreisen, sah nichts, rückte durch den Flur in die Seitenkulissen vor. Von da auf die Bühne. Sogar bei dem trüben Licht konnte sie sehen, daß die blaue Segeltuchtasche verschwunden war. Aber wo konnte Carlos sein? Da sie nicht nachdenken wollte, was passiert sein könnte, richtete sie die Lampe in den Orchestergraben hinunter und in den Zuschauerraum. Auf der Bühne eines leeren Theaters zu stehen war unheimlich. Sie hatte das Gefühl, daß verborgene Augen sie beobachteten.
»Carlos?« Sie überquerte die Bühne zu der Treppe, die zu den Garderoben führte. Sie würde hinaufgehen müssen. Vielleicht hatte Smith Bernstein gefunden, und sie waren schon auf dem Weg.
Sie setzte den Fuß auf die unterste Stufe und leuchtete nach oben. Nichts. »Carlos?«
Ein leises Stöhnen ließ ihr einen Schauder über den Rücken laufen. »Carlos?« Wo war der Laut hergekommen? Nicht von oben, sondern von unten. Doch der Orchestergraben war leer gewesen.
Der Kostümraum. Verflixt. Das war eine Todesfälle, ein Labyrinth. Ein erneutes leises Stöhnen. Sie ging die Treppe zum Keller hinunter und in den Kostümraum, schwenkte den schwächer werdenden Lichtstrahl umher. Kostüme an Ständern. Vollgestopfte Regale, Kartons mit Stoffresten, eine Nähmaschine, eine Schneiderpuppe. Der Geruch nach Textilfarben. Und nach etwas anderem. Der eindeutige süßliche Geruch nach Blut. Wieder hatte jemand ganz in der Nähe gestöhnt; langsam drehte sie sich um.
Der Lichtstrahl fing eine Bewegung auf dem Boden in der Nähe eines Kostümständers ein. Sie drängte sich durch. Carlos lag auf dem Boden. Aus einer häßlichen klaffenden Wunde direkt über seinem rechten Auge tropfte Blut. »Carlos!« Sie ließ sich auf die Knie fallen, und die Taschenlampe fiel ihr aus der Hand und rollte weg. »Was habe ich getan?« Sie hob seinen Kopf auf ihren Schoß und spürte fast sofort das Blut durch ihr Kleid sickern.
»Häschen...« Er griff schwach ihre Hand. »Verschwinde von hier. Sofort.«
»Ich lasse dich nicht allein. Wer hat das getan? Was ist mit dem Schläger?« Er antwortete nicht. »Stirb nicht, Carlos. Bitte stirb nicht.« Sie suchte seinen Puls. Verdammt, wo war Bernstein?
In der Dunkelheit suchte sie tastend unter den Kostümen nach etwas Weichem, um es unter Carlos’ Kopf zu legen. Als sie auf den schwachen Strahl der Taschenlampe zukroch, stießen ihre Hände an ein Paar Schuhe. Fast im selben Augenblick begriff sie, daß sie sich an den Füßen von jemandem befanden. Und dieser Jemand hatte die Taschenlampe aufgehoben.
Das Licht traf ihre Augen und blendete sie. »Mädchen, was suchst du hier?« Fran stieß mit seinem Spazierstock hart an ihre Schulter. Ein scharfer Schmerz fuhr durch ihren Arm. »Habe ich dir nicht gesagt, du sollst die Finger davon lassen?« Er klang wütend.
»Fran, bitte tu mir nicht weh. Carlos liegt blutend da drüben. Kannst du mir helfen, ihn von hier wegzubringen?«
»Fran?« Eine Frau rief die Treppe hinunter. »Bist du dort unten?«
»Ja, Edna.«
»Ist Phil bei dir?«
»Nein. Der wird wohl bei Sardi‘s sein.« Fran langte grob nach unten und zerrte Wetzon auf die Beine. »Verschwinde, auf der Stelle.«
»Aber Carlos...«
»Ich kümmere mich um Carlos.«
Einem Mörder vertrauen, dachte sie. Unmöglich. Sie würde hinaufgehen, und seine Komplizin würde ihr eins mit dem Schläger überziehen. »Laß dir von mir helfen.«
Er knurrte etwas, das sie als Zustimmung nahm.
Auch zusammen konnten sie Carlos’ volles Gewicht nicht heben.
»Hol einen Krankenwagen«, sagte Fran. Seine Stimme war schwach geworden. Sie spürte, daß sein Körper zitterte. Die Taschenlampe fiel zuerst, dann der Stock. Schließlich Fran. Krachend wie eine alte Eiche.
»Fran, mein Gott, was ist los?«
Er stöhnte. Ein ekelhafter Gestank vertrieb den süßlichen Geruch nach Blut. Wetzon hob sich der Magen. »Mädchen«, krächzte Fran, »sag ihnen... sag... ich war es. Lenny... mein Freund... sterben...« Seine Stimme wurde so leise, daß sie ihn kaum hören konnte.
»Fran?« Sie legte ihr Ohr nahe an seine Lippen. Seine Brust hob sich und zuckte.
»Das Auto... Weibstück mußte haben... sag ihnen, ich war es... Sie war... gespürt, daß sie einen übers Ohr haut, während sie... dagestanden und mit einem geredet hat.« Er brach hustend ab und bekam keine Luft.
Wetzon hob den Kopf und berührte Carlos’ Handgelenk. Der Puls war noch da, Gott sei Dank. »Fran?« Er atmete immer noch pfeifend.
Fran bekam wieder Luft und begann. »Sie hat alles genommen... der Schlüssel... nichts im Kasten gelassen...« Er packte Wetzons Hand mit einem eisernen Griff. »Sag... ich war es...«
Als er schwieg, versuchte Wetzon, ihre Hand zu befreien, aber er wollte sie nicht loslassen. Sein qualvolles Röcheln ließ sie frösteln. »Fran? Kannst du mich hören? Laß mich einen Krankenwagen rufen.«
»Mieser Schauspieler... Edna und denjungen verlassen...« Husten rumpelte wieder in seiner Kehle, und seine Stimme wurde schwächer. »...immer gesagt, daß sie den Kasten nicht genommen hat... der Kasten... ihr geglaubt und dann... Celias Ring getragen...«
»Fran, warum hast du Sam getötet?« Fran antwortete nicht. Sein Atem kam in kurzen Stößen. Vielleicht lag er im Sterben.
Carlos stöhnte. »Häschen?«
»Carlos, meinst du, du kannst stehen?«
»Fran, wo bist du? Was ist dort unten los?« Edna wieder.
Wetzon rief: »Edna, rufen Sie einen Krankenwagen! Fran geht es sehr schlecht.« Sie hörte einen Schrei, danach hastige Schritte.
Carlos tastete nach ihr, kam auf die Knie hoch. »Scheiße! Ich habe ganz schöne Kopfschmerzen.«
»Was ist passiert?«
»Ich weiß nicht. Ich habe den verdammten Schläger geholt und bin hierhergekommen, um ihn zu verstecken.« Sie merkte, daß er auf dem Boden herumtastete. »Wo ist er?«
»Fran muß dir eins auf die Birne gegeben haben.« Sie hob die Taschenlampe auf und ließ den Strahl kreisen. »Ich sehe keinen Schläger.«
»Fran? Herrgott, Häschen, nicht Fran.«
»Ich fürchte doch. Er hat gestanden.« Sie half Carlos auf, und mit ihrem Arm um seine Taille und seinem Arm um ihre Schulter stiegen sie unbeholfen die Treppe hinauf, während sie das Licht auf jede Stufe richtete.
»Ich glaube es nicht. Himmel, die Kritiken, sind sie gekommen?« f
»Nur du kannst in so einem Augenblick an Kritiken denken.«
»Häschen, wenn Fran gestanden hat und nur du ihn gehört hast, reicht das?«
»Ich weiß nicht. Er ist noch nicht tot, aber ich glaube, er liegt im Sterben.«
»Ja, Leberkrebs.«
Als sie oben ankamen, war von Edna keine Spur zu sehen. »Sie ruft einen Krankenwagen, hoffe ich«, sagte Wetzon.
Mit kreischendem Heulen fegten eisige Windstöße durch das Theater und zerrten an den Wänden des Hauses. »Was ist da draußen los?«
»Es ist wie ein Hurrikan. Möchtest du hier warten?«
»Um alles in der Welt nicht.« Sie schleppten sich durch den Bühneneingang und auf die Gasse hinaus, wo der Wind sie schüttelte und an ihrer Kleidung riß. »Wenn wir zur Shubert Alley kommen, kann ich dich in der Nähe des Booth lassen und Hilfe holen.«
Sie torkelten wie zwei Betrunkene, durchgerüttelt von rauhen Windstößen, aneinandergeklammert. Seltsamerweise waren die Menschenmengen um das Theater herum verschwunden, und es herrschte praktisch kein Verkehr. Eine hochgewachsene schwarze Gestalt am Eingang der Shubert Alley schien ihnen zu winken und zu schreien, doch sie konnten nichts hören. Wegen des ganzen Unrats, der um sie herumwirbelte, konnten sie kaum etwas sehen.
Als sie näher kamen, schrie Wetzon: »Es ist Smith«, aber der Wind verschluckte ihre Worte. Was machte Smith dort, herumhopsend wie eine Verrückte? Sie rannte auf sie zu. Als sie die Shubert Alley erreichten, stürzte sie sich auf die zwei und warf sie zu Boden. Im Fallen sah Wetzon etwas haarscharf über ihren Kopf sausen. »Was zum — Smith, bist du verrückt?«
Carlos schrie. Wetzon drehte sich um und sah Phil, den Schläger über den Kopf erhoben. Über ihnen schienen sich die Fenster des Gebäudes zu wellen. Das Gerüst war fort. Mit einem gewaltigen Dröhnen zersprangen die Fenster. Glasscherben regneten auf die Leute herunter. Wetzon schützte ihren Kopf mit den Händen, als große Glasscheiben sich von dem Gebäude lösten.
Edna kam von der 45. Street hergelaufen. Wetzon sah Phil, den Schläger wieder erhoben, sah den erstaunten Ausdruck seines Gesichts, als ein Säbel aus Glas seinen Hals berührte und säuberlich wie eine Guillotine den Kopf vom Rumpf trennte.
Phils Körper, mit dem Schläger in der Hand, verweilte einen Augenblick in der Schwebe, dann stürzte er.
»Lieber Gott«, schrie Wetzon. »Lieber Gott.«
Der Wind schleuderte und warf Phils Kopf wie einen Fußball und ließ ihn vor einem Souvenirgeschäft auf die Straße fallen. Ednas Schreie mischten sich mit dem Jammern des Windes und dem Klang von Sirenen. Sie beugte sich über den Kopf ihres Sohnes, als wollte sie ihn aufheben. Wetzon sprang auf, ohne auf das Glas zu achten, das ihre Fußsohlen zerschnitt. »Edna, nein, das dürfen Sie nicht. Kommen Sie mit.« Ednas Mund war in einem Schrei erstarrt.
Ein Krankenwagen fuhr in die Shubert Alley, gefolgt von zwei Streifenwagen. Bernstein mit seinem schäbigen Smoking und der Jarmulke. Langsam und methodisch wurden Absperrgitter aufgestellt, um die 44. und 45. Street zu sperren. Der Wind legte sich, als wüßte er Bescheid.
Bei Morgendämmerung waren Wetzon, Carlos und Smith in der Ambulanz des Roosevelt-Hospital, wo sie mit einem nervösen Bernstein Kaffee tranken. Carlos’ Kopf war bandagiert, das eine Auge zum Teil bedeckt. Wetzons Füße waren bandagiert und steckten in blauen Krankenhausüberschuhen. Ein fingerlanger Schnitt an Smith’ Schulter war genäht und verbunden worden. Sie standen alle unter Schock.
»Wir haben von Edna Terrace die ganze Geschichte erfahren«, berichtete Bernstein, der das Zimmer abschritt. »Wie ihre Mutter bald nach ihrem Vater starb. Phil hörte sein Leben lang Geschichten über Dilla Crosby. Als Edna den Ring, den Dilla trug, als den ihrer Mutter erkannte, beschloß Phil, das Unrecht wiedergutzumachen und ihn zurückzuholen.«
»Aber warum mußte er Sam töten?« fragte Wetzon, obwohl sie es zu wissen glaubte. Sie stellte den Kaffeebecher auf den Boden. Ihr ganzer Körper schmerzte.
»Er hat ihn mit Mort Hornberg verwechselt.«
Wetzon nickte.
»Allmächtiger«, sagte Carlos. »Das arme Schwein. Was für eine Art zu enden, mit Mort verwechselt.«
»Und ich vermute, Phil tötete Susan, weil er den Schmuck und das Geld wollte.«
»Ja. Edna hatte Susan Orkin besucht und darum gebeten — aus Angst, ihr Junge würde noch einmal morden. Und Orkin rief die Polizei, um Edna herauswerfen zu lassen. Das war genug.«
»Aber warum hat Edna Phil nicht angezeigt?« fragte Wetzon. »Sie hätte zwei Menschenleben retten können.«
»Sie ist Mutter«, sagte Smith leise.
»Ich schicke Sie alle jetzt in einem meiner Wagen nach Hause«, sagte Bernstein. Er hob Wetzons nicht angerührten Kaffee auf und trank ihn aus. »Wir bringen Sie heimlich durch den Seiteneingang weg; vorn wimmelt es vor Reportern.«
»Hat jemand die Times gesehen?« fragte Carlos wehleidig.
»Ach, das habe ich vergessen. Es sind ein paar Leute für euch hier.« Bernstein machte die Tür auf, und da standen Arthur und Smitty.
»Und?« fragte Carlos ungeduldig.
»Frank Rich war einverstanden. »Hervorragend, obwohl ein wenig zuviel Regie, was Mort Hornbergs Handschrift ist.< Ich glaube, das ist die Quintessenz seines Artikels.«
»Ma, ich bin so froh, daß es dir gut geht.« Smitty umarmte seine Mutter. »Kannst du es glauben? Phil hat es getan. Er war so nett zu mir.«
Arthur berührte zärtlich Carlos’ Gesicht. »Ich dachte, ich hätte dich verloren.«
»Nicht im entferntesten, mein Lieber.« Carlos grinste teuflisch. »Häschen, komm her, du.« Sie breiteten die Arme aus und nahmen sie in die Mitte.